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Winter

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Es hatte aufgehört zu schneien, aber an den Straßenrändern türmten sich graue Schneeberge, während der Boden von einer rutschigen Eisschicht überzogen war. Mein Atem hinterließ kleine Wolken in der Luft, während ich über den Bürgersteig hastete, um den Schulbus noch rechtzeitig zu erreichen. Ich war etwas nervös – Untertreibung des noch so frischen Jahres! In Wahrheit schlug mir mein Herz bis zum Hals und meine Hände waren in meinen Handschuhen feucht, aber nicht vor Anstrengung, sondern aus lauter Angstschweiß. Ich war zuletzt vor drei Monaten in der Schule gewesen. Vermutlich wusste bereits jeder, dass ich in der Psychiatrie gewesen war. Wenn dann auch noch die Anklage von Eliza wegen Mordes dazukam, konnte ich mich auf etwas gefasst machen. Am liebsten wäre ich gar nicht in die Schule gegangen. Ich hatte meinen Eltern versucht glaubhaft zu machen, dass ich eine schlimme Erkältung hätte und deshalb unmöglich in die Schule gehen könnte. Aber ich war eine deutlich schlechtere Schauspielerin als Eliza und sie hatten mich sofort durchschaut. Trotzdem waren sie bestürzt gewesen, denn ich gehörte nicht zu den Mädchen die regelmäßig Schule schwänzen. Eigentlich hatte ich damit erst begonnen, seitdem Eliza zurück in Wexford war.

Ich sah den Bus mit laufendem Motor an der Haltestelle stehen und beschleunigte meine Schritte, was auf dem gefrorenen Boden einer Rutschpartie glich. Außer Atem sprang ich in die geöffnete Tür. „Danke!“, keuchte ich dem Busfahrer entgegen, der offenbar auf mich gewartet hatte. „Danke nicht mir, sondern deinem Freund“, grinste er und deutete auf einen Jungen mit grauer Mütze, der direkt hinter der Fahrerkabine stand: Lucas. „Er hat mir gedroht die Notbremse zu ziehen, sollte ich es wagen ohne dich loszufahren“, scherzte der Mann amüsiert. „Nun setzt euch aber!“

Lucas lächelte mich unsicher an. Er hatte ein schönes Lächeln, das bis zu seinen blauen Augen reichte. Früher hatte ein Blick in sein Gesicht genügt, damit meine Beine zu Gummi wurden und mein Bauch Purzelbäume schlug, aber jetzt tat es einfach nur weh ihn anzusehen. Vielleicht gab er sich tatsächlich Mühe, aber ich fühlte mich von ihm genauso verraten und im Stich gelassen, wie von allen anderen auch.

„Danke“, murmelte ich und drängte mich an ihm vorbei.

„Dieselben Plätze wie immer?“, fragte er hoffnungsvoll. Normalerweise saßen wir immer im hinteren Bereich in einer Zweierbank auf der rechten Seite. Ich schüttelte den Kopf und sah ihn ernst an. „Ich würde lieber alleine sitzen.“ Zur Bekräftigung setzte ich mich direkt hinter den Busfahrer und wand mein Gesicht der Fensterscheibe zu. Ich spürte wie er für einen Moment neben mir verharrte, aber dann weiter durch den Bus ging. Nur für einen Augenblick hatte ich befürchtet, dass er meine Bitte ignorieren würde. Ich lehnte meinen Kopf gegen das kühle Glas der Scheibe und schloss die Augen. Obwohl es Lucas war, der mich betrogen, belogen und benutzt hatte, empfand ich ihm gegenüber ein schlechtes Gewissen. Es fiel mir nicht leicht ihn abzuweisen, während er sich so bemühte. Aber der Gedanke so zu tun, als wären wir immer noch Freunde, tat noch viel mehr weh.

