Читать книгу Der Abgerichtete - Maxi Magga - Страница 10

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Moron, der jetzt nur noch der Abzurichtende Nummer Fünf war, wurde am nächsten Morgen mit einem Tritt in die Rippen geweckt.

„Wie lange, glaubst du, hier noch faul rumliegen zu können? Außerdem hast du schnellstens aufzustehen, wenn jemand von der Herrschaft oder einer von uns … ach Quatsch, du hast auch aufzustehen, wenn ein Hund in deine Nähe kommt. Verstanden?“

„Ja, Master Kovit.“

Diese Lektion hatte Nummer Fünf bereits gelernt.

„Sieh gefälligst auf den Boden. Deine Rübe bleibt von jetzt an immer gesenkt und die Augen niedergeschlagen. Mann, Mann! Hast du denn bisher gar keinen Anstand gelernt?“

Kovit warf ihm einen Schurz zu.

„Das ist deine Dienstkleidung und deine Freizeitkluft, außerdem deine Sommer- und deine Wintergarderobe. Heiliges Kastensystem! Wisst ihr viel zu groß geratenen Einzeller denn gar nichts? So legt man einen Schurz an. Gesehen? Immer dasselbe Theater mit euch.“

Nummer Fünf war froh, dass der Verwalter so viel sprach. Wenn er redete, schlug er ihn wenigstens nicht. Andererseits prasselten nahezu im Sekundentakt unzählige Anweisungen, Ge- und Verbote und Vorschriften auf ihn ein, so dass er fast den Mut verlor. So schnell wie möglich musste er so viel, wie es irgendwie ging, über die vielen verwirrenden Regeln lernen, die in seiner neuen Heimat zu beachten waren. Kovit nannte es „ihn abrichten“. Jeder Fehler, jedes Zögern wurde überhart bestraft. Als er am Nachmittag dem Herrn vorgeführt wurde, war sein Körper bereits übersät mit Striemen, blauen Flecken und einzelnen verkrustenden Wunden. Dabei war es noch ein Segen für ihn, dass Kovit die Haut ohne besondere Erlaubnis des Herrn mit seiner Peitsche nicht wesentlich aufreißen durfte.

Nummer Fünf wartete, wie es von jetzt an von ihm erwartet wurde, mit gesenktem Kopf und demütig niedergeschlagenem Blick neben der Tür. Der Herr schien sich lange nicht für ihn zu interessieren. Bewacht von Kovit, stand Nummer Fünf weiterhin regungslos da. Erst als die Herrin den Raum betrat, sah ihr Ehemann auf. Seine Augen leuchteten, als die auffällig schlicht, aber umso teurer gekleidete Frau mit betörend wiegendem Gang auf ihn zuschritt. Sie strahlte ihn an, als er sich erhob, jede einzelne ihrer Fingerspitzen zärtlich küsste und wartete, bis sie sich gesetzt hatte. Sie schlug ihre langen, schlanken Beine übereinander und lehnte sich entspannt in dem tiefen Sessel zurück.

Kovit zog den Abzurichtenden in die Mitte des Zimmers und legte ihm mit schnellen Griffen ein Elektrohalsband um.

„Ab jetzt ist das dein ständiger Begleiter, Nummer Fünf“, ließ der Herr hören. „Das Halsband ist aus einer speziellen Stahl-Titan-Legierung gefertigt und – das wird dir nichts sagen - mit einer kontaktlosen Stromversorgung und Elektroden ausgestattet. Wenn Master Kovit nachher die kleine Lücke hinten in deinem Nacken verschmolzen hat, darfst du dir gerne alle Mühe geben, um das Halsband loszuwerden. Viel Glück dabei. Bisher ist es noch keinem gelungen. Deine Herrin wollte auch gern dabei sein, wenn wir dir demonstrieren, wie es funktioniert. Enttäusche sie nicht.“

„Nein, Herr“, erwiderte Nummer Fünf, der nicht die geringste Vorstellung davon hatte, wobei er die Herrin enttäuschen könnte.

