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MONTAG, 20. MAI — POLIZEIREVIER

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Welche Intrigen sich hinter den Mauern der Staatsgewalt abspielen, bleibt für die meisten Beamten unergründlich. Auf alle Fälle bekommt Hauptkommissar Andreas Weiler die Angelegenheit «Renée Bach» übertragen. Sie müssen der Sache nachgehen, weil dieser Notarzt Anzeige erstattet hat. Ein Fall ist es deshalb noch nicht.

Im Revier weiß man, um welch angesehene Person es sich bei dem betroffenen Ehemann handelt, der zugleich — zu diesem Zeitpunkt noch — der einzige Verdächtige ist. Deshalb brauche das Vorgehen, so die Order vom Chef, eine Menge Einfühlung und zugleich spitzfindiges, kriminalistisches Gespür, die Schreiners — bei anderer Klientel zwar erfolgreichen — Methoden nicht hergeben.

Eine erste Brisanz bekommt der ansonsten wenig spektakuläre Fall, als Doktor Haarström von der Intensivstation des Klinikums seine Bedenken geäußert hat, die Patientin Renée Bach bleibe vermutlich komatös, bestenfalls, wie er anfügte.

Für Andreas Weiler ist nur der Umstand schmeichelhaft, es diesem Großmaul Schreiner mal wieder zeigen zu können. Niemand im Dezernat ist so mit dem Mund vornweg wie Schreiner. Bisweilen wird es peinlich mit ihm, allein, weil seine Art zu fragen, normale Leute abschreckt. Bei der Jugend mag er ja erfolgreich sein, aber hier handelt es sich um einen Studierten, was nicht bedeutet, ein Hochschuldozent ist zwingend immun, wie ein Diplomat.

Normalerweise wäre dieser Fall für Weiler uninteressant, darüber hilft die Tatsache nicht hinweg, dass er ziemlich vertrackt ist. Einerseits ist es weder einer für die Mordkommission, andererseits gibt es noch keine stichhaltigen Anhaltspunkte für ein Verbrechen. Klar ist bisher nur, die Frau kann sich nicht selbst bis zur Bewusstlosigkeit gewürgt haben.

Für Weilers angeborene Skepsis ist sogar die Tatsache, dass Holger Bach täglich mehrere Stunden in der Klinik am Bett seiner Frau verbringt, kein Indiz für Unschuld. Eher ein Grund zur Sorge. Sollte der Ehemann die Hand im Spiel gehabt haben, wäre es für ihn am Bett seiner Frau ein Leichtes, das Aufwachen zu unterbinden, zumindest aber zu eruieren, ob sie noch in der Lage ist, zu reden oder sich zu erinnern.

Weilers Vorstoß in dieser Angelegenheit an Doktor Haarström wurde vom Mediziner sofort verstanden. Inwieweit das Personal so konsequent ein Auge auf die Sache wirft, bleibt Weiler unklar.

Widerwillig wirft er einen Blick in das Protokoll der Befragung dieser Studentin.

»Ja, wenn Sie es so sagen, war Doktor Bach heute schon (was heißt «schon»?) anders als normal. Unkonzentriert. Abweisend. Wir sind oft den Weg gemeinsam nach Hause gegangen. Doktor Bach ist ein ziemlich cooler Typ…«

»Was heißt cool?«

»Er ist witzig, mitunter ironisch. Und er ist klug, wie man es ja erwartet von einem Dozenten. Aber glauben Sie mir, nicht alle Dozenten…«

»Und das war exakt sechzehn Uhr?« So hatte er die junge Frau brüsk unterbrochen, um Schreiner die gewohnte Angriffsfläche für seine notorische Abneigung gegen die gebildete Oberschicht im Keim zu ersticken.

»Fünfzehn Uhr fünfzig war die Vorlesung zu Ende. Ja, sechzehn Uhr, das kommt hin. Ich bin dann, weil es mir langsam peinlich wurde, noch abseits gegangen. Ich glaube aber, er ist schnurstracks nach Hause…«

»Was wurde peinlich?«

»Dieses Schweigen. Dieses wortlose Nebenher…Man kommt sich vor wie ein lästiger Parasit…«

»Und das war anders als gewöhnlich?«

»Auf alle Fälle.«

Weiler hatte eine Pause gemacht, weil er wusste, die Zeugin würde nichts Wesentliches zum Fall beisteuern können. Es war ohnehin nicht leicht, das Auftauchen von zwei Polizisten zu erklären, ohne ein eindeutiges Verbrechen. Sein Kollege Karl Schreiner nutzte ruck, zuck die Pause, entweder, um eines seiner Spielchen zu spielen, oder um seine Position als beauftragter Ermittler, in der er am Freitag noch war, zu untermauern.