Vor dem Eingang der Schule strömten die Massen an Schülern wild durcheinander. Es war der erste Tag nach den Ferien und alle hatten sich viel zu erzählen. Ich sah überall hin und gleichzeitig versuchte ich die Blicke mit denen ich bedacht wurde, auszublenden. So bemerkte ich Dairine erst, als ich aus dem Bus stieg und beinahe direkt in sie hineingelaufen wäre. Sie musste auf mich gewartet haben, denn nun breitete sie ihre Arme aus und zog mich in eine feste Umarmung. Ich atmete den Geruch ihres Apfelshampoos ein und freute mich tatsächlich sie zu sehen. „Du hast mir so gefehlt“, kreischte sie freudig und küsste mich auf die Wange. Als sie sich von mir löste, konnte ich sie erst richtig ansehen. Sie sah verändert aus. Die vielen bunten Strähnen waren aus ihrem schwarzen Haar völlig verschwunden. Sonst hatte sie auf ihrer Schuluniform immer eine Vielzahl von Buttons verschiedener Rockbands und farbige Bänder getragen, doch auch davon war nichts mehr übrig geblieben. Ihre Veränderung erinnerte mich daran, dass sie mich in Velvet Hill nur einmal besucht hatte und danach nie wieder, dabei hätte ich eine Freundin gut gebrauchen können. Nun stand sie mir genau wie Lucas gegenüber und tat, als wäre nichts gewesen. Fairerweise musste ich zugeben, dass sie mir an Weihnachten und Silvester mehrere Nachrichten geschickt und mich immer wieder versucht hatte anzurufen, aber ich sie beharrlich ignoriert hatte. Wenn sie mich gefragt hätte wie es mir ging, hätte ich nicht gewusst, was ich ihr antworten sollte.

Dairine bemerkte meinen kritischen Blick und das Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht. Schuldbewusst sah sie mich an, so als wüsste sie genau, was ich in diesem Moment gedacht hatte. „Ich bin froh, dass du wieder da bist“, bekräftigte sie noch einmal eindringlich. „Sollen wir reingehen?“

Ich nickte und folgte ihr ins Schulgebäude. Immer wieder hörte ich wie mein Name in Gesprächen hinter vorgehaltener Hand gezischt wurde. Die Blicke der anderen schienen sich in meinen Rücken zu bohren, doch wenn ich mich umsah, taten alle so, als nähmen sie keine Notiz von mir.

Als wir das Klassenzimmer betraten, wäre ich am liebsten sofort wieder rückwärts rausgegangen, denn Mona und Aidan saßen an einem Tisch, direkt vor dem Lehrerpult. Seine Hand lag vertraut auf ihrer, als sie zu uns aufsahen. „Hey“, sagte Mona leise, während Aidan sich erhob und auf uns zuging. Er streckte Dairine seine Hand entgegen. „Hallo, ich bin Aidan.“

Dairine sah verwirrt zwischen mir und ihm hin und her. Sie spürte meine Abneigung, aber kannte den Grund dafür nicht. Das bewies nur wie viel mittlerweile zwischen uns lag. Sie war meine beste Freundin und wusste nicht einmal etwas über meinen letzten Beinahe-Freund. Als sie seine Hand ergriff, ging ich an ihnen vorbei und ließ mich auf meinen Platz in der hintersten Reihe fallen. Dairine setzte sich neben mich und schaute immer wieder besorgt zu mir, während sich das Klassenzimmer langsam füllte. „Alles ok?“, flüsterte sie.

Dachte sie etwa ich könnte ihr alles, was mir in den letzten drei Monaten widerfahren war, innerhalb von ein paar Minuten erzählen? „Geht schon“, raunte ich abweisend und sehnte mir Mrs. Kelly, unsere Musiklehrerin, mehr denn je herbei. Doch auch nach Läuten der Schulglocke war sie noch nicht aufgetaucht. Es war schrecklich in dem kleinen Raum mit all den Anderen gefangen zu sein, die über mich oder meine Schwester tuschelten. Sie gaben sich nicht einmal mehr Mühe es zu verbergen.

Bitte keine Freistunde!, betete ich in Gedanken, als die Tür schwungvoll aufgerissen wurde und Liam in Bikerboots und Lederjacke lässig in den Raum geschlendert kam. Nein! Das durfte einfach nicht wahr sein. Die anderen Schüler jubelten begeistert. Sie liebten ihn und seinen lockeren Unterricht. „Yeah, Mr. Dearing!“, grölten die Jungen, während die Mädchen ihn anhimmelten und fragten: „Sind Sie etwa wieder unser Lehrer?“ Liam nahm den Applaus wie ein Rockstar entgegen und sonnte sich selbstverliebt in der Bewunderung.

