Читать книгу Der Abgerichtete - Maxi Magga - Страница 8

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Der Trubel der Stadt machte ihm Angst. Menschen über Menschen! Und alle bewegten sich erschreckend furchtlos zwischen den unzähligen großen und kleinen Luftkissenwagen, Hoverboards der Guardians und Pferdekarren, die Kisten und Fässer transportierten. Jeder fuhr oder lief, wie und wo es ihm beliebte. Man musste nur darauf achten, den Fahrzeugen in den Kennfarben der höheren Kasten stets den Vorrang zu lassen. Falls es zu einem Unfall kam, trug immer der Beteiligte aus der unteren Kaste die Schuld, weil er den Vorrang des Kastenhöheren missachtet hatte. Spielte sich der Unfall zwischen zwei Gleichberechtigten ab, so hatten sie sich die Verantwortung zu teilen.

Moron hätte jeder Maus Vorrang eingeräumt. Furchtsam drückte er sich dicht an den Gebäuden entlang. Diese Häuser, ausnahmslos aus Stein und Glas und einem schimmernden Material gebaut, das er gar nicht kannte, wuchsen links und rechts der breiten Straßen scheinbar bis in den Himmel. Alle paar Meter gab es Geschäfte oder fliegende Händler, bei denen man sich Nahrungsmittel und sonstige Dinge des täglichen Lebens direkt aus einem 3D-Drucker herstellen lassen konnte. Ein Fluch für alle Menschen wie ihn, nicht nur in Morons Augen. Niemand konnte zählen, wie viele davon ins Elend gestürzt und im schlimmsten Fall sogar aus ihrer Kaste geworfen worden waren, weil ihre Arbeit plötzlich nichts mehr wert war.

Ein wenig abseits von den großen, glitzernden Straßen zeigte die Stadt ein anderes Gesicht. Die Straßen wurden schmaler, dunkler und schmutziger. Hier rannten sogar Ratten durch eingestürzte, nur sehr langsam verrottende Gebäude, die trotz der langen Zeit noch immer an die furchtbaren europaweiten Zerstörungen aus den Großen Verteilungskriegen erinnerten.

Mit furchtsamem Respekt blieb Moron jedes Mal dicht an die Mauern gedrückt abwartend stehen, wenn eine der unzähligen Doppelpatrouillen der Guardians vorbeiging und ihn demonstrativ musterte. Jeder im Land wusste, sie waren kompromisslos und hart und setzten die zahlreichen Sonderrechte in der Erfüllung ihres Auftrags, Gesetz und Ordnung inhalb der Gesellschaft aufrecht zu erhalten, rigoros ein.

Moron hätte es niemals gewagt, einen von ihnen nach dem Weg zu fragen. Es kostete ihn schon eine Menge Überwindung, überhaupt fremde Menschen anzusprechen. Unter den entrüsteten oder angewiderten Blicken der Stadtbewohner begann er sich wegen seiner abgetragenen, mehrfach geflickten Kleidung und der nackten Füße zu schämen. Sora hatte seine einzige Jacke extra für die Reise sorgfältig gewaschen, aber das galt hier nichts. Seine Schuhe hatte er am Morgen seinem Vater gegeben, damit dieser bei der Arbeit auf den Feldern geschützt würde. Aber auch das zählte unter diesen Menschen nicht, die überwiegend zur D-Kaste gehörten, wie an ihren kleinen weißen Abzeichen über dem Herzen zu erkennen war. Zwischen ihnen schlenderten viele Mitglieder der C-Kaste, vor denen sich der Strom der Fußgänger spaltete wie Wasser an einem Felsen. Der Älteste hatte erzählt, dass es bis zu den Kriegen gar keine Kasten gegeben haben sollte. Moron konnte sich so etwas nicht vorstellen. Wie hätte man damals denn wissen sollen, wer bei einer Begegnung auf der Straße Platz machen musste, wer bevorzugt bedient wurde, wer in den Wintermonaten zum Schneeräumen verpflichtet werden konnte?