»Wie äußerte sich, wenn der Bach witzig war?«

Die Augen der jungen Frau weiteten sich. Das geht manch einem Zeugen so, wenn im knappen Polizeijargon geredet wird. «Der Bach» gehörte unbedingt dazu. Der pure Name ist allemal besser, als vor Zeugen vom «Verdächtigen» zu reden.

»Na ja, da gibt es so vieles… ich weiß nicht, ob ich…«

»Wie hat er denn über seine … über Frauen geredet, ganz allgemein?«

»Eigentlich harmlose Sätze.« Das halbe Kind wurde rot bis hinter beide Ohren. »Zum Beispiel: Der Mann ist so jung, wie die Frau, die er fühlt.«

»Das ist nicht witzig, das ist Lebensweisheit.«

»Na ja, er hatte auch ironische Bemerkungen, wenn eine von uns mit ihrer Kleidung übertrieb… na ja, Sie wissen schon…«

Weiler hatte Schreiner einen Wink gegeben, er soll die Befragung nicht in eine künstliche Richtung treiben, aber da hatte das Mädchen gerade eine Erinnerung.

»Einmal sagte er zu Kathrin, die stets hautenge Pullis trägt: Der Pullover einer Frau sitzt goldrichtig, wenn die Männer nicht mehr atmen können. Er sagte das in ziemlichem Tempo, was er dann mit gespielter Schnappatmung enden ließ. Die Schenkelklopfer kamen von der Männerbank, wie Sie verstehen werden…«

Schreiner formulierte zwar im Protokoll seine eigenen Fragen nicht aus, aber sie waren für Weiler noch gut nachvollziehbar.

»Glauben Sie, dass er sexistisch ist?«

»Wer weiß das schon. Er hat zumindest auch Sprüche drauf wie die: Jeder Mann braucht eine Frau, weil irgendwann einmal etwas passiert, wofür er die Politik nicht verantwortlich machen kann.«

Vermutlich hätte die junge Frau gerne noch einige von Bachs Sprüchen von sich gegeben, aber der Wink ihres Vaters ließ sie verstummen. Womöglich auch deswegen fragte sie zu guter Letzt: »Das hier… äh, davon erfährt doch Doktor Bach nichts. Oder?«

»Ich denke nicht, dass diese Dinge überhaupt eine Relevanz für den Fall haben«, hatte sich Weiler wieder eingemischt. Einer musste dem Schreiner ja zeigen, wo es lang geht. Er hatte sich in seiner bekannten Konsequenz erhoben, legte eine Hand auf die Schulter der jungen Frau und drückte sie leicht. »Keine Angst. Wir müssen nur sicher gehen, dass Ihr Dozent nicht im Pool der Verdächtigen landet. Auch dazu sind wir verpflichtet.«

»Die Bachs sind ganz nette Menschen«, sagte der Vater. Er begleitete die Polizisten noch bis zur Tür. Beinahe flüsternd fügte er an: »Meine Tochter hält ebenso große Stücke auf Doktor Bach. Das kam vielleicht nicht so herüber, wie gedacht…Die Jugend hat da…«

»Wie gesagt, unsere Frage zielte nur darauf, den Ehemann eindeutig zu entlasten. Wir sind nun mal in der misslichen Lage, auch das scheinbar Unmögliche klar ausschließen zu müssen. «

Die nächste halbe Stunde verbringt Weiler damit, im Zimmer auf und ab zu laufen. Nicht etwa, weil ihn der Fall so sehr beschäftigt. Er ist ihm eher lästig. Keine Leiche, kein Verbrechen, kein Täter — nur weiße Flecken und nichts als Mutmaßungen.

Nicht nur weiße, fällt ihm ein, aber ein einzelnes Indiz ist zu wenig.

Er läuft im Zimmer herum, um sein Bein wiederzubeleben. In letzter Zeit, seit seinem Bandscheibenvorfall, gelingt es ihm immer seltener. Dennoch kommt er nicht umhin, an diesen Doktor Bach zu denken: Wäre ein so honoriger Mann in der Lage, seine Frau zu erwürgen und dann seelenruhig zum Dienst zu gehen? Andererseits: Wäre er der Typ Mann, der die Untreue seiner Frau — sofern eine solche vorliegt — so einfach wegsteckt? Gesetzt den Fall, sie war untreu und er hat es herausgefunden…?

Einer Frage muss er unbedingt noch tiefer auf den Grund gehen: Warum hat Bachs Anruf beim Rettungsdienst bis sechzehn Uhr siebenundzwanzig gedauert? Was hat der Kerl in der Zeit gemacht? Wiederbelebung? Indizien vernichtet? Hat er sie vielleicht erst angekleidet? Hat er den Spermafleck übersehen oder fehlte ihm die Zeit für Details…?

