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Eine Grundlegung strategischen
Denkens in Deutschland
Strategie im machtpolitischen Umbruch der Weltordnung
30 Jahre deutsche Einheit, über 70 Jahre NATO – Deutschlands Freiheit und Wohlstand sind sicher. Gute Auskommen sind überdies sozial(staatlich) breit gestreut, die Freiheitsrechte durch das Grundgesetz verbürgt, der Anblick globaler Turbulenzen von zuhause aus, digital allemal, mit Leichtigkeit verkraftbar. Und internationalen Bitten, Deutschland möge sich international mehr engagieren, wird großzügig durch über ein Dutzend Bundeswehreinsätze entsprochen. Kein Grund also zur Sorge – weiter so! Die Welt wird sich im Zweifel schon beruhigen. Im Zweifel kann die deutsche Erfolgsgeschichte seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und sodann seit der Wiedervereinigung für andere Länder sogar Vorbild sein. Nur etwas wird diese weithin geteilte Sichtweise vielleicht getrübt von misslichen Entwicklungen fernab in der Welt und von einigen neuartigen innergesellschaftlichen Trends.
Ob die Welt tatsächlich so beschaulich ist, scheint zumindest fragwürdig. Die zuletzt häufiger erhobene Aufforderung zur Verteidigung unserer „Werte“, da diese „alles andere als selbstverständlich“ seien, klingt manchem mitunter wie ein gefährlich blutleeres Ritual, das sich eben zu Jubiläumszeiten abspielt (Merkel zit. in FAZ 2019b). Es gibt deshalb zunehmend Stimmen, die den Eindruck haben, dass ein führungsschwacher Westen heute in eine gefährliche Zeitenwende tritt. Was wiederum zu der Frage zwingt, wie diese Welt beschaffen ist, in der Deutschlands Bedeutungslosigkeit viele Partner, aber nicht uns, erheblich irritiert und sie zum Handeln an Berlin vorbei leitet. Macrons pointiertes Interview vom November 2019 war auch Ergebnis deutscher Überheblichkeit, im alleinigen Besitz der Moral den einzigen Weg in die Zukunft zu kennen (ohne diesen allerdings skizzieren zu können). Die gegenwärtige deutsche Verteidigungsministerin nimmt deshalb richtig an, dass Krieg in Europa eben nicht für immer gebannt ist und das Modell des Westens nicht das globale Modell der Zukunft ist. Aus vier Gründen: Durch den seit 2014 wütenden Ukraine-Krieg hat sich Russland absehbar als Partner desavouiert. Putin will eine vorgelagerte Pufferzone und hat aus purem Machtstreben heraus die nukleare Balance in Europa zu seinen Gunsten verändert. Zweitens greift Chinas wirtschaftliche Macht krude über die Seidenstraße nach Europa aus, importiert sein autoritäres Modell mit seinen Investitionen und erzwingt Wohlverhalten. Xi Jinping will dabei explizit nicht länger ein Deng Xiaoping sein und beginnt, stärker Wilhelm II. zu ähneln als Bismarck. Seine Ambitionen werden mithin in einem für deutsche Dimensionen nicht mehr greifbaren militärischen Aufwuchs erkennbar, der zunächst der Rückgewinnung von Chinas historischer Einflusssphäre dient. Drittens: Die amerikanische Beistandsgarantie gilt nicht mehr vorbehaltlos. Donald Trump steht hier trotz Verstärkung seiner NATO-Beiträge im Mittelpunkt, aber die Abwendung von Europa begann vor ihm und wird sich nach ihm fortsetzen. Schließlich: Europa profitiert noch von seiner Rolle als globale Wirtschaftsmacht, erkennt auch langsam, dass es global handlungsfähig werden muss – tut aber nichts dafür, die angemahnte „Sprache der Macht“ zu sprechen (Borrell 2020).
Die Instabilität, die sich angesichts dieser Zeitenwende aus westlicher Uneinigkeit ergeben hat, fällt dabei ganz wesentlich auf Deutschland zurück. Es war der polnische Außenminister, Radoslav Sikorski, der 2011 sagte, er fürchte nichts mehr als deutsche Untätigkeit in strategischen Fragen. Im Sinn hatte er damit eine von Nachlässigkeit geprägte Haltung gegenüber dem Bestand jener westlichen Weltordnung, der Deutschland seinen Wiederaufstieg, Wohlstand und seine Freiheit zu verdanken hat. Seit 2018 jedoch ist Polen erfolgreich damit beschäftigt, eine in Deutschland stationierte US-Brigade durch ein Stationierungsabkommen mit Amerika nach Osten zu lotsen. Wie im Brennglas zeigt diese Entwicklung eben jene selbst verschuldete internationale Bedeutungslosigkeit Deutschlands, der Sikorskis Furcht galt. Strategie, nein danke! Berlin darf sich aber heute nicht länger schlafwandlerisch in vielen gut gemeinten Reden zum Erhalt der liberalen Weltordnung – allesamt ohne zentrale Vision für den Westen – am harten strategischen Kern der Zeitenwende vorbeidrücken.
Vielmehr ist es in diesem Umbruch von alles überragender strategischer Notwendigkeit, die Voraussetzungen zu schaffen, damit unsere Lebensader, die vitale Sicherheitsgarantie der NATO, politisch das besitzt, was sie militärisch unschlagbar macht: Glaubwürdigkeit, die auf Vertrauen beruht. Es gilt jetzt, Europa so unverzichtbar für Washington zu machen, dass gemeinsam entschieden und gehandelt wird. Deutschland darf in Europa nicht länger durch seinen Verzicht auf Handeln den Charakter jener Ordnung gefährden, die es so lautstark einfordert. Denn: Militärische Macht durchzieht alle staatliche Beziehungen der internationalen Politik. Und zwar ausnahmslos. Mit bitterernster Selbstverständlichkeit erinnerte Frankreichs Präsident Macron daran in seinem bereits erwähnten Interview: „These days, if you don’t have military credibility, in a world where authoritarian powers are on the rise again, it won’t work“ (Economist 2019).1 Ohne Stärkung seiner militärischen Fähigkeiten und der politischen Entschlossenheit in der gegenwärtigen Zeitenwende zu handeln, wird Europa deshalb die USA nicht vom unilateralen Pfad abbringen. Das ist die eigentliche Bedeutung der Zwei-Prozent-Verpflichtung der Regierungschefs, die sich nicht von kurzsichtigen Buchhaltern beirren lassen dürfen.
Deutschland obliegt damit in Europa die zentrale Aufgabe, Amerika an Bord zu halten, indem es die Sicherheitsgarantie der NATO strategisch begreift. Die Chance hierzu besteht weiterhin, denn auch Amerika braucht Verbündete, braucht Europas sichere atlantische Gegenküste. Nur mit den Europäern können die Amerikaner Weltmacht Nr. 1 bleiben, nur mit ihnen aus der Konfrontation mit China Kooperation machen. Die Arbeitsteilung der NATO, die in einem erneuerten transatlantischen Bündnis über Zentraleuropa hinausgehen wird, muss so aussehen: Europa unterstützt die USA vis-a-vis China politisch, wirtschaftlich, technologisch und mit militärischer Präsenz und Amerika unterstreicht unzweideutig seine nukleare Rückversicherung für ein militärisch aufwachsendes Europa vis-a-vis Russland. China und Russland wird damit überdies unmissverständlich vor Augen geführt, was beide nicht haben: mächtige Allianzen.