Zwar musste ich zugeben, dass er mich an Weihnachten mit seiner Schwimmaktion tatsächlich aufgeheitert hatte, aber das bedeutete nicht, dass ich ihn wieder als meinen Lehrer haben wollte. Sein Blick begegnete meinem und er zwinkert mir verschwörerisch zu, woraufhin ich ihn wütend anfunkelte. Er hatte bereits vor seinem Tod die Gerüchteküche ordentlich angeheizt, indem er mir gegenüber immer wieder anzügliche Bemerkungen gemacht hatte, ganz egal, ob andere Schüler in der Nähe waren oder nicht. Ich stand schon genug im Mittelpunkt, da brauchte ich nicht auch noch eine angebliche Affäre mit einem Lehrer. Wie schön war die Zeit gewesen, in der ich wie ein Geist hatte durch die Schule gehen können, ohne die Aufmerksamkeit von irgendjemandem zu erregen. Damals war ich noch nicht mit Lucas gegangen. Ich war im Grunde ein Niemand gewesen, aber ich hatte nichts dagegen gehabt. Wenn ich eines hasste, dann war es im Mittelpunkt zu stehen.

Liam setzte sich auf das Pult und hob seine Hände, um die Schüler zur Ruhe zu bringen. „Ich freue mich euch verkünden zu dürfen, dass ich offiziell wieder zurück bin und den Musikunterricht von Mrs. Kelly nun fest übernehmen werde.“ Die Jubelrufe gingen erneut los, während ich mir überlegte, ob es wohl möglich wäre den Kurs zu wechseln.

Liam hob erneut die Hände, worauf alle wie dressierte Hunde verstummten. Er deutete auf Mona und Aidan. „Wir haben dieses Jahr auch zwei neue Schüler an der Schule. Zum einen meine Cousine Mona Dearing und ihren Freund Aidan Monroe.“

Alle drehten sich neugierig zu ihnen um und ich sah wie unangenehm es beiden war. Mitgefühl loderte in mir auf. Mona und ich hatten mehr gemeinsam, als es auf den ersten Blick vielleicht schien. Wir hatten uns immer gut verstanden und während meiner Zeit in Velvet Hill war sie zu einer engen Freundin für mich geworden. Genauso wie Aidan. Warum hatte ich mich nur in ihn verlieben müssen? Wenn wir nur Freunde geblieben wären, hätte ich jetzt zumindest zwei Menschen, denen ich noch vertrauen könnte. Aber so musste ich immer wieder daran denken wie Aidan mich alleine am Bahnhof in Dublin zurückgelassen hatte, um zu Mona zu gehen. Es tat weh immer nur die zweite Wahl zu sein.

Nach dem Unterricht wollte ich so schnell wie möglich weg von Liam und hatte deshalb mein Heft und meine Stifte schon vor dem Läuten der Schulglocke eingepackt, sodass ich als eine der Ersten aus dem Kursraum eilen konnte. Doch er machte mir einen Strich durch die Rechnung, indem er mich laut zurückrief: „Miss Rice, könnte ich kurz mit Ihnen sprechen?“ Ich hörte seiner Stimme an, welche Freude es ihm bereitete mich bloßzustellen. Am meisten gefiel ihm daran die Gewissheit, dass es mir peinlich war mit ihm gesehen zu werden. Ich ging an den anderen Schülern vorbei und baute mich mit verschränkten Armen vor dem Pult auf. „Habe ich etwas falsch gemacht?“, fragte ich ihn genervt. Doch anstatt mir zu antworten, sah er zu Dairine, die im Türrahmen stand. „Mrs. Cooper, das Gespräch ist vertraulich. Warten Sie bitte vor der Tür?“

Sie rührte sich jedoch nicht von der Stelle, sondern sah abwartend zu mir. „Ist schon gut“, versicherte ich ihr, worauf sie die Tür schloss. Liam wendete sich grinsend mir zu und streckte seine Hand nach mir aus. Ich wich vor ihm zurück. „Was soll das?“, fauchte ich wütend. „Ich habe schon genug Probleme, ich brauche nicht auch noch eine Affäre mit meinem Lehrer!“

Seine Augenbrauen hoben sich amüsiert und er kam um das Pult herum, um sich dicht vor mich zu stellen. „Ich wusste gar nicht, dass wir eine Affäre haben“, grinste er, ohne mich auch nur im Geringsten ernst zu nehmen.