»Im Negligee?« Waren das nicht Bachs Worte gewesen? Warum ist das niemandem aufgefallen. Sie hatte einen ganz normalen Schlafanzug an, wie ihn seine Frau Inka auch trägt und wie er es gar nicht so gerne hat. Ihm ist es lieber, sie schläft im Nachthemdchen. Das ist bequemer für gewisse Stunden, die freilich mit zunehmendem Alter unbeirrt auf einige Minuten zusammenschrumpfen.

Das Telefon läutet. Mürrisch humpelt Weiler zum Schreibtisch zurück.

»Doktor Haarström hier. Wir hatten ausgemacht…«

»Ja, ja«, unterbricht Weiler den Arzt. Wie schmerzverzerrt sein Gesicht aussieht, kann der Arzt zum Glück nicht sehen. »Schießen Sie los.«

Haarströms Anruf muss purer Gedankenübertragung gefolgt sein. Weder für die Position des Arztes noch für seine hat der Fall eine so hohe Priorität, dass man ständig damit befass ist. Bei ihm ist es jedenfalls Zufall, auf den Moment bezogen.

»Ich mach es kurz: Sie hat es, wie befürchtet, nicht geschafft…«

Weiler atmet tief durch. Mit seinen Worten stößt er heiße Luft weit von sich: »Pffff. Weiß es der Mann schon?«

»Nein«, sagt Haarström. Aber er kommt sicher am Nachmittag und bleibt… er blieb bisher auch länger. Ich werde ihm natürlich persönlich…«

»Bleiben Sie mal geschmeidig, Doktor. Haben Sie die Chance, dem Mann beizubringen, dass die Frau ... sagen wir, keinen Besuch mehr …Vielleicht verlegt wurde — meinetwegen zu einer Spezialbehandlung in einen Klinikbereich, der tabu ist für Nichtpatienten?«

Haarström wundert sich vermutlich, denn er schweigt verdächtig lange.

»Es ist wichtig für die Ermittlung. Es gibt noch viele diffuse Flecken, wenn Sie verstehen. Und jetzt ist es zumindest ein Fall mit Todesfolge. Außerdem kennen wir jetzt den Laborbefund…« Weiler hält inne. Zuviel darf er auch einem Arzt nicht verraten. Also ergänzt er: »Wir müssen ganz einfach alles Unvorstellbare ausschließen…Wenn Sie verstehen?«

Diesmal fällt ihm der Mediziner ins Wort: »Hat der Laborbefund eine Relevanz für…« Als Weiler nicht darauf eingeht, was nicht ungewöhnlich ist bei gewissen Delikten, gibt der Arzt undeutliche Töne von sich, bis er fortfährt: »Die Sache mit der Verlegung wird schwer. Das Personal … Sie verstehen? Ich muss mir erst etwas überlegen…«

»Ich muss wissen, was genau … und das so bald wie möglich. Ein Widerspruch zwischen Krankenhaus und Polizei wäre für die Wahrheitsfindung tödlich.«

Wieder undeutliche Töne am anderen Ende, dann schließt der Arzt ab: »Sie hören von mir. «

Noch ehe Weiler den Hörer auflegt, tritt Karl Schreiner ins Zimmer. Offenbar hat er alles mitgehört. Sein grinsendes Gesicht verrät ihn mal wieder.

»Ich glaube, ich kann mich an die Frau von dem Bach erinnern.«

Weilers Züge verheddern sich zwischen Geringschätzigkeit und Überlegenheit: »Na, solange ist es ja noch nicht her…«

»Ich meine von früher. Verschwommen zwar, aber ich komme noch dahinter, ob sie es war.«

»Geht das auch genauer?«

»Geht schon, hoffe ich zumindest. Aber nicht jetzt — noch nicht. Ich muss da erst etwas recherchieren.«

»Dann mach mal Dampf. Die Frau ist nämlich verstorben. Aber das bleibt noch geheim, bis wir Klarheit haben. Verstanden?«

Ziemlich rasch findet Schreiner aus seiner Verblüffung: »Glaubst du, dass dieser Doktor seine Frau getötet hat?« So wie er stutzt, hat er weder etwas gehört noch passt es zu seiner Vermutung, welche auch immer es ist. Weiler hebt die Schultern und reibt verzweifelt seinen Oberschenkel, ehe er sich resigniert auf den Stuhl fallen lässt. Resigniert wegen seines Beines, was sonst. Jetzt wird dieser Fall ja endlich einer, warum sollte er jetzt noch resignieren.

»Solange wir keine eindeutigen Beweise haben«, sagt er zu Schreiner. »Genau genommen haben wir gar keinen Anhaltspunkt für Fremdverschulden. Nur die Logik sagt, sie kann sich ja nicht selbst…«

Er wiederholt sich. Das ist ein deutliches Indiz für zu geringe Anhaltspunkte.