Die Zukunft Europas liegt somit nicht in der naiven Idee einer Europaarmee, sondern in einer strategisch neu formierten NATO, in der ein notfalls auch eigenständig für Europa handelnder, aber mit den USA verkoppelter europäischer Pfeiler entsteht, zu dem Deutschland jetzt wesentlich beitragen muss, politisch und militärisch. Europas Beitrag in dieser Neuausrichtung der Allianz muss auch nukleare Kooperationsformen beinhalten. Deren Form müssen strategische Überlegungen bestimmen, nicht die kurzsichtige Erpressung mit europäischen Rüstungsprojekten. Dadurch gelängen dem Kontinent im selben Atemzug zwei strategische Rückversicherungen: gegen den worst case, in dem Amerikas unilateraler Instinkt in einem nicht unmöglichen Krieg gegen China doch obsiegt. James Mattis mahnte ja nicht zuletzt, Amerika könne nicht zwei Großkriege parallel führen. Macrons aus der Enttäuschung über Berlin geborenes Rapprochement mit Russland vom August 2019, nun verstärkt durch seine nur Russland begeisternde Kritik an der NATO, darf nicht Teil europäischer Strategie werden, selbst wenn Amerika dies angesichts der Spannungen mit China goutieren würde. Nur ein Europa, das sich glaubhaft schützen will und kann, wird die USA an Bord halten. Nur als Verbündeter Nordamerikas wird es Russland dazu bringen können, erneutem Dialog zuzustimmen. Gerade weil chinesische und russische Vorstellungen von Weltordnung der transatlantischen diametral gegenüberstehen, kann Deutschland nur im Bündnis die freiheitlich-liberale Weltordnung schützen.2
Und dennoch: All diese Entwicklungen treffen auf ein Deutschland, das sich seiner Ansicht nach gut in Europa eingerichtet hat. Seine Perzeption der Weltpolitik ist weitestgehend unbedarft, ohne tiefergehendes Problembewusstsein strategischer Umbrüche. Die Gründe dafür sind, verkürzt gesagt, der Zweite Weltkrieg, die daraus abgeleitete Kultur der Zurückhaltung auch nach der Einheit sowie die Gewöhnung an umfassenden Wohlstand und den militärischen Schutzschirm der USA. Deshalb ist seit dem Ruf des ehemaligen Bundespräsidenten Gauck von 2014 nach „mehr Verantwortung“ Deutschlands aus dem häufig bemühten „Münchner Konsens“ nie ein Berliner Konsens geworden.
Was Deutschland fehlt, im Ausland von vielen starken Verbündeten bemängelt (und von anderen insgeheim gutgeheißen), ist deshalb eine strategische Kultur. Häufig deutscherseits als Sonderweg bemüht, steht das Land sehr einsam in der Welt mit diesem Mangel. Mit anderen Worten: Außerhalb Deutschlands leistet sich kein Land ähnlicher Größe oder größer den Luxus, keine strategische Kultur zu haben. Der Grund dafür ist simpel. Internationale Akteure wissen, dass die Welt substanziell anders beschaffen ist, als Deutschland sich dies zum – großen – Teil, nicht gänzlich, bis heute selber vorspiegelt.3 Kognitionspsychologen nennen dies den schwarzen Elefanten: „The black elephant is the evil spawn of our cognitive biases. It is a cross between a black swan and the proverbial elephant in the room. The black elephant is a problem that is actually visible to everyone, but no one wants to deal with it, and so they pretend it is not there“ (Ho 2017). Der deutsche Michel gleicht in diesen Zeiten einem schlafwandelnden schwarzen Elefanten.
Die bisher in Deutschland fehlende strategische Kultur ist deshalb ein Hinweis darauf, dass Staaten einer conditio sine qua non unterliegen, ohne die sie sich auf internationaler Ebene politisch, wirtschaftlich und in ihrer kulturellen Eigenart nicht erfolgreich behaupten können: der Fähigkeit, strategisch zu denken und entsprechend handeln zu wollen, um ihre Sicherheit zu gewährleisten. Solange in einer Welt unterschiedlicher Machtgewichte und Wertesysteme Staaten die Möglichkeit besitzen, mit Mitteln aller Art Bedingungen zu schaffen, um andere Staaten anzugreifen oder diese mindestens so erpressbar zu machen, dass sie zum Handeln wider ihren Willen gezwungen werden können, ist die Notwendigkeit strategischen Denkens und Handelns von überragender Bedeutung. Dies schließt insbesondere Zeiten des Umbruchs von Weltordnungen, des machtpolitischen Umbruchs lange bestimmender Regelsysteme ein. „[Classical strategists have] always insisted that a concern with the dark side of the international system could never provide a total approach to international politics, but it was necessary to take care of it in order that the lighter side could glow“ (Freedman 1992, 282).
Ein konzeptioneller Kompass für Strategen
Strategen, Generalisten, Experten
Nach diesen strategischen Beobachtungen zur Gegenwart legt der Text nach einigen Vorbemerkungen drei Grundannahmen zur Natur der Weltpolitik und drei Verständnisse von Strategie dar, wie sie die „Strategic Studies“ bieten.4 Diese Annahmen und Verständnisse geben Entscheidern und ihren Spitzenberatern einen konzeptionellen Kompass bei der Erkennung, Einordnung und Priorisierung von Interessen und politischen Entwicklungen als vital oder nicht-vital an die Hand. Damit versetzen sie die wesentlichen Akteure in die Lage, aktiv und strategisch, nicht reaktiv und situationsgetrieben, in die Zukunft der internationalen Politik einzugreifen und sie antizipierend zu formen. Trotz des allgegenwärtigen Zeitdrucks, des Tagesgeschäfts, unerwarteter Krisen und des digitalen 24/7-Rythmus ermöglicht es dieser Kompass dem Strategen, den Blick stets auf das big picture aufrecht- und durchzuhalten, den roten Faden der oben genannten Logiken strategischer Zusammenhänge zu verstehen und sich deshalb auf die zentralen Implikationen und Gelegenheiten zum Handeln konzentrieren zu können.5
Dadurch unterscheidet sich der Stratege nicht zuletzt vom Generalisten. Letzter gilt aufgrund der ihm häufig zugesprochenen, schnellen Auffassungs- und Einarbeitungsgabe als prädestiniert für die Behandlung strategischer Fragen, gerade weil er sich in kurzem Zeitraum Expertise aneignen könne. Was dabei genau wie aufgefasst und worin dieses was eingearbeitet wird, wird dabei jedoch allein mit radikaler Präferenz für ‚das‘ empirisch Praktische und häufig das politisch Gewollte bestimmt. Die Rechtfertigung dieses Ansatzes gründet dann zumeist auf der Komplexität des internationalen Geschehens an sich und der – unbezweifelbaren – Ungewissheit über den Fortgang der Zukunft. Das Komplexitätsargument wird bestärkt durch die stärker als schwächer werdende Tendenz, dass Generalisten immer mehr über immer weniger wissen und somit Gefahr laufen (und dieser zumeist unterliegen), den Wald vor Bäumen nicht zu sehen.6 Entsprechend werden Zeitentwicklungen mit viel Detailkenntnis administrativ in individuelle Problembereiche segmentiert, das technokratische Lösen von Problemen genuin als Politik (miss-)verstanden und somit vermeintlich ein höhere Effizienz des Verwaltungshandelns erreicht (Epstein 2019, 286; Kissinger 2019, 131). Im Ergebnis wird damit ein kleinteiliges muddling-through ohne Blick für das Ganze zum bürokratisch abgesicherten modus operandi (Lindblom 1959; Gadamer 1989, 136–57).7
Übersehen wird deshalb, dass die allenthalben vorwaltende (Hyper-)Spezialisierung der Experten-Generalisten keine, strategischen Überblick gewährende Antworten auf die Komplexität internationaler Politik bieten kann. Deshalb muss sich dem eine strategische, machtpolitische Lesart internationaler Politik entgegenstellen. Diese beruht auf den im nächsten Abschnitt beschriebenen Vorbedingungen.