Merkwürdig gekleidet waren die Menschen hier! Viele Frauen trugen Kleider, die so eng waren, dass sie sich sicher kaum darin bewegen konnten, und diese hatten rundherum winzige Löcher, durch die man die Haut sehen konnte. Etliche Männer trugen Hosen, die ebenso eng und unbequem schienen wie die Kleidung der Frauen, und dazu Hemden, die in grellen Farben leuchteten, mit völlig unpraktischen weiten Ärmeln. Manchmal war es schwierig in dieser Buntheit überhaupt ein Kastenabzeichen zu erkennen.

Moron begegnete auch einigen Bewohnern der Unterstadt mit ihren grünen Kennzeichen der E-Kaste. Vor ihnen musste er sich in Acht nehmen. Diese Menschen waren nie allein in der Stadt unterwegs. Nur allzu gern würden sie die Gelegenheit nutzen, sich an ihm für die eigene Geringachtung durch die höheren Kasten zu rächen. Dass er mit seinem roten Abzeichen der F-Kaste ausgerechnet hier Hilfe finden könnte, brauchten sie nicht zu fürchten.

Nach seinem stundenlangen Fußmarsch bis zur Stadt wurde Moron weitere zwei Stunden kreuz und quer umher gehetzt. Er erkannte es schnell als eine der gewohnten Schikanen, denen seine Kaste ausgesetzt war, dass er oft genug in eine falsche oder sogar in die Richtung geschickt wurde, aus der er gerade gekommen war, wenn er zaghaft sein Holzstück vorgezeigt hatte. Irgendwann stand er aber doch vor dem richtigen Gebäude. Sorgfältig verglich er Zeichen für Zeichen. Es stimmte. Und es konnte doch nicht sein! Der Name auf dem Schild neben der Haustür war blau geschrieben. Blau! Das war die Farbe der C-Kaste! Was hatte einer aus der C-Kaste mit ihm zu tun? Wie benahm man sich in dessen Gegenwart? Wie hatte man ihn anzusprechen? Es musste unbedingt ein Fehler sein! Noch einmal verglich er die Form der Zeichen. Kein Zweifel, sie stimmten überein.

Unschlüssig stand er vor der großen, gläsernen Tür und wagte nicht sie anzufassen. Mitten auf dem Weg war er stehengeblieben, so dass die Vorüberhastenden gezwungen waren ihm auszuweichen. Sie schimpften und rempelten ihn an. Sein Erscheinungsbild und sein fassungsloses Erstaunen weckten andererseits aber auch Neugier und Spott. Nicht wenige blieben vor ihm stehen, musterten ihn ungeniert, tuschelten und lachten. Schließlich floh Moron vor dieser Art von Demütigung ins Haus. Dort gingen die Wunder der Stadt weiter. Er lief über riesige weiche Tücher, die überall auf dem Boden lagen, stieß gegen Tische, die so blank waren, dass er sich darin spiegeln konnte, und blickte in Lampen, die ohne Kerzen oder Öl brannten, und das am helllichten Tag. Es war sein Glück, dass man bereits auf ihn wartete, sonst hätte das Abenteuer vielleicht ein unrühmliches Ende genommen. So aber wurde er von der wohl schönsten Frau abgefangen, die er je gesehen hatte, und in das Büro des Anwalts gebracht, der ihn hierher bestellt hatte. Dort saß er nun auf der alleräußersten Kante seines Stuhls drei Menschen gegenüber, die es sich in hellen, komfortablen Sesseln bequem gemacht hatten, dem Anwalt mit seinem blauen Abzeichen und einem vornehm aussehenden, dezent gekleideten Paar, das der silbernen Plaketten gar nicht bedurft hätte, um sich als Mitglieder der zweithöchsten, der B-Kaste, auszuweisen. Das brünette, glatte Haar der Dame fiel seidig glänzend bis tief in den Rücken, die braunen, smaragdgrün umrandeten Augen funkelten Moron lebhaft an, die leicht geöffneten Lippen gaben einen Blick auf makellos weiße Zähne frei. Hätte man ihn gefragt, er hätte nicht angeben können, wie alt sie war, aber bestimmt kaum älter als er. Ihr vielleicht 34 oder 35 Jahre zählender Mann stand ihr an Eleganz in nichts nach. Das tiefschwarze Haar war offensichtlich vor kurzer Zeit erst geschnitten worden, ohne solche Patzer und Fehler wie bei Moron. Die Augen schienen unergründlich. Man hätte ohne genauere Prüfung nur sagen können, dass sie sehr dunkel waren. Während das Paar dem Anwalt zuhörte, musterte es den auf seiner Stuhlecke balancierenden Mann, der sich sichtlich unwohl fühlte. Unablässig knetete er seine Finger und verlegen versuchte er seine Füße unter dem Stuhl zu verstecken. Die Frau lächelte ihm freundlich aufmunternd zu.