Zur Belohnung küsste Eliga ihren Mann nach diesen Worten wild und ausgiebig. Danach wandte sie ihre volle Aufmerksamkeit der elenden Gestalt in der Mitte des Raumes zu.

„Du gehst jetzt auf eine der Türen oder ein Fenster zu, ganz egal“, wies sie ihn an. „Du kannst aufrecht oder gebückt gehen, rennen oder meinetwegen auf dem Bauch kriechen, deine Sache. Los, mach schon!“

Zögernd näherte sich Nummer Fünf tief gebückt dem nächstliegenden Fenster. Es überraschte ihn nicht, dass er von einem Stromschlag getroffen wurde, kurz bevor er es erreicht hatte. Mit etwas in dieser Art hatte er nach der Erklärung des Herrn gerechnet. Was er nicht erwarten konnte, war die Heftigkeit, mit der er dadurch von den Füßen gerissen wurde und sein Körper zuckte. Er schaffte es nicht aus eigener Kraft, sich aus der Gefahrenzone zu rollen. Gleichzeitig mit dem Strom war ein aufdringlicher Heulton ausgelöst worden, der über dem ganzen Anwesen zu hören war. Erst nach vier langen Sekunden wurde Nummer Fünf erlöst, der Stromfluss stoppte, der Lärm verstummte. Er hätte jetzt viel darum gegeben, einfach nur liegenbleiben zu dürfen, aber Kovit riss ihn rücksichtslos wieder auf die Beine. Er verstand nicht, warum er so ans Haus gefesselt werden sollte. Schließlich war er ja von sich aus hier und würde auch freiwillig bleiben. Wenn er jetzt floh, hatte er für seine Familie doch rein gar nichts erreicht. Warum sollte er also versuchen zu fliehen? Konnte sein Herr das denn nicht sehen?

Die Herrin klatschte immer noch lachend Beifall, auch der Herr schien zufrieden mit der Vorführung:

„Gib dich keinen Träumereien hin, du stirbst nicht daran. Aber du wirst dich auch keiner Stelle nähern, von der ich es nicht will. Dafür ist gesorgt. Wenn du dich nicht innerhalb von sechs Sekunden nach dem Ende eines Stromstoßes zurückgezogen hast, schaltet er sich sofort ein weiteres Mal ein. Immer wieder von Neuem. Der Alarm dient eigentlich nur deiner Sicherheit. Damit jemand dich im Falle der Fälle wegziehen kann und damit den Krach beendet.“

Er lachte laut, wie nach einem guten Witz.

„Nach dieser kleinen Demonstration werde ich natürlich deinen endgültigen Bewegungsradius dauerhaft einstellen. Es sei denn, ich wollte ein wenig damit spielen. Dann kann der Radius 30 Zentimeter betragen oder 30 Meter, wie es mir gerade beliebt. Im Allgemeinen wird sich der Bereich, zu dem dir Zugang gewährt wird, auf die Fläche zwischen den Gebäuden im Süden und Osten und der westlichen und nördlichen Umgebungsmauer beschränken und zwar bis zirka zwei Meter vor den Außenmauern. Du kannst es gerne austesten. Du weißt ja nun wie. Aber bedienen kann ausschließlich ich das Gerät. Und die Wege und Mittel dazu liegen natürlich außerhalb deines Zugangs und vor allem außerhalb deines Verstandes. Spar dir also alle Versuche, das Halsband manipulieren zu wollen. Und jetzt kannst du deiner Herrin die Füße massieren. Sie wartet schon eine Weile darauf.“