Ein jüngstes empirisches Beispiel mag diese Problematik zunächst veranschaulichen. Im Sinne einer Grundannahme versteht die Bundeskanzlerin praktische Politik als das „Lösen von Problemen“. Dieses Verständnis mag erklären, warum die Kanzlerin u.a. Nordstream 2 und Huawei als unpolitische, wirtschaftliche Probleme begreift. Dies spiegelt sich wider in ihrer häufig genutzten Begrifflichkeit, Machtpolitik sei ein „Relikt des 19. Jahrhunderts.“ Ohne die den zentralen Machttrieb heutiger Großmächte konzeptionell ausklammernde und damit diesen ungut unterschätzende Bundeskanzlerin beim Namen zu nennen, erinnerte Henry Kissinger mahnend an die eklatante Schwäche dieses Ansatzes: „the traditional thinking [in foreign-policy making] has been that issues could be segmented into the resolution of individual problems – in fact that the solution of problems was the issue“ (2019: 131). Dies erklärt im Umkehrschluss aber auch, warum die kühlen und zynischen Machtstrategien Chinas und Russlands von der Kanzlerin so wenig durchschaut worden sind wie die Notwendigkeit unerkannt geblieben ist, für Europa und Deutschland machtbasierte Strategien zu entwickeln.8
Philip Tetlocks meisterhafte Studie zur Antizipationsqualität von Experten hat in diesem Zusammenhang die Notwendigkeit konzeptionellen Denkens in seinen Befragungen treffend so herausgearbeitet (2005, 20): „Who experts were – professional background, status, and so on – made scarcely an iota of difference … Nor did what experts thought – whether they were liberals or conservatives, realists or institutionalists, optimists or pessimists … But how experts thought – their style of reasoning – did matter.“9
Wiewohl ein unwahrscheinlicher Stratege, hat Hugo von Hofmannsthal die Mahnung Tetlocks mit verblüffender Leichtigkeit 1894 bereits vorweggenommen. Hofmannsthals kluges Diktum, „Was hilft es, viel gesehen zu haben?“, impliziert dabei gerade die Notwendigkeit zu strategisch geschulter Reflektion, die der in der Sicherheitspolitik weit verbreiteten, für selbsterklärend-pragmatisch gehaltenen Herangehensweise gegenübergestellt werden sollte (zit. in Gadamer 1989, 8).
In einem Wort: Inspiriert von Max Webers Klassiker von 1919, Politik als Beruf, zielt das vorliegende Buch darauf, Grundlagen zu legen, um Strategie als Beruf zu etablieren. Die Konzentration des Ansatzes liegt dabei auf zukünftigen politischen Entscheidern und ihren engsten Beratern. Die vorgelegten Analysen bieten hierfür eine konzeptionelle Einführung in strategisches Denken und veranschaulichen gleichzeitig praktisches strategisches Handeln. Strategisches Denken wird hier nicht auf militärisches reduziert. Aber es ist wichtig zu anzuerkennen, dass militärische Macht per se – basierend auf ökonomischen Gewicht und technologischer Innovationskraft – zwischenstaatlichen Beziehungen zugrunde liegt. Der Band hofft, somit einen Beitrag zu jener strategischen Kultur zu liefern, von der es sich Deutschland noch immer leistet, auf sie zu verzichten. Das heißt nicht, dass ein Land nicht mehrere außenpolitische Identitäten hat, inklusive einer pazifistischen. Es zeigt vielmehr, dass das souveräne Bestehen im machtpolitischen Wettbewerb internationaler Politik und dessen tatsächliche Beeinflussung ohne eine strategische Kultur global nicht realistisch ist. Erst dann wird verständlich, was der zu Anfang erwähnte, häufig belächelte Aufruf zur Verteidigung der eigenen Werte eigentlich bedeutet – und von den Deutschen in der Weltpolitik verlangt.10 Zumal in der gegenwärtigen Zeitenwende des Umbruchs der Weltordnung.
Drei Grundannahmen zur Natur der Weltpolitik
Erstens: Der traditionelle Kern des in Deutschland weitestgehend unbekannten Faches Strategic Studies zielt auf die Analyse des Einsatzes und der Formen militärischer Gewalt. Bereits hieran lässt sich in Umrissen erkennen, welchen weiten Weg die dem Gegenstand fernstehende universitäre Disziplin der Internationalen Beziehungen (in Deutschland) bis zur internationalen Normalität zu gehen hätte, bevor Einsatz und Formen solcher Gewalt überhaupt als Grundannahme für die weitere Diskussion genutzt werden könnte. Obgleich dieser Aspekt wesentlich ist, weil er das immer mögliche, konfrontative Element des strategischen Umfelds betrachtet, adoptiert dieser Band ein breiteres Grundverständnis von Strategie, als die Military Studies in den Strategic Studies dies tun (Biddle 2004).11 Er sieht sich damit in der Tradition des vor allem außerhalb Deutschlands sehr lebendigen Grand-Strategy-Ansatzes, wonach der Zweck von Strategie „…, in a broader [than military] sense, …, is the rational determination of a nation’s vital interests, the things that are essential to its security, its fundamental purposes in its relations with other nations, and its priorities with respects to goals“ (Craig/Gilbert 1986, 869). Und in der Tradition der breit angelegten War Studies mit ihrer Forschung u.a. über und zu Carl von Clausewitz (Heuser 2010; Strachan 2007; Herzberg-Rothe 2007; Clausewitz 1980), auf die zuletzt der französische Präsident in seiner Rede zur Abschreckungspolitik im Februar 2020 explizit verwiesen hatte (Macron 2020). Zentral ist dabei, dass Clausewitz Krieg immer als einem politischen Zweck dienend betrachtet, dass die Politik mithin das Primat der Entscheidung besitzt und entsprechend die lang- und kurzfristigen Ziele von Machtausübung vorgibt. Nirgends spricht Clausewitz von einer logischen Folge, die Krieg zur gängigen Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln macht. Er findet hierin alleine eine realistische Beschreibung, die die nicht friedliche Auflösung politischer Antagonismen zuweilen, aber nicht zwingend im Krieg sieht. Strategie ist deshalb ihrer Natur nach nie allein auf Kriege reduziert. Für ihn durchzieht strategisches Denken, unter Einbeziehung aller einem Staat zum Schutz seiner vitalen Interessen zur Verfügung stehenden Mittel, permanent die Gesamtheit aller internationalen Beziehungen eines Staates mit anderen. Militärische Macht charakterisiert dabei wesentlich alle staatlichen Beziehungen der internationalen Politik.
Kurz: Friedenszeiten gelten sowohl dem Erhalt des Friedens als auch immer dem so wachsamen wie geschickten Vorbereitetsein auf mögliche Kriege. Dies beinhaltet strategisch abzuleitende Aktivitäten zu Friedenszeiten, die zukünftig mögliche Versuche der Gewaltanwendung, Einschüchterung und Erpressung durch andere Akteure dauerhaft, oder zumindest so weit als möglich, frustriert. Dies gilt nicht minder für sub-threshold-Aktivitäten von Staaten im Cyberraum.12
Eine übergeordnete Einsicht aus der Betrachtung Clausewitzens liegt mithin darin, dass Staatslenkern, gerade weil ihnen die strategische Grundausrichtung und Entscheidungshoheit obliegen, immer Spielräume zum Handeln offenstehen trotz limitierender aber nie gänzlich unumgänglicher, struktureller Rahmenbedingungen. Vielmehr ist dies gerade der Platz, an dem der Stratege seine Wirkungsmacht entwickeln kann und muss (Freedman 2013, ix–xvi; Jervis 1997, 204–9).
Zweitens: Die Strategic Studies sehen internationale Politik ihrer Natur nach als antagonistisch an, sowohl in anthropologischer als auch systemischer Hinsicht. Das systemische Grundbedürfnis der militärisch stärksten Mächte einer historischen Episode besteht in dem Maß an Sicherheit, das die ihnen jeweils spezifische Lebensart und die dafür notwendigen Voraussetzungen in Gegenwart und Zukunft erhält. Die Sättigung dieses fundamentalen Bedürfnisses erfordert deshalb eine historisch seltene, von allen zentralen Akteuren perzipierte Zufriedenheit mit dem Status quo. Aus der Beobachtung heraus, dass einige den Status quo als benachteiligend empfinden, während andere ihre mithin zufriedenstellend-privilegierte Position herausgefordert sehen und darauf zielen, diese entweder defensiv zu erhalten oder vorhandene Vorteile weiter auszubauen, wird unschwer deutlich, dass dem Politischen – aus der Sicht des Strategen – Konflikte immanent sind. Gegenwärtig sehen wir die Auswirkungen des weltpolitischen Streits der Großmächte um den „grand bargain“, den die ‚Pax Americana‘ seit 1990/1 voraussetzte. Chinas Regime, das das Ende des Kalten Krieg im Gegensatz zur Sowjetunion überstand, trat bereits in den 1970er-Jahren in den weltpolitischen Orbit Amerikas und sieht sich jetzt in klar konturiertem Gegensatz zu den USA (Terhalle 2015, 2019; Little 2007; Gilpin 1981; Clark 2005).