„Ist das alles? Kann ich jetzt gehen?“, fragte ich genervt. Es war sinnlos mit ihm zu diskutieren. Er würde mich ohnehin nicht verstehen. Im Gegensatz zu mir, liebte er es im Mittelpunkt zu stehen und jedes Gerücht, sei es ein schlechtes oder ein gutes, schmeichelte seinem Ego.

Er fasste mich an den Schultern und wurde ernst. „Warum bist du so wütend? Habe ich dir irgendetwas getan?“

Fassungslos blickte ich ihn an. „Du wolltest meine Schwester umbringen!“

„Sie wollte mich genauso umbringen“, erwiderte er unbeeindruckt. „Aber das ist vorbei. Wir haben uns auf einen Waffenstillstand geeinigt.“

„Vermutlich bist du froh darüber, dass sie bald Jahre im Gefängnis verbringen wird, oder?“, warf ich ihm vor.

„Es wäre gelogen, wenn ich behaupten würde, dass sie nicht das bekommen hätte, was sie verdient. Du kannst nicht von mir erwarten, dass ich Mitgefühl mit jemandem habe, der Schuld am Tod meiner kleinen Schwester ist“, sagte er eindringlich. Natürlich hatte er Recht. Er bewies bereits enorme Größe, indem er seine Rachegedanken gegen sie aufgab. Auch wenn ich ihm in der Hinsicht noch nicht ganz glaubte. Vielleicht plante er auch nur den nächsten Schachzug gegen sie.

Liams Hand strich sanft über meinen Arm, während er mir in die Augen sah. „Ich hatte gehofft du würdest dich freuen mich wiederzusehen. Aber mir kommt es fast vor, als wäre es dir lieber ich wäre immer noch tot.“

Ich schüttelte den Kopf und wehrte mich nicht gegen seine Berührung. „So ist das nicht. Ich bin froh, dass Eliza es geschafft hat dich wiederzubeleben. Aber ich möchte einfach mein stinknormales, langweiliges Leben zurück haben und da ist kein Platz für einen Schattenwandler, der auch noch mein Lehrer ist.“ Ich sah ihn zugleich entschuldigend und flehend an. „Wenn du mir wirklich einen Gefallen tun willst, dann bewerbe dich bitte an einer anderen Schule.“

Er zog seine Hand zurück und ein beleidigter Ausdruck lag in seinen Augen, als er sagte: „Ich fühle mich ziemlich wohl hier. Abgesehen von dir, finden mich alle toll. Es wäre nicht fair sie zu enttäuschen.“

Wütend trat ich zurück. „Die anderen sind dir doch völlig egal! Es macht dir lediglich Spaß mich zu ärgern.“ Ohne auf eine weitere Antwort von ihm zu warten, verließ ich den Raum. Dairine war nirgends mehr zu sehen. Früher hätte sie auf mich gewartet.

In der Mittagspause balancierte ich mein Tablett durch die Schülermassen und an den besetzen Tischen vorbei. Aus dem Augenwinkel nahm ich wahr, wie jemand wild winkte und hob den Kopf. Ich sah Dairine, die zusammen mit Lucas, Evan und anderen Jungen der Fußballmannschaft an einem Tisch saß. Sie deutete auf einen freien Stuhl neben sich, doch bei Lucas zu sitzen, war das Letzte, was ich wollte. Ich fragte mich allerdings, was Dairine bei ihnen machte. Früher war sie eine Außenseiterin und stolz darauf gewesen. Wir gegen den Rest der Schule. Diese Zeit war scheinbar vorbei.

Ich sah mich nach einem anderen freien Platz um und entdeckte in einer Ecke Mona und Aidan, die mich anlächelten als unsere Blicke sich begegneten. Ein Teil von mir sehnte sich nach ihnen, aber ein anderer Teil war zu stolz ihnen so leicht zu verzeihen, sodass ich mich alleine in der Mitte des Raums an einen Tisch setzte.

Ich stocherte lustlos in meinen Nudeln herum und spielte mit dem Strohhalm, der in meiner Cola steckte, als sich plötzlich jemand meinem Tisch nährte. Wendy Smith baute sich vor mir in Begleitung zwei ihrer Freundinnen auf. Ein falsches Lächeln zierte ihr Gesicht. „Hallo Winter, geht es dir gut?“, fragte sie scheinbar freundlich.