„Sie haben alles verstanden, Moron Kinze? Oder soll ich etwas noch einmal erklären?“

Nein, er hatte bei weitem nicht alles verstanden. In Wahrheit hatte er nach der ersten so ungewohnten, so falsch klingenden Anrede mit „Sie“ kaum noch etwas gehört. Die fremdartige Umgebung, das rasche Vorlesen der Papiere durch den Anwalt, das freundliche Lächeln der Frau, alles verwirrte ihn, raubte ihm jede Erinnerung an die Fragen, die er mit dem Dorfältesten doch extra so sorgfältig zusammengestellt hatte.

„Wie gesagt, Kinze, wir können den Vertrag heute noch perfekt machen. Die Herrschaften hier haben sich bereit erklärt, Sie in ihr Programm aufzunehmen. Sie wollen Ihre gesamten Schulden übernehmen und Ihre Frau und Ihre Kinder darüber hinaus mit einer ansehnlichen Summe unterstützen, so dass sie hier in der Stadt eine Chance auf ein ganz neues Leben in der E-Kaste haben. Im Gegenzug verkaufen Sie sich als Sklave auf Lebenszeit mit allen Konsequenzen an diese Herrschaften. Falls Sie die ersten 20 bis 25 Jahren überleben, abhängig davon, ob zum Beispiel Arztkosten für Sie angefallen sind, ist Ihre Familie von jeder Rückzahlung befreit und erhält in diesem Moment zusätzlich, als freiwilligen Bonus, die Vergünstigung sich ihren Wohnort selbst aussuchen zu dürfen. Falls nicht, ist eine anteilige Rückzahlung des Kaufpreises entsprechend der abgedienten Jahre anhängig. Haben Sie das jetzt soweit verstanden?“

Moron war sich immer noch nicht sicher, ob er nun wirklich Bescheid wusste, aber es schien genau das zu sein, worum er sich beworben hatte, seit er zufällig von dieser Möglichkeit erfahren hatte. Er sah keinen anderen Weg seine Familie vor dem Verhungern zu bewahren. Zutiefst aufgewühlt blickte auf diese zwei schönen, vornehmen, reichen Menschen, die bereit waren, exakt dafür Sorge zu tragen, und war erfüllt von grenzenloser Dankbarkeit. Er schwor sich sehr hart zu arbeiten, um sich der Gnade, die sie ihm gewährten, würdig zu erweisen.

Geblendet von der Umgebung und erdrückt von der Situation, suchte Moron vergeblich nach den richtigen Worten. Da er keine fand, nickte er nur stumm.

„Nur um ganz sicher zu gehen, Kinze. Sie sind sich also vollkommen darüber im Klaren, dass diese Herrschaften vom Moment Ihrer Unterschrift an die völlige Verfügungsgewalt über Sie, das heißt über Ihre Arbeitskraft und Ihren Körper, haben? Das betrifft im Besonderen ihr Recht, Sie nach Gutdünken zu bestrafen.“

Das war die Stunde, in der ich aus eigenem Willen zum Sklaven wurde. Nicht zu einem Arbeitssklaven, von denen ich ein paar kannte, sondern zu einem Abgerichteten, wie mein Herr es nannte. Den Unterschied sollte ich noch am gleichen Abend bitter erfahren. Ja, es ist wahr, ich hatte mich ihnen selbst ausgeliefert, und ja, ich war bereit, mich völlig zu unterwerfen. Aber was sie daraus machten, war nicht richtig. Das hätte ich mir nicht gefallen lassen dürfen. So sehe ich es heute. Damals dachte ich, das sei der Beginn eines zweiten Lebens. Heute weiß ich, es war mein erster Tod.