Das systemische Grundbedürfnis eines Teils der Großmächte kann damit politisch nie garantiert, sondern höchstens historisch zeitweise befriedigt sein. Für die anderen (Parteien) gilt, dass sie ihre Grundbedürfnisse häufig durch die der ersten Gruppe als dauerhaft und inakzeptabel eingeschränkt betrachten. Das heißt nicht, dass permanent unmittelbare Kriegsgefahr herrschte. Strategischer Diplomatie steht ein Konvolut an Mitteln zur Verfügung, um aus diesen divergierenden Grundbedürfnissen keine Kriege entstehen zu lassen. Das Kriegsvermeidungsinteresse der Großmächte hängt jedoch von der Existenz und Dichte eines nicht-kodierten Normensatzes und von der Zustimmung der Großmächte dazu ab. Der strategische Kern dieser Divergenzen, vitale Sicherheitsinteressen, gepaart mit dem bestimmenden Machtanspruch eines Teils der Großmächte, der „die“ internationale Ordnung“ verteidigt, lässt jedoch erkennen, welche mögliche konfrontative Dynamik diesen Divergenzen innewohnt, zumal wenn die Dichte des Normensatzes und damit der Zustimmungsgrad nicht hoch sind (Bull 1977).13 Ungeachtet ungeschriebener diplomatischer Regeln und moderner völkerrechtlicher Streitschlichtung macht diese Logik die Einsetzung einer effektiven Schlichtungsinstanz, die die Sicherheit von Staaten im (erkennbar werdenden) Konfliktfall regeln könnte, unmöglich. Ein Blick auf die Funktion des VN-Sicherheitsrats genügt. Dieser widmet sich komplexen Fragen internationaler Sicherheit, wenn auch selten mit der erforderlichen Einigkeit. Seine immanente Grenze wird aber daran erkennbar, dass er einen möglichen Krieg zwischen zwei oder mehr ständigen Mitgliedern nicht adressieren kann.
Diese Hinweise müssen nun auf die analytische Frage hinführen: Wie gelingt die Formulierung des strategischen Zweckes deutscher und europäischer Sicherheitspolitik?14 Ein früherer Vorschlag ging dahin, deutsche Interessen zu definieren. Das ist vordergründig ein (semantischer) Schritt in die richtige Richtung. Deutsche Interessen definierend festzusetzen, bedeutet aber nicht, sie entsprechend auch um- und durchsetzen zu können.15 Angesichts des Gewichts der vorwaltenden Großmächten ist Deutschland dafür erkennbar und substanziell zu schwach. Und deshalb Mitglied der NATO – ein ehemaliger Bundeskanzler nannte die Allianz nicht zuletzt die Staatsräson Deutschlands.16 Die häufig angenommene, aus der Innenpolitik und dem Völkerrecht abgeleitete Vorstellung von der Gleichheit aller involvierten Akteure trifft in strategischen Fragen, wo ungleiche Machtgewichte konsequent zum jeweils eigenen Vorteil genutzt werden, nicht zu.17
Der strategischen Bestimmung des Zwecks deutscher Machtausübung muss vielmehr eine zentrale Überlegung vorausgehen: Wie ist das geopolitische Umfeld Deutschlands bestimmt, in dem Berlin seinen strategischen Zweck bestimmen will? Denn: Deutschlands und Europas systematisch strategisch abzuwägender Handlungsspielraum und seine daraus resultierenden Handlungsmöglichkeiten werden kategorisch durch das Spannungsfeld zwischen den Großmächten Amerika, China und Russland bemessen. Das antagonistische Umfeld wird somit durch die jeweils vorherrschenden Großmächte und die interaktive Dynamik zwischen diesen bestimmt. Dabei ist für Deutschland entscheidend, welche Analyse der internationalen Sicherheitspolitik die traditionelle Schutzmacht Europas zum Erhalt ihrer Vormachtstellung, also gegenüber etwaigen Herausforderern, vornimmt. Nur aus dem so angelegten Verständnis von Amerikas militärischer Glaubwürdigkeit und seiner Kapazitätsgrenzen lässt sich erkennen, wie es tatsächlich um den militärischen Schutz deutscher und europäischer Souveränität bestellt ist. Und nur aus Amerikas Perzeption der internationalen Sicherheitspolitik lässt sich dann erkennen, welche Rolle Amerika durch die NATO zum Schutz Deutschlands und Europas einnehmen kann und will. Mit anderen Worten: Erst auf dieser Basis lässt sich so genauer bestimmen, welche Interessen vital sind, was dies für die deutschen Vorschläge für die Ausgestaltung des militärischen Schutzes Europas bedeuten muss und was somit „mehr Verantwortung“ (Gauck) bei ihrer Implementierung eigentlich impliziert. Dies impliziert, was die Europäer selbst aktiv tun müssen, um nicht Zuschauer eines mitunter rücksichtslosen Wettkampfs zu werden. An dieser Stelle müssen heute die großen strategischen Fragen europäischer Positionierung beginnen.
Der realistisch erst durch diese Kontextualisierung zu erkennende, strategische Zweck deutscher und europäischer Strategie wird nun deutlich: Dieser liegt in der Gewährleistung des Schutzes der vitalen Grundlagen der Sicherheit, des Wohlstands und der „Lebenswelt“ Europas (Gauck 2014).18 Was zunächst naheliegend erscheint, hat drei wichtige Konsequenzen. Da Strategie, erstens, den Kern von Interessen als vital herleitet, können andere Interessen, die nicht die Grundlagen seiner Existenz betreffen, nicht Prioritäten abbilden. Die Handlungsnotwendigkeiten, die sich zweitens aus dieser Vermessung des Spielraums ableiten, sind der Kern deutscher und europäischer Strategieplanung.19 Erst am Ende dieser strategischen Bestimmung des politischen Zwecks deutscher und europäischer Macht steht die Frage nach der Beschaffenheit militärischer Kapazitäten.
In strategischen Ansätzen sind Spitzenpolitiker die wesentlichen Akteure bei der Ausgestaltung sicherheitspolitischer Entwicklungen in internationalen Ordnungen. Die anthropologische Sicht der Strategic Studies komplementiert deshalb das antagonistische Fundament des Faches. Kurzgefasst hat Hans Morgenthau dies als den „animus dominandi“ bezeichnet, ob reflektiert im Streit um mehr Macht oder um den befürchteten Verlust von Macht (1946, 192–6; Weber 1919, 8). Der antagonistisch ausgefochtene Wille zur Macht ist damit eine Grundkonstante strategischen politischen Handelns, insbesondere außerhalb von Sicherheitsgemeinschaften wie der EU und der NATO. Die menschliche Natur kann dabei durchaus kooperationsfähig sein, zumal dann, wenn historische Erfahrungsrahmen, gleichviel wie blutig in der Vergangenheit erkämpft, eine Zahl von Völkern politisch, kulturell und wirtschaftlich besonders eng und deshalb friedlich verbinden. Kooperation über diese Verbindungen hinaus ist möglich und realpolitisch notwendig, aber aus der genannten systemischen Logik stets anfällig und aus der anthropologischen Logik immer durch Machtstreben limitiert. Das ist es im Kern, was Strategen meinen, wenn sie von Vakuen sprechen, die in der internationalen Politik nie längerfristig bestehen bleibt.