„Ja, Herr.“

Noch am selben Abend begann die Abrichtung von Nummer Fünf zum Tischsklaven. Er musste sich die Namen von unendlich vielen Lebensmitteln, Getränken und Gegenständen einprägen, von denen er noch nie etwas gehört hatte. Als Landkind war er sehr empfänglich für den dadurch zur Schau gestellten Reichtum. All diese Farben und Gerüche! Obst, Gemüse, wann hatte er jemals eine solche Fülle gesehen? Dazu Blumen über Blumen, ob kunterbunte Sträuße, Ton in Ton oder mit starken Farbkontrasten, überall heiterten sie die Räume auf. Und alles Naturalien, nicht ein einziges Teil davon stammte aus dem Drucker. Früher, in seinem ersten Leben, hatte er versucht, Kartoffeln und Getreide anzubauen, aber die Ernten waren gering und die Früchte oft mitleiderregend klein. Die Erde war schlecht, schon lange ausgelaugt. Eine gnadenlose Sonne verbrannte regelmäßig große Teile der jungen Gewächse, die wegen der immer ausgedehnteren Trockenzeiten nicht mehr ausreichend bewässert werden konnten. Nummer Fünf hatte deswegen geglaubt, dass inzwischen so gut wie jede Nahrung künstlich hergestellt wurde, aber hier erlebte er, ehrfürchtig staunend, nie gekannte Wunderwerke.

Nummer Fünf musste besonders aufpassen, dass er die unzähligen Regeln für nahezu jede einzelne Bewegung im Speiseraum nicht durcheinander warf. Von links oder von rechts an den Tisch treten, die richtige Gabel, das passende Glas auswählen, die Servierplatte in der korrekten Position halten und so weiter. Wieso nur legten sie einen solchen Wert darauf, dass sie sich am Glück dieses so überaus verschwenderischen Reichtums an Lebensmitteln, an frischen, echten Lebensmitteln, überhaupt nicht erfreuen konnten?

Von Nummer Fünf wurde nun erwartet, dass er all das schnellstens beherrschte, was nötig war, um seine Herrschaft und deren Gäste bei Tisch angemessen und stilvoll zu bedienen. Davon abgesehen musste er lernen, stundenlang absolut unbeweglich zu stehen und in Demutshaltung zu warten, bis seine Dienste erneut gebraucht würden, denn das Dinner in diesem Haus dauerte in der Regel sehr lang.

Kovit sah sich mehrmals an diesem Abend genötigt Nummer Fünf mit Schlägen zu bestrafen. Seine Arbeitgeber schienen dagegen trotz der nicht zu leugnenden Unzulänglichkeiten in der Leistung ihres Abzurichtenden entspannt, ja sogar gut gelaunt.

„Wie ein Bär im Designerladen! Aber das kriegen wir schon hin. Stimmt doch Kovit, oder? In einer halben Stunde bringst du uns eine von unseren Lieblingsflaschen ins Schlafzimmer, Nummer Fünf. Master Kovit wird dir zeigen, was ich meine. Und versuche bitte die Gläser in einem Stück abzuliefern.“

„Ja, Herr.“

Nummer Fünf verbeugte sich so weit, wie er es mit dem vollgestellten Tablett vom Abendessen in Händen wagte. Danach kämpfte er mit der Türklinke, die er einfach nicht zu fassen bekam. Kovit stand mit verschränkten Armen daneben und beobachtete eine Weile, teils unwillig, teils belustigt, die ungelenken Versuche, während Nummer Fünf die Röte ins Gesicht schoss.

„Beim nächsten Mal stellst du das Tablett ab und öffnest zuerst die Tür. Darauf wäre sogar ein Affe gekommen.“

Nummer Fünf ärgerte sich über sich selbst. Wie konnte er so dumm sein? Damit spielte er seinen Peinigern doch nur in die Hände. Trotzdem, das war mittlerweile klar, er hatte äußerlich völlig beherrscht und scheinbar ruhig zu antworten.

„Ja, Master.“

Er war zum ersten Mal im Keller des Gebäudes. Die Räume und Flure waren so verwinkelt und zugestellt, dass Nummer Fünf schnell die Orientierung verlor. Mit jedem weiteren Schritt fürchtete er an den Grenzen seines noch erlaubten Bereichs angekommen zu sein und den Elektroschocker in seinem Halsband auszulösen. Aber er hatte Glück. Unter Kovits Führung erreichten sie ereignislos den Weinkeller und hatten bald eine geeignete Flasche für die Herrschaft ausgewählt.