Nachdem Moron sein Kreuz auf einem Blatt richtigem, echtem Papier gemacht hatte, forderte ihn der Anwalt auf ihm alle persönlichen Gegenstände sowie sein Gepäck auszuhändigen, damit es seiner Familie überstellt werden könne, ebenso sein rotes Kastenabzeichen. Der elegante Herr fügte mit seiner melodischen Stimme hinzu, dass er nichts mitnehmen dürfe, was an sein altes Leben erinnere. Erstaunt sah Moron auf. Gepäck? Eigentum? Er besaß nichts, das irgendwie von Wert war. Als man ihm allerdings den Ausweis und das Abzeichen wegnahm, wurde ihm schlagartig klar, dass er von nun an nicht nur nichts besaß, sondern auch nirgends mehr dazu gehörte, weder zu seinem Volk, noch zu seiner Kaste.

Der Anwalt raffte die Papiere zusammen, rief einen Angestellten und übergab ihm den neuen Sklaven. Morons Mundwinkel zuckten kurz, als der Mann ihn raubeinig aufforderte sich umzudrehen und die Hände auf den Rücken zu legen, aber er gehorchte ohne Zögern. Er wurde gefesselt, mit verbundenen Augen aus dem Anwaltsbüro geführt und musste sich anschließend in das Gepäckteil eines Luftkissenwagens Petrona Sportiva legen. Es war im Verhältnis zur Größe des Wagens lächerlich klein. Moron musste die Knie bis ans Kinn anziehen, um überhaupt darin Platz zu finden, aber er verstand schon, dass sich jemand aus der B-Kaste nicht mit einem wie ihm in der Intimität eines Wagens sehen lassen konnte. Obwohl der schnelle, exklusive Wagen stolze 35 Zentimeter über dem Boden schwebte und sich daher unbehindert von den unterschiedlichsten Untergründen immer die kürzesten Wege suchen konnte, dauerte die Fahrt etliche Stunden. Sie wurde nur ein einziges Mal unterbrochen, als die neuen Sklavenbesitzer ein Restaurant aufsuchten. Um Moron kümmerten sie sich dabei nicht. Aber das hatte er auch nicht erwartet. Das hätten auch die weniger hochgestellten Mitglieder der Gesellschaft nicht getan. Immerhin, er hatte reichlich Zeit, die Furcht vor dem unbekannten Fahren in einem Wagen zu überwinden und dann die Gedanken in sein Dorf zurückzuwandern zu lassen. Arme Sora, sie sollte recht behalten. Es war mehr als unwahrscheinlich, dass Moron sie oder die Kinder noch einmal sehen würde. Nicht bei der Entfernung, die sie zurücklegten, und der Mühe, die sie sich gaben, um ihn im Ungewissen zu lassen, wo das Ziel der Reise sein würde. Er hoffte nur von ganzem Herzen, dass sie wenigstens seine Frau darüber informiert hatten. Lange quälte er sich mit der Vorstellung, wie Sora Stunde für Stunde, Tag für Tag und Monat für Monat vergeblich nach ihm Ausschau hielt und schließlich jede Hoffnung verlor. Er nahm sich fest vor, später allen Mut zusammenzunehmen und in aller Demut seinen Herrn danach zu fragen. Zumindest dachte er es sich so.

Als sie in das Anwesen des Herrn einfuhren, das von nun an seine Heimat sein sollte, war es fast 22 Uhr. Moron war so weit weg von seinem bisherigen Leben wie nur möglich.

Der Abgerichtete

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