Die Interessenlage potenzieller strategischer Antagonisten wird weiter kompliziert durch die historisch ungleichzeitige, variierende Zu- und Abnahme der materiellen Stärke zentraler Mächte sowie Veränderungen ihrer ideologischen Ausrichtung. Gerade weil benachteiligte Großmächte, in unterschiedlichem Maße, ihre Position, ihr Sicherheitsbedürfnis zu verbessern suchen und andere dies umgekehrt aus Furcht vor Machtverlust verschiedentlich konterkarieren und/oder ihre bessere Sicherheitslage unabhängig davon weiter ausbauen wollen, sehen die Strategic Studies die menschliche Natur als permanent anfällig für die Versuchungen der Macht an.
Und drittens: Das Konzept des Sicherheitsdilemmas steht auf den Fundamenten dieser anthropologischen und systemischen Grundannahmen (Booth/Wheeler 2018; Jervis 2017, 1978; Butterfield 1951; Herz 1950). Strategen gilt dieses Dilemma internationaler Politik als unauflöslich, dem Fach Strategic Studies liegt es als zentrales Konzept zugrunde.
Indem das Sicherheitsdilemma die inhärente Unsicherheit, die über die Perzeption der strategischen Intentionen anderer Staaten psychologisch permanent (und unauflöslich) besteht, in seinen Mittelpunkt stellt, hebt es das zentrale Dilemma der Sicherheitspolitik heraus: Neue, taktische und strategische Waffensysteme werden von Staaten als defensiv ausgerichtet bezeichnet, hingegen von nicht-verbündeten, anderen Staaten als offensiv perzipiert. Somit wird die Unterscheidung defensiv-offensiv eine psychologische Perzeptionsfrage (Jervis 2017, 1978; Yarhi-Milo 2014). Und selbst dort, wo militärische Spezialisten die Unterscheidung technologisch ausweisen können, können sie die mögliche Intention nie ausschließen, dass defensive Waffensysteme ohne grosses Aufhebens in Kombination mit offensiven Systemen eingesetzt werden können. Defensive Schutzschilde, konventioneller wie nuklearer Art, sind deshalb für solche Kritik immer anfällig – und enthüllen gleichzeitig die zynische Doppelbödigkeit des nicht-verbündeten Kritikers.
Unsicherheit über zukünftige gegnerische Intentionen in einer parteiisch bevorteilenden (und deshalb immer umstrittenen) Ordnung ist damit der entscheidende Grund, warum das Erkennen der Intentionen von Konfliktgegnern inhärent schwierig ist. Im Umkehrschluss lässt sich damit eine weitere, zentrale Einsicht der Strategic Studies formulieren. Gerade weil das Sicherheitsdilemma unauflöslich in die internationale Politik eingewoben ist, entscheidet das ökonomisch befreundete Machtgewicht sowie die politisch so geschickte wie robuste Nutzung glaubwürdiger militärischer Abschreckungsmacht, nicht der sporadische Einsatz militärischer Gewalt, darüber, welches strategische Standing ein Staat in den Augen nicht-verbündeter Länder in der Welt und, im besonderen, in den Augen der Mitglieder eines Bündnisses hat – und haben will. Die Notwendigkeit zur Strategiebildung ist damit wegen des Sicherheitsdilemmas unerlässlich.20
Ausgehend von diesen Grundannahmen der Strategic Studies zur Beschaffenheit der Weltpolitik, legt der Text nun in verkürzter Form drei Verständnisse von Strategie dar, die von diesen Annahmen ausgehen und zusammengenommen den Zugang zur Analyse von Strategie und zum Machen von Strategie ermöglichen.
Drei Verständnisse von Strategie für Entscheider
Henry Kissingers Verständnis von Strategie als Weltordnungspolitik beruht auf der Annahme, dass Strategie von einer klaren Konzeption der Zukunft abhängig ist. Carl von Clausewitz’ Denkmodell besteht aus explizit non-linearen Strategiedynamiken. Und Lawrence Freedman legt dar, dass Strategien als Entscheidungsprozesse durch kognitionspychologische Logikmodelle operieren. – Zusammen mit den drei vorgenannten Grundannahmen ermöglichen diese Ansätze wesentliche Vorteile bei der Entscheidungsfindung, gerade weil sie Regierungschefs/-mitgliedern und ihren engsten Beratern in einer ansonsten undurchdringlich komplexen Weltpolitik analytisch festen Überblick gewähren. Der so gewonnene, antizipierende Blick erlaubt es dem Entscheider, mit seiner Strategie Entwicklungen aktiv, nicht reaktiv, zu beeinflussen. Mit anderen Worten: Die drei Ansätze geben Entscheider den roten Faden an die Hand, der ihnen – ohne diese konzeptionellen Hilfsmittel – mit grosser Wahrscheinlichkeit aus der Hand genommen wird.
Henry Kissinger: Weltordnungspolitik als Strategie, Strategie als Konzeption der Zukunft
Weltordnungen und die Einflusssphären der Großmächte werden sicherheitspolitisch durch das Ende von Kriegen bestimmt (zuletzt: Kalter Krieg). Weltordnungen bevorteilen deshalb, wie angedeutet, zumeist eine Gruppe (die Sieger), womit andere, schwächere Akteursgruppen (die Verlierer) inhärent benachteiligt werden. Ordnungen sind somit für gewöhnlich einige Zeit lang stabil. Weil sie aber keine abstrakten Strukturen sind, sondern von, naturgemäß nie objektiven, Strategen im Sinne einer zu einem bestimmten Zeitpunkt stärksten Gruppe erdacht wurden und in deren Machtverständnis adaptiv konserviert werden, bevorzugen Ordnungen immer einige und gereichen anderen, unterschiedlich stark, zum Nachteil (Kissinger 2014; Terhalle 2015).21 Das heißt nicht, dass die Sozialisation eines ehemaligen Gegners in das eigene Lager nicht gelingen kann, zumal nach einem Krieg. Japan, Deutschland und Italien sind hier Beispiele aus der Zeit nach 1945. Auch schließt diese Annahme Möglichkeiten realpolitischer oder politikfeldbezogener Kooperation verschiedentlicher Intensität keineswegs a priori aus.
Das Sicherheitsdilemma aber, das der scheinbar stabile Status quo beinhaltet, bleibt der Weltpolitik immanent. Ohne akzeptierte Einflusssphären, die durch realpolitische Diplomatie unter den Großmächten auf Kosten kleinerer Staaten (nach-)verhandelt werden können, kann sich der geopolitische Revisionismus der unterlegenen Gruppe radikalisieren, auch wenn dies abhängig ist vom Grad der Dominanz der gegebenen Machtverhältnisse. Wie unterschiedliche Logiken der Radikalisierung von Revisionismus funktionieren, kann man im übrigen zu Genüge an der deutschen Geschichte studieren und dann – reflektiert – auf die Gegenwart (RUS, CHI) anwenden. In welchem Kontext und in welchem Mass sind Abschreckung, Konfrontation, Rapprochment oder Appeasement angebracht, in welchem bewirkt der Einsatz des jeweiligen Instruments das Gegenteil; wie bestimmt man strategisch den Grad von Abschreckung, Konfrontation, Rapprochments oder Appeasement? Fragen, die heute meist unausgesprochen, selten ausgesprochen (Macron 2019, 2020) der Debatte über die Zukunft der NATO zugrundeliegen.22
Für Kissinger ist deshalb alles strategisches Planen von der Formulierung einer Konzeption der Zukunft der internationalen Politik abhängig. Die Notwendigkeit hierzu begründet er damit, dass Strategie – wiewohl informiert von der Historie – immer an der Schwelle von der Gegenwart in eine ungewisse Zukunft hinein operieren muss. Die strategische Konzeption der Ordnung hält dabei Grundpfeiler und Kernziele der Zukunft fest, für die die Strategie anpassbare Optionen zu ihrer Erreichung anbieten muss. Sie tut das, indem das langfristige Ziel einer bestimmten Ordnung und deren Konturen strategisch im kurz- und langfristigen außenpolitischen Handeln als roter Faden reflektiert sein muss.