„Beeil dich, Mann. Bring den Wein hoch. Sie werden dich oben schon erwarten.“

Kovits breites Grinsen zog sich von einem Ohr bis zum anderen. Nummer Fünf konnte sich dafür keine Erklärung denken, aber das war gerade auch nicht sein drängendstes Problem. Nie in seinem Leben hatte er eine Glasflasche in Händen gehalten, aber etwas tief im Inneren sagte ihm, dass es wohl besser für ihn sei, wenn er sie der Herrschaft geöffnet übergeben würde. Hilflos irrte sein Blick jetzt in der Küche umher.

Plötzlich stand Nexor wie aus dem Nichts neben ihm und erschreckte ihn fast zu Tode.

„Was stehst du so schlapp in meiner Küche rum? Hast du nichts zu tun?“

„Ach so“, kicherte er beim Anblick der Flasche, während der Sklave nach Worten suchte, „du weißt nicht, was du damit machen sollst, wie? Möchte nur wissen, in welcher Steinzeithöhle sie dich aufgegriffen haben.“

Nummer Fünf fühlte, dass er wieder bis über die Ohren rot wurde. Zweimal an einem Tag so verhöhnt zu werden, war mehr als genug. Er versuchte krampfhaft nicht weiter darüber nachzudenken und sich nur auf das Öffnen der Flasche zu konzentrieren, das der Koch ihm beibringen wollte. Der füllte den Wein anschließend in eine Karaffe ab und goss den Rest aus der Flasche, den man, nach seiner Meinung, so Hochgeborenen keinesfalls zumuten konnte, in ein Glas für sich. Dann stellte er die Karaffe, zwei hauchzarte Weingläser und eine winzige Schale, die er blitzschnell mit Wasser und ein paar abgeschnittenen Rosenblüten aus einem Strauß gefüllt hatte, auf ein Tablett, das er dem Sklaven in die Hände drückte.

„Mach schon. Sie warten nicht gern. Und verschütte unterwegs nichts!“

„Nein, Master.“

Nummer Fünf wünschte sich sehnlichst, Nexor hätte das nicht gesagt. Wie auf Befehl fingen seine Hände nämlich an zu zittern und der Wein in der Karaffe schwappte bei jedem Schritt bedenklich hin und her. Bis zur Treppe hörte er das Lachen des Kochs, das ein unangenehmes Kribbeln in seinem Rücken hervorrief. Dann fassten seine Hände fester um die Griffe des Tabletts und Stufe für Stufe tastete er sich in die erste Etage.

Nummer Fünf klopfte. Er war sich nicht völlig sicher, ob er eine Antwort erhalten hatte, aber zumindest glaubte er „Herein!“ gehört zu haben. Vorsichtig öffnete er die Tür - und erstarrte augenblicklich zur Salzsäule. Nur wenige Schritte vor ihm standen die Herrin und der Herr in einer innigen Umarmung. Seine Hand streichelte zärtlich ihre Brust unter der nahezu durchsichtigen Bluse, seine Lippen liebkosten ihren weit zurückgebogenen Hals. Sie hatte ihre Hände hinter seinem Nacken verschränkt. Keiner schien den Ankömmling zu bemerken, der verwirrt und zu keiner Entscheidung fähig in der Tür stand. Plötzlich hörte er die leise, sanfte Stimme seines Herrn.

„Komm endlich rein und schließ die Tür. Dann wartest du an deinem Platz“, sagte er, ohne Hände oder Augen von seiner Frau zu lassen.

Langsam und liebevoll zog der Mann Eliga aus und bedeckte ihren Körper mit seinen Küssen. Dann tauschten sie die Rollen. Schließlich liebten sie sich wild und leidenschaftlich, während Nummer Fünf an seinem Platz neben der Tür wünschte, dass sich ein Loch im Boden auftun und ihn verschlucken möge. Mit der Zeit verschwamm das großzügige Zimmer mit den wertvollen Möbeln jedoch. Vor seinem inneren Auge sah er nur noch die winzige, zugige Hütte im Nirgendwo mit dem selbst gezimmerten Bett, in dem sein Vater und seine süße, kleine Tochter schliefen, während er und seine bildhübsche, oft so traurige Frau sich auf dem Fußboden ihre Liebe bewiesen.