»Kann einem leidtun, der Kerl. Wenn man eine so gefährlich attraktive Frau hat…oioioi. «

Das ist eine der Situationen, wo man einen Kollegen in die Schranken weisen kann, und Weiler nutzt sie: »Jeder Chef erwartet von seinen Mitarbeitern, dass sie mit den Opfern fühlen, Hauptkommissar Schreiner«, blufft Weiler, dreht sich demonstrativ zum Fenster und schaut herüber auf den langgestreckten Block, der beinahe die Farben spiegelt, in dem die Architekten auch den Komplex gehalten haben, in dem sein Revier untergebracht ist. Seit einiger Zeit sammelt sich vor den vielen Eingängen da drüben allerlei Unrat an. Er weiß nicht, ob das Zeug aus den Studentenwohnungen stammt, die die Stadt recht preiswert vermietet. Oder ob die Asylbewerber nicht mit den Almosen der Deutschen leben möchten und ihre Wohnungen leer räumen, um sie —als wäre Goldstaub vom Himmel gefallen — plötzlich auf eigene Kosten einzurichten.

Er musste sich für diesen Moment von Schreiner wegdrehen. Seine Lippen hätten die kleine Schadenfreude verraten, die er, seit er in diesem Fall bevorzugt wurde, gegen seinen poltrigen Partner hegt.

In diese diffuse Situation hinein antwortet er ernsthaft auf Schreiners unbeantwortete Frage: »Na ja, ob er sie nun umgebracht hat oder nicht, wir sind am Zuge, seine Schuld zu beweisen. Und dazu fehlt mir so gut wie jede Handhabe. Als der Bach das Haus verlassen hat, war seine Frau noch am Leben, wie er versichert. Wann also ist sie so zugerichtet worden?«

»Ich habe da so meine Beobachtung. Es wird nicht lange dauern. Nur ein Gespräch mit meiner Frau…«

»Im Moment sind wir auf das angewiesen, was möglich erscheint. Und das ist mit Sicherheit der Ehemann. Wer sonst sollte am frühen Morgen…«

»Na ja«, gibt sich Schreiner geschlagen. Vermutlich aber will er nur seinen Wissensvorteil ausschöpfen, ohne Weiler schon einzuweihen. »Vielleicht hatte der Doktor auch eine längere Pause.«

Auf eine solche Bemerkung hat Weiler spekuliert.

»Nicht dumm. Dann musst du schnellstens zu seiner Fakultät. Und frag die Leute ein bisschen über alles aus, was den Mann betrifft. Skandale inbegriffen.«

Dem Schreiner steht unübersehbar sekundenschnell in tief gemeißelten Buchstaben deutlicher Groll ins Gesicht geschrieben. Er hasst diese Herren Professoren, die mit seinem Jargon nicht klarkommen. Weiler spürt, am liebsten würde Schreiner es ihm an den Kopf werfen, aber da hätte er auf einmal seinen 'geborenen' Disputanten vor sich. So viel Logik hat auch Schreiner in seinem Kopf, der etwas rauer, etwas rustikaler geartet ist als der von Weiler.

Schreiner würde schwören, sein Gesicht ist völlig ausdruckslos, aber leider kann er sein Spiel nicht mit dem scharfsinnigen Weiler spielen. Der nutzt die Chance und tippt auf seine Uhr: »In fünf Minuten kannst du dort sein. In einer halben Stunde machen die Sekretariate dicht.« Die Order kommt schärfer heraus als beabsichtigt. Schreiner dreht sich auf den Hacken um. Gegen die Tür wettert er: »Auch bei aufgestocktem Salär kann man Mensch bleiben. Falls ich das bei einem Vorgesetzten mal erlebe, darauf besaufe ich mich bis zur Ohnmacht.« Der letzte Teil von Schreiners Worten verliert sich schon im Gang, wo sie die nette Kollegin Sauer einigermaßen verwundern.

Armer Schreiner, denkt Weiler hinter der massakrierten Tür. Irgendwie hat er Recht. Weil der kleine Andreas Weiler es bald bis nach ganz oben schaffen wird, wenn er zur rechten Zeit genügend Dampf ablässt, ist jetzt der kleine Andreas Weiler auch in der Lage, alles, was bei den Ermittlungen schief läuft, auf diesem Scheißtypen Schreiner zu schieben, der keine Ideen hat, wohin der Teufel geschissen haben könnte. Und dieser Teufel kann ebenso Doktor Bach sein, wie jeder verdammte Kerl in dieser Stadt, mit denen der Gehörnte nicht aufwarten will. Noch nicht. Bis der kleine Andreas Weiler ihn in die Mangel nehmen wird. Ich sage ja nicht umsonst: Ein Wunder bleibt bei jedem Fall.

Die Nacht der Schuld

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