Kissinger sieht hierfür die Trias aus Instinkt, Urteilsvermögen und das Handeln im richtigen Augenblick als zentral an. Der feine Instinkt für erste Konturen sich undeutlich anbahnender, neuer Gelegenheiten zum weltpolitischen Manövrieren ist von enormer Bedeutung, da er dem Strategen anzeigt, wie nützlich die jeweilige Gelegenheit zur Erreichung der Zukunftskonzeption ist. Nur hierin liegt für ihn die Kunst des Möglichen. Nur so können Strategen, die qua natura nie mit vollständiger Information über und Kenntnis von der Zukunft ausgestattet sind, Gelegenheiten zum Handeln erkennen. Weit bevor andere die neuen Konturen begreifen, leitet der Instinkt so das Urteilsvermögen des Strategen an und eröffnet ihm Wahlmöglichkeiten (Kissinger 2019, 4–5; 1957, 324–30).23
Strategie hingegen, die „realistisches“ Zeitverständnis mit ‚unter den gegebenen Bedingungen möglich‘ gleichsetzt und dies fälschlicherweise als Bismarcks ‚Kunst des Möglichen‘ simplifiziert, missversteht gerade die Natur zukunftsorientierter Strategie.24 Deshalb insistiert Kissinger, dass Instinkt und Urteilsvermögen leitend sein müssen, da der Zeitpunkt, zu dem sich die Ungewissheit über die unklaren Konturen aufgelöst hat, auch der Zeitpunkt ist, an dem der Stratege die Dinge nur noch selten wesentlich in seinem Sinn beeinflussen kann. Leiten hingegen Instinkt und Urteilsvermögen den handelnden Strategen, hat er den notwendigen Spielraum, um den besten Zeitpunkt seines strategischen Handelns selbst zu bestimmen. Um dieser (im Kern bis heute unveränderten) Problematik zu begegnen, bedarf es
„[the] ability to project beyond the known. And when one is in the realm of the new, then one reaches the dilemma that there is really very little to guide the policymaker except what convictions he brings to it. … Every statesman must choose at some point between whether he wishes certainty or whether he wishes to rely on his assessment of the situation. … If one wants demonstrable proof one in a sense becomes prisoner of events“ (Kissinger zit. in Ferguson 2015).25
Ein aktiver nationaler Sicherheitsberater muss diese strategischen Qualitäten besitzen, um den Entscheidungsträger trotz nie vollständiger, geschweige denn gerichtsfester Informationslage mit passenden Optionen zum Führen durch Handeln zu bewegen. Es ist deshalb naheliegend, dass Kissinger dem aktiven, resoluten Strategen und Tatmenschen den Vorzug gibt, weil er nur durch ihn die Möglichkeit gegeben sieht, den jeweils instinktiv erkannten Spielraum erfolgreich zu nutzen: „Both sides of the Atlantic would do well to keep in mind that there are two kinds of realists: those [experts] who use facts and those [strategists] who create them” (Kissinger 1965, 249).26 Nationale Sicherheitsberater, die das realistisch Mögliche allein am gegenwärtig Erkennbaren ausrichten und dementsprechend grundsätzlich zurückhaltendes Handeln empfehlen, sieht Kissinger konsequenterweise nicht als geeignet an.27
Der Wille zum Handeln, der solcher strategischen Initiativkraft zugrunde liegt, muss dabei alle einem Strategen zur Verfügungen stehenden, sich potenziell bietenden und zuweilen manipulierbaren Mittel nutzen. Josep Borrell, der EU-Außenbeauftragte, implizierte dies Anfang 2020, als er von einer neuen weltpolitischen Realität sprach, bestehend aus „issue linkage“ und „raw power politics“, „[where] we see economic tools, data streams, technologies, and trade policies used for strategic ends.“ Dabei spiegelt der bei der praktischen Umsetzung des strategischen Urteilsvermögens gewählte Stil die an der Zukunftskonzeption orientierte, scharfsichtige Entschlossenheit des Strategen wider. Zu den Formen dieses gegenüber nicht-verbündeten Staaten angewandten Stils gehören nicht nur aber auch Chuzpe, Finesse sowie „Wachsamkeit, Kampfbereitschaft und Kaltschnäuzigkeit“ (Schwarz 1985, 165; s.a. Welch 2005, 8–9).
Carl von Clausewitz: Denkmodell Strategiedynamiken
Clausewitzens in der Forschung heute unbestritten am meisten anerkannte Leistung besteht darin, nicht-lineare und reziproke Wirkungsdynamiken in Konfliktsituationen erkannt zu haben. Seine „wunderliche Trinität“ des Krieges aus Gewalt, Zufall und politischem Zweck legte dabei den Grundstein seiner Theorie von und für Strategie. Er hinterfragte einfache Ziel-Wirkung-Annahmen, die sich auf seinerzeitige (und auch heute anzutreffende) rationalistische Kalkulationen der vorhandenen Mittel in Bezug zur Erreichung von Zwecken beriefen. Er formulierte dadurch einerseits ein Verständnis für die Akzeptanz von Zufällen und für die reziproke Dynamik diplomatisch-militärischer Konfliktentwicklungen sowie andererseits die begrenzte Steuerungsmöglichkeit beider durch eine exakte politische Zielbestimmung im Sinne eines Plans. Friktionen werden vielmehr qua natura von eben dieser Trinität generiert und erschweren in erheblichem Maße die kognitive Greifbarkeit und analytische Beantwortung ihrer diffusen und komplexen Dynamik untereinander durch den Strategen (Freedman 2013, Kap. 7; Herberg-Rothe 2017, Kap. 7).
Clausewitz war sich somit des unweigerlichen Problems strategischer Unvorhersehbarkeit in Konflikten bewusst, verneinte aber stringent, dass dies zu einer tabula rasa führen müsste. Er insistierte vielmehr, dass (Donald Rumsfelds) unkown unknowns immer nur ein Teil der Planung waren. Auch Gegner (und Feinde) waren – und sind – gleichermaßen der Logik jener Friktionen ausgesetzt, die der Trinität von Konfliktdynamiken innewohnten. Er sah deshalb Erschütterungen der Zielplanung als gegeben an und inkorporierte Planungen für Eventualitäten in sein Denken. Trotz dieser manifesten Ungewissheit, so wies er Strategen an, waren übergeordnete Ziele mit Beharrlichkeit zu verfolgen, indem Einschränkungen des Handelns durch adaptives Verhalten aufzulösen war. Ein deutscher General (Moltke, der Ältere) sollte dies später so fassen: „Die Strategie ist die Fortbildung des ursprünglich leitenden Gedankens entsprechend den stets sich ändernden Verhältnissen“ (zit. in Herberg-Rothe 2017, 180). Kissinger würde anstatt des ‚leitenden Gedankens‘ seine Konzeption der Zukunft setzen.
Lawrence Freedman: Strategie als Entscheidungsprozesse der Kognitionspsychologie
Die moderne Strategielehre setzt hier an und analysiert Entscheidungsfindungen in weitgehend, aber nicht vollständig unwägbaren Kontexten. Sie erkennt die für Entscheider unausweichliche Schwierigkeit an, im Jetzt dieser Unsicherheit Strategien für das unklare Morgen liefern und adaptiv implementieren zu müssen. Spannungen zwischen kurz- und langfristiger Planung für komplexe Kontexte sind dabei dem Blick auf die kognitiven Anforderungen an Strategen immanent.