Viel zu schnell verblasste das Bild und er wurde mit Tränen in den Augen zurück in die Fron der Gegenwart gestoßen.

„Hörst du nicht, Nummer Fünf?“

Nummer Fünf zuckte zusammen. Er hatte wirklich nicht gehört, dass sein Namen gerufen worden war.

„Verzeihen Sie, Herr.“

„Stell doch endlich dieses alberne Tablett ab und gieß uns ein.“

„Ja, Herr.“

Seine Hände zitterten noch ein wenig, als er die Gläser füllte, aber er schaffte die Aufgabe, ohne etwas von dem schweren Rotwein zu verschütten. Als er seiner Herrschaft das Tablett entgegen hielt, stockte ihm kurz der Atem. Er fürchtete, die Gläser vielleicht zu voll gemacht oder zu wenig eingegossen zu haben. Aber nein, alles schien in Ordnung zu sein.

Warum ließ ihn die Herrin aber dann noch nicht wieder zurück auf seinen Platz? Hatte er sich etwa in der Reihenfolge geirrt, in der er den Wein zu servieren hatte? Befahl sie ihm deswegen zurückzukommen? Sie setzte sich auf ihr Bett, hieß ihn, ihr Glas abzustellen und drückte ihn vor sich auf die Knie. Dann krallten sich ihre Hände in seine Haare, sie ließ sich rückwärts auf das Lager fallen und presste seinen Kopf gegen ihren Unterleib. Gleichzeitig spürte er, wie sein Herr die Striemen auf seinem Rücken mit den Fingern verfolgte. Nicht rücksichtsvoll oder vorsichtig, sondern grob und fordernd. Plötzlich, ohne dass Nummer Fünf einen Grund hätte angeben können, begann er mit dem Gürtel auf seinen Abzurichtenden einzuschlagen. Nummer Fünf spürte sofort die Gürtelschnalle, die tief ins Fleisch einschnitt und die Luft aus den Lungen presste. Er versuchte dagegen anzugehen, wollte sich mit den Fäusten ein wenig vom Bett hochdrücken. Mit Schaudern spürte er nicht nur die Seide der Bettwäsche, sondern auch die Haut der Frau unter seinen ungeschickten Händen. Im gleichen Moment stützte der Herr sich auf seinen Schultern ab. Mit rücksichtsloser Gewalt bemächtigte er sich des vollkommen hilflosen Körpers vor sich. Sein wildes Stoßen, das Zucken des gequälten Mannes und sein abgehackter, heißer Atem erregten die Frau. Tiefer und fester krallte sie sich in den Haarschopf in ihren Händen.

Mehr als zwei Stunden lang ließen sie nicht von Nummer Fünf ab. Nichts erinnerte dabei an ihre zärtliche Vereinigung zuvor.

Verletzt, mutlos und zutiefst gedemütigt lag Nummer Fünf in dieser Nacht auf seinem Strohsack. Egal, ob er die Augen öffnete oder schloss, die Bilder der letzten Stunden schienen sich in seine Netzhaut eingebrannt zu haben. Nur ganz allmählich schob sich das Abbild seiner Frau Sora wieder in den Vordergrund. Er schämte sich vor ihr und vor sich selbst, weil er zugelassen hatte, dass sich seine Erinnerung an ihre Zweisamkeit mit der brutalen Realität vermischt hatte. Den einzigen Trost fand er darin, sich im Schutz seiner Zelle so viel wie nur möglich von Sora ins Gedächtnis zurückzurufen. Ihr sanftes Lächeln, wenn sie ihn ansah, ihr leiser Singsang, wenn sie Calla zum Schlafen bringen wollte, die winzige Narbe direkt unter dem rechten Auge, wo er sie versehentlich mit dem Pflanzstock getroffen hatte. Niemals durfte er das vergessen, aber er würde es auch nie mehr zulassen, dass ihr Andenken mit seinem jetzigen Leben verschmolz, egal welche Mühe und Anstrengungen es ihn kosten mochte.