„Ja“, antwortete ich unsicher, es hörte sich jedoch mehr nach einer Frage an. Was wollte sie von mir? Von einem Mädchen wie Wendy war selten etwas Gutes zu erwarten.

„Ich habe gehört, du hattest einen Nervenzusammenbruch und warst in einer Psychiatrie. Stimmt das?“

„Ja“, erwiderte ich geknickt. Es war sowieso sinnlos es abzustreiten. Überraschenderweise ließ sich Wendy nun mir gegenüber auf den Stuhl sinken und beugte sich vertraulich zu mir vor. „Arme Winter, aber ich kann dich verstehen.“ Verwirrt sah ich sie an. „Wenn ich eine Mörderin zur Schwester hätte, würde ich auch durchdrehen“, zischte Wendy gehässig.

Meine Kehle schnürte sich mir zu. Ich hatte das Gefühl Eliza verteidigen zu müssen, aber kein Ton kam aus meinem Mund. Ich starrte sie nur mit großen Augen an.

„Du hättest sie umbringen sollen, das wäre für alle das Beste gewesen“, fuhr Wendy fort. Meine Hände ballten sich zu Fäusten. Doch ehe ich einen Fehler begehen konnte, trat Dairine in Begleitung von Evan plötzlich an unseren Tisch.

„Geh jemand anderem auf die Nerven“, forderte Evan streng. Überraschenderweise hörte Wendy auf ihn, ohne Widerworte zu geben und stolzierte mit ihren Freundinnen aus der Cafeteria.

„Danke“, sagten Dairine und ich zeitgleich, worauf sie kicherte und Evan vertraut auf die Schultern klopfte. „Sehen wir uns später?“

Ihre Stimme klang dabei ganz ungewohnt. Viel höher und sanfter als ich es von ihr gewohnt war, fast etwas unsicher. Evan grinste sie an. „Ich komme nach dem Training bei dir vorbei.“

„Ich freue mich“, flötete Dairine und sah ihm nach, als er mit den anderen Jungen der Fußballmannschaft den Saal verließ. Mit verträumtem Gesichtsausdruck ließ sie sich seufzend neben mir nieder. Vor lauter Überraschung vergaß ich sogar wütend auf sie zu sein. „Habe ich da etwas verpasst?“

Ein breites Grinsen erschien auf ihrem Gesicht. „Wir wollen es langsam angehen lassen.“

„Wie kommt es? Fandest du Fußballspieler nicht immer doof?“, fragte ich sie verdutzt.

„Finde ich immer noch, aber Evan ist ganz anders, als ich es erwartet hätte. Er ist einfühlsam und wir können super miteinander reden“, schwärmte sie.

Ich hatte sie noch nie so glücklich gesehen und freute mich für sie, aber gleichzeitig tat es weh, dass sich in meiner Abwesenheit so viel in ihrem Leben verändert hatte und ich nicht dabei gewesen war. Während sich bei ihr alles zum Positiven wendete, ging bei mir alles den Bach runter.

Dairine sah mich mitfühlend an, als sie meinen traurigen Gesichtsausdruck bemerkte. „Ich weiß, du hast es gerade nicht leicht, aber ich bin immer für dich da, wenn du reden möchtest. Du bist und bleibst meine beste Freundin!“

„Das habe ich gemerkt“, zischte ich. Sie wich schuldbewusst vor mir zurück. „Es tut mir leid, dass ich dich nicht mehr in der Klinik besucht habe“, entschuldigte sie sich. „Aber ich konnte einfach nicht vergessen, wie du warst, als ich das eine Mal bei dir war. Ich hatte das Gefühl mit einer Fremden zu sprechen.“

Ich gab ein abfälliges Grunzen von mir. „Genau so geht es mir, wenn ich dich jetzt ansehe.“

Sie fuhr unbeirrt fort: „Du warst nicht du selbst, sondern voller Hass und hast kaum ein Wort gesagt. Ich konnte damit nicht umgehen.“

„Ich war in der Psychiatrie, was hast du erwartet? Dachtest du etwa sie würden mir rosa Pillen geben und alles wäre wieder gut?“ Ich schrie sie an, ungeachtet der anderen Schüler, die sich bereits zu uns umdrehten. Es wusste doch ohnehin schon jeder, wo ich die letzten Monate gewesen war.