Freedman argumentiert, dass politische Strategen ihre Entscheidungen für eine Option und gegen andere auf einer dualen Logik aufbauen. Er importiert die wissenschaftliche Disziplin der Kognitionspsychologie in die Strategic Studies und zeigt, dass zwei Logiksysteme im Entscheider miteinander rivalisieren. Das erste sind tief sitzende Stereotype, die von lebensalterbedingten Erfahrungen, Perzeptionen und Interessen individuell geprägt sind und eine zumeist feste Weltsicht hervorgebracht haben, die die Sicht auf die Zukunft wesentlich bestimmt (System 1). Diese Stereotype brechen intuitiv und sekundenschnell komplexe strategische Situationen kognitiv herunter und projizieren sie durch die eigene Weltsicht als konkretes Handeln in die Zukunft. Das zweite System kann als Korrektiv fungieren, indem es die Angemessenheit des Stereotyps für den akuten Kontext prüft. Dieses System betont das rationale Element der Strategieauswahl, wobei es neuronal auf die simultane Kontextualisierung von höchstens sieben Faktoren begrenzt ist (Freedman 2013, 601). Nicht nur, aber auch deshalb dominiert es das erste System keineswegs verlässlich. Im Gegenteil, das erste Logiksystem prägt die unmittelbare Perzeption und lässt sich, nicht zuletzt unter Zeitdruck, nur mühsam durch das zweite revidieren. Im günstigen Fall, dass es sich durchsetzt, kann es ein visionäres Narrativ für die Zukunft schaffen, das den Charakter der Gegenwart kennt und die jeweilige Anhängerschaft innerhalb des bürokratischen Apparats erreicht sowie in der Bevölkerung mobilisiert. Falls die Korrektivfunktion misslingt, kann die intuitive Anwendung des hergebrachten Stereotyps trotzdem vollkommen treffsicher sein – oder aufgrund veränderter Kontexte zu potenziell nachteiligen Analogieschlüssen führen (Freedman 2013, Kap. 38; Kahneman 2011).
Während Freedman allerdings die Funktion der Strategic Studies ausschließlich aus der Perspektive des praxisnahen und auskunftswilligen Forschers betrachtet und andere Autoren zumeist die Sicht der häufig als – unausgesprochen – überlegenen, da reflektierteren Bürokraten im Sinne von System 2 annehmen, wählt dieses Buch einen dritten Weg. Und zwar aus folgendem Grund. Die Logiksysteme 1 und 2 interagieren, jedoch ist das erste eindeutig das stärkere Element, just weil es sich auch ohne und gegen den Rat von System 2 durchsetzen kann. Der Schlüssel liegt deshalb darin, vom Entscheider her zu denken, also das System 1 des jeweiligen Entscheiders minutiös zu kennen und es, wenn möglich, mit System 2 zu verknüpfen. Bei System 1 anzusetzen, das in der Person des Regierungschefs letztlich immer das schwerer zu beeinflussende aber entscheidende sein wird, und nicht bei System 2, scheint deshalb den realitätsnäheren Ansatz zu versprechen.
Aufbau des Buches
Der Band gliedert sich in vier Teile, die durch zwei Charakteristika zusammengehalten werden. Das erste Kennzeichen des Buches liegt darin, dass es die traditionell praktisch-empirische Herangehensweise der Strategic Studies wesentlich konzeptionell untermauert. Dies nicht, um das Fach unnötig zu akademisieren, als vielmehr die antizipierende Perzeptions- und Analyseschärfe des Entscheiders mittels konzeptioneller Grundlagen zu verbessern.
Das zweite Kennzeichen ist, dass der Verfasser nicht zuletzt aufgrund eigener mehrjähriger, praktischer Erfahrung in der nationalen und internationalen Sicherheitspolitik regelmäßig bewusst die Nähe zur nationalen, europäischen und internationalen Strategiediskussion als Alleinautor oder Co-Autor gesucht hat. Er sieht die Intellektuellen, wohlgemerkt eines freien Landes, deshalb nicht nur in der Pflicht, ihr komplexes Wissen von Strategiebildung dem Gemeinwohl nutzbar zu machen, sondern hält es auch für notwendig, dass sie dieses Entscheidern (und ihren Vor- und Nachdenkern) bündig und lesbar zugänglich machen.28 Deshalb finden sich in diesem Band einerseits wissenschaftliche Artikel wieder, die konzeptionelle Vorarbeit leisten und systematisch auf zentrale Fragen von Gegenwart und Zukunft eingehen sowie andererseits Kommentare und Policy-Analysen aus verschiedenen deutschsprachigen Zeitungen und englischsprachigen Journalen.
Diese Einleitung und weitere sechs Kapitel sind bisher unveröffentlichte Ausarbeitungen, die übrigen Kapitel stellen Wiederabdrucke jüngerer Publikationen dar.
Der erste Teil, „Grundbegriffe strategischen Denkens“, baut auf den Konzeptionen auf, die in dieser Einleitung gedrängt vorgestellt wurden. Es vertieft weitere wesentliche Konzeptionen der Strategic Studies und analysiert, wie sinnvoll über Handlungsspielräume praktischen strategischen Handeln nachgedacht werden kann. Dies erscheint angesichts der gängigen, für selbstverständlich gehaltenen Konstatierung der Verteidigung nationaler Interessen notwendig.
Der zweite Teil, „Analytische Einzelaspekte der Strategic Studies“, behandelt vor dem Hintergrund der neuesten internationalen Forschung Themenkomplexe wie Cyber und AI, Containment, Revisionismus, internationale Ordnung, Realpolitik und geheimdienstliche Arbeit.
Der dritte Teil, „Strategische Praxis und deutsche Sicherheitspolitik“, reflektiert die als staatsbürgerliche Pflicht des Wissenschaftlers angesehene Notwendigkeit, seine Forschungsergebnisse praxisnah publizistisch einzubringen. Dieser Teil bietet konkrete Vorschläge zu den gegenwärtigen Umbrüchen der Weltordnung. Die hierfür gewählten Formate sind internationale Policy-Journale und deutsche Tageszeitungen.
Der vierte Teil, „Strategic Studies als ‚black elephant‘29 der deutschen ‚Internationalen Beziehungen‘“, beschäftigt sich mit der bis heute nicht erreichten Institutionalisierung der systematischen Analyse strategischen Denkens an deutschen Universitäten. Der Ruf von Bundespräsident Joachim Gauck von 2014, der diesen weißen Fleck genau markierte, ist längst verhallt. Der öffentliche Resonanzboden für strategische Debatten endet deshalb bis heute an den Eingangstoren politikwissenschaftlicher Institute. Dass „wir … heute Zeugen einer zunehmend destruktiven Dynamik der Weltpolitik“ sind, wird dort im Idealfall schulterzuckend gesehen, aber nicht systematisch universitär aufgearbeitet (Steinmeier zit. in FAZ 2020). Strategie und ihr Studium sind der black elephant, den der Singapurer Spitzenbeamte Peter Ho kognitionspsychologisch sehr treffend in einem anderen Zusammenhang so beschrieben hat (2017): „The black elephant is a problem that is actually visible to everyone, but no one wants to deal with it, and so they pretend it is not there.“ – Die diesbezüglichen Defizite lassen sich durch eine genaue Betrachtung und Kritik des Global-Governance-Mainstreams innerhalb einer sich selbst so bezeichnenden Disziplin der „professionellen Internationalen Beziehungen“ untersuchen, die seit den 1990ern übergreifend die Disziplin dominiert haben. Das Buch zeigt anhand der Themenfelder Macht und Praxisferne, worauf die Defizite der „IB“ beruhen und welche Desiderata dies offensichtlich gemacht hat. Dieser Band setzt mittels der in Deutschland fast vollständig außer Acht gelassenen Strategic Studies genau hier an.
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1 Dass die in ihrer Breite und Tiefe bilateral einzigartigen, offiziellen Konsultationen zwischen Frankreich und Deutschland, inklusive gemeinsamer Kabinettssitzungen, über Jahrzehnte hinweg keinen Sozialisationseffekt auf deutsche Teilnehmer in Sachen Strategie gehabt haben, bleibt dabei mindestens bemerkenswert.
2 Die letzten fünf Absätze sind, leicht modifiziert, einem Kommentar von General a.D. Klaus Naumann und diesem Autor entlehnt (2019).
3 Dies trifft nicht unwesentlich auf die für systematische Strategiedebatten notwendigen, universitären Echokammern zu. Diese existieren, mit ganz wenigen Ausnahmen, bis heute nicht. Einen Grund nannte mit bemerkenswerter Scharfsicht Andrew Hurrell, Doyen der Oxforder Internationalen Politik: „Habermas’s work is inexplicable outside of the social, political and historical consciousness of Germany“ (2011).