Was mich während meiner Zeit als Abzurichtender und danach als Abgerichteter am meisten verletzt hat, waren nicht die harte Arbeit in glühender Hitze oder Eiseskälte oder Hunger und Durst, nicht mal die Schläge oder der Hass und die Verachtung. Daran war ich ein Leben lang gewöhnt. Das galt nicht eigentlich mir, sondern der ganzen Kaste, der ich angehörte. Viel schlimmer waren die gewalttätigen, hemmungslosen Demütigungen und der Missbrauch, denn das galt wirklich mir.

„Wehe dir, wenn du Mist baust und das Haus deines Besitzers in Verlegenheit bringst! Ich werde dir genau auf die Finger sehen. Verlass dich darauf!“

„Ja, Master Kovit.“

Als ob Nummer Fünf sich nicht selbst genug vor diesem Abend fürchtete! Seine Abrichtung hatte erst vor wenigen Wochen begonnen. Immer noch tauchten Gerichte auf, deren Namen er bis dahin noch nie gehört oder die er wieder vergessen hatte, und bei denen er nicht sicher war, wie sie serviert werden mussten. Kaum ein Abrichtungstermin im Speisesaal war bisher ohne den Einsatz von Kovits Peitsche abgegangen. Und nun sollte er nicht nur vor den Augen seiner Herrin und seines Herrn bei Tisch bedienen, sondern auch vor denen ihrer Gäste! Er wagte nicht, an die Folgen zu denken, sollte er dabei versagen.

Frühzeitig wurde er in den Küchenhof befohlen. Dort stand die Pumpe, an der Nummer Fünf sich im Sommer wie im kältesten Winter jeden Morgen und zusätzlich vor jedem Dienst bei Tisch einfinden musste. Es war eine Sache sich in aller Öffentlichkeit von Kopf bis Fuß einseifen zu müssen, aber es war zutiefst entwürdigend, derart zur Schau gestellt, auch noch gezwungen zu sein zu warten, bis Kovit seine Musterung abgeschlossen hatte und die Erlaubnis zum Abwaschen und Abschaben der Barthaare gab. Und all das geschah nur, damit die empfindlichen Nasen der höheren Kastenmitglieder nicht von seinem Eigengeruch beleidigt würden.

Erst als man ihm nach dem Waschen zum ersten Mal den Schurz aus Goldstoff hinwarf, den er von nun an stets tragen sollte, wenn Gäste anwesend waren, wurde ihm bewusst, dass er so gut wie nackt würde vor ihnen stehen müssen. Das Blut schoss ihm in den Kopf. Nie würde er sich daran gewöhnen. Niemals! Zu seiner Versagensangst gesellte sich die erneut siedend heiß aufflammende Scham.

Der Abend wurde für Nummer Fünf zu einer furchtbaren Katastrophe. Nicht nur, dass er mehrfach öffentlich geschlagen wurde, sein Dienst wurde auch zu einem Spießrutenlauf, wie er es sich nicht schlimmer hätte ausmalen können. Er war der neue Abzurichtende, die Gäste entsprechend neugierig. Sie begafften ihn unverfroren, ließen ihn unnötige Wege laufen oder schlugen ihn ganz unbekümmert auf das nackte Gesäß. Während sich die beiden geladenen Paare das Hummeromelette auf der Zunge genüsslich zergehen ließen, grabschten ihm sowohl die Männer wie auch die Frauen lachend in den Schritt, und beim letzten Gang, dem Frozen Haute Chocolate-Eisbecher mit seltenem Kakao und Trüffeln als Dessert, zwangen sie ihn sogar, selbst den Schurz anzuheben. Sie schlürften genüsslich ihren Espresso und unterhielten sich unterdessen ganz zwanglos darüber, was sie alles in der Nacht mit ihm anstellen könnten. Nummer Fünf wurde weiß wie der Tod. Er sollte sehenden Auges in die Hölle geschickt werden und konnte nichts dagegen tun.

Zufällig bemerkte der Herr, dass sich sein neuer Abzurichtender unverhältnismäßig lange neben dem Stuhl einer der Damen aufhielt. Das Tablett in seinen Händen zitterte merklich. Seine Lippen waren hart zusammengepresst und blutleer, die eigenen Zähne zerbissen die eingesogenen Wangen. Dicke Schweißtropfen perlten auf seiner Stirn.