Dairine beugte sich alarmiert zu mir vor und wollte ihre Hand beruhigend auf meine legen, doch ich ließ sie nicht. „Nein, natürlich nicht, aber ich hätte nicht gedacht, dass sie dich deiner Persönlichkeit berauben würden“, etwas trauriger fügte sie hinzu: „Du hast nicht einmal mehr gelacht.“

„Entschuldige, dass es nichts gab, worüber ich hätte lachen können“, schnaubte ich sarkastisch. Dairines Worte waren für mich nur lahme Ausreden und das tat mehr weh, als wenn sie gar nichts dazu gesagt hätte.

Wir sahen uns für einen Moment beide verzweifelt an. Sie wollte, dass ich sie verstand, schließlich senkte sie den Blick. „Ich hatte Angst vor dir“, gestand sie. Zuerst wollte ich ihr sagen, wie lächerlich ihre Behauptung war, doch dann erinnerte ich mich daran, dass sie sowohl dabei gewesen war, als ich meine eigene Schwester versucht hatte zu erwürgen, als auch bei Will, auf den ich wie eine Furie losgegangen war mit dem Ziel ihn umzubringen. Vielleicht hatte sie es bei Eliza wenigstens noch etwas verstehen können, aber Will war im Grunde ein Fremder für mich gewesen, der mir nichts getan hatte. Was hätte ich an ihrer Stelle gedacht? Wäre mein Vertrauen in sie so groß gewesen, dass ich mir hätte sicher sein können, dass ihre unbändige Wut sich nicht eines Tages auch gegen mich richten würde?

Während ich darüber nachdachte, ergriff sie erneut das Wort: „Es tut mir wirklich leid. Du hast jedes Recht wütend auf mich zu sein. Ich habe dich im Stich gelassen, als du mich am dringendsten gebraucht hast. Ich war dir eine schlechte Freundin.“ Sie sah mich reumütig an. „Bitte verzeih mir und gib mir eine zweite Chance. Du hast mir wirklich gefehlt! Auch wenn ich nicht bei dir war, habe ich jeden Tag an dich gedacht.“

Ihr Blick war so ehrlich, dass ich nicht anders konnte als ihr zu glauben. Trotzdem konnte ich nicht einfach so tun, als wäre nichts geschehen. „Ich kann dir darauf nicht sofort eine Antwort geben. Du hast mich sehr verletzt und ich weiß nicht, ob ich das einfach vergessen kann“, antwortete ich ihr in ruhigem Tonfall.

Dairines Augen füllten sich mit Tränen, aber sie nickte verständnisvoll. „Das verstehe ich, aber ich bin trotzdem jederzeit für dich da. Du kannst mich immer anrufen, wenn du jemanden zum Reden brauchst. Egal wann, auch mitten in der Nacht.“

Ein schwaches Lächeln glitt über meine Mundwinkel. „Ich werde es mir merken“, erwiderte ich versöhnlich. Ein Gefühl der Erleichterung durchströmte mich. Obwohl ich sie angeschrien und mich ihre Worte erst verletzt hatten, fühlte ich mich nun ein kleines bisschen besser - Irgendwie leichter. Es hatte gutgetan mich mit ihr auszusprechen. Würde ich dasselbe empfinden, wenn ich mich endlich trauen würde mit Eliza zu sprechen?

Nach der Schule nahm ich nicht den Bus nach Slade’s Castle, sondern lief stattdessen in Richtung Wexford zur Polizeiwache. Ich war denselben Weg schon einmal vor Monaten gegangen, auch wenn meine Erinnerungen daran verschwommen waren. Es war nach einem Fußballspiel gewesen. Ich hatte mich mit Lucas wieder vertragen wollen, stattdessen hatte ich ihn und Eliza knutschend in den Umkleiden erwischt. Der Schmerz, den ich empfunden hatte, war mit nichts zu beschreiben. Ohne nachzudenken hatte ich mich von meinem Hass leiten lassen und war geradewegs zur Polizei gegangen, um Eliza des Mordes zu beschuldigen. Vermutlich war es deshalb auch irgendwie meine Schuld, dass sie nun in Untersuchungshaft saß. Wenn ich als ihre eigene Schwester nicht gegen sie ausgesagt hätte, wäre sie vielleicht nie in Verdacht geraten. Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, würde ich es anders machen. Ich wäre zwar immer noch wahnsinnig enttäuscht und verletzt, aber ich würde sie nicht verraten. Eliza hatte viel falsch gemacht, mehr als vielleicht verzeihbar war, aber sie würde immer meine Schwester bleiben, daran könnte nichts etwas ändern..