4 Die Darlegung hier geht analytisch substanziell über den (zu engen) Rahmen bei Baylis und Wirtz (2019) hinaus. – Als Klassiker der Strategic Studies können u.a. folgende Werke gelten: Luttwak (2003); Gaddis (2018); Gray (2016); Windsor (2002); Freedman (2013, 2019); Heuser (2010). Neuere Literatur findet sich u.a. bei Milevski (2016).
5 Es ist deshalb genau jene „unrivalled capacity to think conceptually and analytically about the international system as it evolves“, die Henry Kissinger selbst über 40 Jahre nach seinem offiziellen Rücktritt als Außenminister 1977, wie Niall Ferguson (2015) bemerkte, weiterhin zum hochgeschätzten Berater von Regierungen macht.
6 S.a. Epstein 2019, 49; Bew 2016, 155; Hurrell 2007, 20; Nipperdey 1986, 14.
7 Dass solche Unübersichtlichkeit durchaus gewollt sein und machiavellistisch genutzt werden kann, weil sie der Regierungsspitze Raum gibt, die Entscheidungsfindung individuell zu gestalten, ist dabei als naheliegend anzumerken.
8 Inbegriffen in solches konzeptionelles Denken ist qua natura die Notwendigkeit des Strategen, sich trotz aller Unwägbarkeit in die Haltung anderer, zumal gegnerischer Staaten hineinzuversetzen, um dessen/deren Motive besser einschätzen zu können. Allerdings gibt es zwei Grenzen hierbei. Zum einen darf die langjährige, intime Kenntnis einer anderen Sicht auf strategische Interessen nicht dazu führen, diese Perzeption als authentisch zu betrachten, weil sie die eigene Wahrnehmung infrage stellt. Die Gefahr eines solchen Prozess des „going native“ wird weiterhin dadurch erhöht, dass gezielte Täuschungen und Lügen wesentlich jene Schwierigkeiten befördern, die akkurates strategisches Perzeptionsvermögen ohnehin behindern.
9 Gaddis 2018, Kap. 1; Kahneman 2011, 219. – Auch der bemerkenswerte „read to lead“-Ansatz des französischen Präsidenten, der sich eine Stunde pro Tag für die lesende Reflektion reserviert, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass allgegenwärtiger Zeitdruck vertieftes Studium und Reflektieren in Fragen von Strategie gleichsam unmöglich macht.
10 Das heißt nicht, dass ein Land nicht mehrere außenpolitische Identitäten hat, inklusive einer pazifistischen. Es zeigt vielmehr, dass die glaubwürdige Teilnahme am machtpolitischen Wettkampf internationaler Politik und dessen tatsächliche Beeinflussung ohne eine strategische Kultur nicht realistisch ist.
11 Kissinger, Clausewitz und den Wiener Kongress denkend, beschreibt die notwendigerweise unauflösliche Verbindung zwischen militärischem Planen, Psychologie und politisch-ökonomischer Strategie so (1957, 422): „A separation of strategy and policy can only be achieved to the detriment of both. It causes military power to become identified with the most absolute applications of power and it tempts diplomacy into an over-concern with finesse. Since the difficult problems of national policy are in the area where political, economic, psychological and military factors overlap we should give up the fiction that there is such thing as ‚purely‘ military advice.“
12 S. hierzu das Kapitel „Cyber, AI, and Strategy-making“.
13 Siehe Hurrell (2007, Kap. 2) für den sog. pluralistischen Rahmen weltpolitischer und strategischer Analyse (vs. den solidaristischen).
14 Die nächsten drei Absätze sind einem Artikel dieses Autors entlehnt (2019).
15 Während der durch das Weißbuch der Bundeswehr von 2006 ausgelösten Debatte über ‚deutsche Interessen‘ machte der Friedensforscher Klaus Naumann (2008, 28–30) richtigerweise darauf aufmerksam. Eine konzeptionelle Begründung lieferte er nicht.
16 Helmut Kohl.
17 Klassisch dazu der Melier-Dialog in Thukydides’ Geschichte des Peloponnesischen Kriegs (5. Buch, LXXXIV – CXIV, bes. LXXXIX, CV).
18 S. hierzu auch die wichtigen Anmerkungen bei von Alten (1994, 135) und Kissinger (1965, 160–1).
19 Gernot Erlers “Weltordnung ohne den Westen“ (2018) übersieht trotz des vielversprechenden Untertitels „Europa zwischen Russland, China und Amerika“ genau diese Begrenzung europäischen Handlungsspielraums.
20 Die Gefahren wie die Möglichkeiten, denen AI-unterstützte Strategiebildung im Cyberraum entgegentritt/begegnet (u.a. Greenberg 2019; Nye 2016; Libicki 2007), werden ausführlich im Kapitel „Cyber, AI, and Strategy-making“ behandelt.
21 Eine abgewogene Kritik findet sich bei Hurrell (2015).
22 Und die den Kern einer ausgiebigen Privatunterhaltung des Autors mit Henry Kissinger 2019 bildeten.
23 An dieser Stelle wird der gewichtigste Unterschied von Strategie als Beruf zu Webers Politik als Beruf besonders deutlich. Webers bekanntes Diktum der Politik als „starkes langsames Bohren von harten Brettern“ (1993, 67), das er im Folgesatz eher zurückhaltend einschränkt, wohnt eine status-quo Bias inne. Obschon Stabilität ein grundlegendes, adaptiv zu erreichendes Ziel von Strategie darstellt, ist das intuitive und wache Ergreifen von Gelegenheiten zum strategischen Handeln nicht mit einem grundsätzlichen Verständnis von Politik als ‚Bohren harter Bretter‘ zu vereinbaren.
24 Zu Bismarck: Gall 1980, 23, 127–8, 729.
25 Kissinger nannte dies ‚the problem of conjecture‘.
26 Neben anderen sind hier Isaiah Berlins Klassiker „The Sense of Reality“ und „Political Judgment“ (1996, 1–53) einschlägig.
27 Bemerkenswerterweise kritisierte Friedrich Merz genau dies nicht anhand des Sicherheitsberaters der gegenwärtigen Bundeskanzlerin, sondern an ihr selbst. Wenn auch allgemeiner auf Politik bezogen, trifft seine Aussage auf Strategie zu: „Frau Merkel hat gesagt, Politik bestehe aus dem, was möglich ist und da widerspreche ich ernsthaft. Man muss in der Politik etwas möglich machen und etwas möglich machen wollen.“ Und fügte hinzu, nur dies stelle Führung in der Politik dar (zit. in FAZ 2019a).
28 Michael Doyle, neben seiner Tätigkeit als Professor bei Columbia University ausgewiesener Langzeitberater der Vereinten Nationen, brachte dies dem Autor gegenüber 2008 als Ansporn so auf den Punkt: „Ich habe das selten geschafft. Aber wenn Du richtig gut sein willst, musst Du in der Lage sein, Dein Wissen nicht anlassbezogen auszurichten, sondern anlassbezogen Wissen abrufen und anwenden zu können. Dazu gehört insbesondere, Dein Wissen mit 600 Wörtern auf den Punkt zu bringen.“
Um die mitunter nicht-existente Beziehung zwischen Politik und diesbezüglichen Wissenschaftsdisziplinen wissend, ermunterte der Autor dieses Buches Auswahl-, Tenure-track- und Stiftungskommissionen, erfolgreiche Beispiele der Einflussnahme auf praktische Strategiebildung als gleichgewichtige Kernkriterien bei der Auswahl/Beförderung einzuführen (Terhalle 2016; ähnlich Walt 2012, 41).
29 Ho rekurriert auf Hassem Talebs ‚black swan‘ und spinnt den Faden von dort aus ideenreich weiter: „The black elephant is the evil spawn of our cognitive biases. It is a cross between a black swan and the proverbial elephant in the room. The black elephant is a problem that is actually visible to everyone, but no one wants to deal with it, and so they pretend it is not there. When it blows up as a problem, we all feign surprise and shock, behaving as if it were a black swan“ (2017).