„Nummer Fünf“, rief er, „wo bleibt mein Wein?“

„Sofort, Herr.“

Nummer Fünf hatte den Ausweg gleich erkannt. Steif verbeugte er sich vor der Frau und näherte sich merklich hinkend dem Hausherrn. Auf dem Weg hinterließ er eine Spur aus Bluttropfen.

Die Schmerzen waren grauenhaft. Dennoch musste er seinen Tischdienst bis zum Ende des Gastmahls fortsetzen. Erst danach sah sein Besitzer sich den Schaden an. Die vornehme Dame hatte seinem Eigentum mit ihren langen, extrem spitz zugefeilten Fingernägeln einen Hoden regelrecht zerfetzt, den anderen geschädigt.

Die Herrin war außer sich, als sie dazu geholt wurde.

„Das kann doch wohl nicht wahr sein! Einen solchen Anblick können wir unseren Gästen nicht zumuten. Auf keinen Fall! Wir müssen die Spielnacht heute absagen. Was für eine Blamage!“

Kein Zeichen des Mitleids für ihren Abzurichtenden, keine Hilfe. Im Gegenteil.

„Und du! Verschwinde in deine Zelle! Geh mir aus den Augen! Du taugst zu rein gar nichts.“

Ihre Augen blitzten vor Zorn, rote Flecken auf den Wangen und am Hals verunstalteten das ansonsten makellose Make-up.

Der Abzurichtende schwieg zu allem. Er wurde in seine Zelle gestoßen, ohne dass irgendjemand sich die Mühe gemacht hätte, seine Verstümmelung zu versorgen, oder auch nur ein Wort für ihn übrig gehabt hätte. In der Dunkelheit tastete er nach dem Wasserkrug und opferte etwas von seinem kostbaren Trinkwasser, um die Wunde wenigstens ein wenig kühlen zu können.

In dieser Nacht zwang sich Nummer Fünf gewaltsam, laut auszusprechen, wofür er dieses Leben einst freiwillig auf sich genommen hatte. Das half ihm ein wenig dabei, den Schmerz zu kontrollieren. Er lenkte seine Gedanken auf jenen anderen Schmerz vor mehr als drei Jahren, damals bei Callas Geburt, als er, bewacht von seinem Vater, stundenlang vor der Hütte auf- und abgelaufen war. Fast zehn Stunden dauerte die Geburt und jeder einzelne Schmerzensschrei Soras wurde ihm zu einem eigenen. Unwillkürlich lächelte Nummer Fünf seine Qual weg, als er das Bild seiner gerade geborenen Tochter in den Armen ihrer Mutter vor sich sah. Es dauerte dennoch lange, bis er etwas zur Ruhe kam. Erst kurz vor dem Morgengrauen fiel er in einen unruhigen Schlaf.

Am nächsten Tag glühte er in hohem Fieber. Die Wunde hatte sich infiziert.

Damals wurde die Ärztin zum ersten Mal geholt.

Es ist eines der Kennzeichen von Erniedrigung und Gewalt, dass Herr und Sklave sich daran gewöhnen. Die Dosis muss ständig erhöht werden. Die furchtbaren Ereignisse jenes Abends brachten mir die Zeit zurück, direkt nachdem ich mich verkauft hatte, als ich verzweifelt versucht hatte mein neues Leben zu begreifen. Um nicht zusammenzubrechen, suchte ich für mich selbst nach jeder Rechtfertigung für die Schonungslosigkeit und Brutalität, mit der sie mich behandelten. Sie waren ja im Recht, sie konnten mit mir tun, was immer sie wollten, zumindest alles, was mein Herr erlaubte. Es musste demnach richtig sein. Und wenn ich mich schuldig fühlte, dann doch nur, weil ich mich tief im Innersten dagegen auflehnte. Und mich damit ins Unrecht setzte. Oder? Diese Rechnung ging jedenfalls auf. Eines habe ich meinem Herrn allerdings niemals vergessen: Diese Dame war nie wieder Gast des Hauses.

Der Abgerichtete

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