Ich atmete noch einmal tief durch, bevor ich die Tür zum Polizeirevier aufstieß. Am Empfang saß eine junge Polizistin, die neugierig aufsah, als ich eintrat. „Kann ich Ihnen weiterhelfen?“

„Ich würde gerne meine Schwester Eliza Rice besuchen. Sie befindet sich in Untersuchungshaft“, sagte ich eilig, wobei meine Stimme leicht vor Nervosität zitterte. Die Polizistin sah mich überrascht an, aber griff dann nach dem Telefonhörer. „Einen Moment, bitte.“ Sie tippte eine dreistellige Ziffernfolge ein und wartete, bis am anderen Ende jemand abhob. „Hier ist ein Mädchen, das Eliza Rice besuchen möchte.“ Sie wand sich kurz an mich. „Ihr Name?“

„Winter Rice.“

Sie gab meinen Namen weiter und legte schließlich mit den Worten „Okay, sage ich ihr“ auf. Sie erhob sich und kam mir entgegen. „Wenn du deine Schwester nochmal besuchen möchtest, melde dich bitte vorher an. Normalerweise genehmigen wir keine spontanen Besuche, aber deine Schwester hat schon oft nach dir gefragt.“

Ich nickte und spürte wie sich erneut ein Kloß in meinem Hals bildete. Vor wenigen Stunden hatte ich Dairine noch vorgeworfen, dass sie mich nie in Velvet Hill besucht hatte, dabei war ich selbst kein Stück besser. Eliza saß bereits seit mehreren Wochen in Haft und ich hatte es nicht einmal fertig gebracht zu ihr zu gehen. Dabei war ich mir sicher, dass wenn ich in ihrer Situation gewesen wäre, sie die Erste gewesen wäre, die mich besucht hätte, ganz egal, was zwischen uns vorgefallen war.

„Warte bitte hier. Es kommt dich gleich jemand abholen“, wies sie mich an und deutete auf eine Holzbank, die vor einer Glastür stand. Gehorsam ließ ich mich dort nieder, nachdem ich ein leises „Danke“ gemurmelt hatte. Meine Hände zitterten, sodass ich sie auf meine Knie drückte. Nun gab es kein Zurück mehr. Wie würde Eliza reagieren, wenn sie mich sah? Bereute sie vielleicht schon, dass sie alles aufs Spiel gesetzt hatte, nur um mich von dem Jägersfluch zu befreien? Vielleicht hatte ich zu lange gewartet und sie dadurch so sehr enttäuscht, dass sie mich nun gar nicht mehr sehen wollte?

Ein stämmiger Polizist trat durch die Glastür. „Winter Rice?“, fragte er an mich gewandt.

„Ja, das bin ich“, brachte ich mit piepsiger Stimme hervor.

„Dann komm mal mit“, forderte er und hielt mir die Tür auf, die er hinter uns sorgsam wieder verschloss. Er führte mich durch einen grauen Flur mit vielen Türen. Schließlich hielt er vor einer davon und schloss sie auf. Das war meine letzte Chance einen Rückzieher zu machen. Ich könnte mich bei ihm entschuldigen und sagen, dass ich es mir doch anders überlegt hatte. Aber ich tat es nicht, als ich eintrat, zitterten meine Knie so sehr, dass ich mich kaum auf den Beinen halten konnte. Eliza stand vor einem kleinen Tisch, der sich in der Mitte des Raumes befand. Sie trug eine graue Stoffhose und ein schwarzes Tanktop. Ihr sonst so seidiges Haar, um welches ich sie schon immer beneidet hatte, war in einem strengen Pferdeschwanz zurückgebunden. Ihre Haut erschien mir blasser als sonst und in ihrem Gesicht fehlte die Schminke, mit der sie sonst ihre Schönheit hervorhob. Ich hatte sie noch nie in einem so schlechten Zustand gesehen.

Sie hatte die Augen weit aufgerissen und ihre Hände eng an ihren Körper gepresst. Wir sahen einander ungläubig an, bevor ein Schluchzen meine Kehle verließ. Eliza war mit einem Satz bei mir und drückte mich fest an sich. Ihre Tränen vermischten sich mit meinen, während wir uns beide heulend umklammert hielten. Doch schon im nächsten Moment wurden wir grob von dem Polizisten wieder auseinandergerissen. „Kein Körperkontakt!“, erinnerte er uns scharf. Hatte dieser Mensch denn gar kein Mitgefühl?

Wir ließen uns an dem Tisch nieder und legten unsere Hände so auf den Tisch, dass sich unsere Fingerspitzen berührten. Wir hatten beide das Bedürfnis der anderen so nah wie möglich zu sein. Eliza mit verweinten Augen und tränenfeuchtem Gesicht vor mir zu sehen, rief eine Sehnsucht nach ihr in mir wach, die ich so nicht kannte. Sie war meine große Schwester und erst jetzt merkte ich, wie sehr sie mir fehlte.

„Ich kann nicht glauben, dass du wirklich gekommen bist“, hauchte Eliza. Ihre vollen Lippen waren von unschönen Rissen durchzogen.

„Ich hätte früher kommen sollen“, entschuldigte ich mich, doch Eliza schüttelte den Kopf. „Du bist hier und das ist alles, was zählt. Wie geht es dir?“

Ein unglückliches Lachen verließ meine Kehle. „Du sitzt in Haft und fragst mich wie es mir geht?!“

Sie begann ebenfalls zu lachen. „Ich habe das Gefühl von der Welt abgeschnitten zu sein.“

„Mum und Dad sind sich sicher, dass Tante Rhona dafür sorgen wird, dass du freigesprochen wirst.“

„Lass uns über etwas anderes reden, ja?“, bat sie. „Erzähl mir irgendetwas aus der Schule. Wie geht es Dairine? Ist sie jetzt mit Evan zusammen?“

Ich war erstaunt darüber, wie gut sie über Dairines Liebesleben Bescheid wusste. Besser als ich. Obwohl ich die gewohnte Eifersucht bereits an mir nagen spürte, ignorierte ich sie. „Sieht so aus. Sie lassen es wohl langsam angehen.“

Sie kicherte. „Ich habe ihr gesagt sie soll den ersten Schritt machen, wenn sie auf Evan warten will, kann sie sonst ewig warten. Dieser Junge ist die Schüchternheit in Person.“

Eliza kannte sich damit aus, den ersten Schritt zu machen. Sie schien nie auch nur eine Sekunde zu befürchten, dass ein Junge sie abweisen könnte. Ich beneidete sie um ihr Selbstbewusstsein. „Nicht jeder ist so mutig wie du.“

Sie zuckte mit den Schultern. „Das hat nichts mit Mut, sondern mit Dummheit zu tun. Wenn ich erstmal darüber nachdenken würde, was ich tue, hätte ich mir schon viele Probleme erspart“, gestand sie einsichtig. Ich wusste nicht, ob sie damit auch die Situation meinte, in der sie sich gerade befand, fragte sie aber auch nicht weiter danach. Einsicht kam bei Eliza eher selten.

Sie schien die traurigen Gedanken beiseite zu schieben und lächelte mich frech an. „Wie geht es Aidan?“

Ich erstarrte augenblicklich. Sie schien nicht zu wissen, dass er mittlerweile mit Mona zusammen war. „Ich nehme an gut“, sagte ich ausweichend.

Sie hob irritiert die Augenbrauen. „Du nimmst es an? Seid ihr nicht mehr zusammen?“

„Wir waren es nie“, erwiderte ich und fügte zögernd hinzu: „Er mochte mich nicht auf dieselbe Weise wie ich ihn.“

„Oh“, machte sie bedauernd. Wir hatten zuvor noch nie über mein Liebesleben gesprochen, das im Grunde auch immer nur daraus bestanden hatte, dass ich Lucas anhimmelte. „Wenn ich hier rauskomme, kann er sich auf etwas gefasst machen“, knurrte sie schließlich, was ich allerdings lachend abwinkte: „Er hat mir nie etwas vorgemacht, ich habe ihn lediglich falsch verstanden. Er ist ein guter Kerl und hat es nicht verdient, dass du ihn in Angst und Schrecken versetzt.“

Sie grinste und drückte ihre Finger liebevoll gegen meine. „Wenn du es dir doch anders überlegst, brauchst du nur ein Wort zu sagen.“

Ich sehnte mich danach sie zu umarmen. Mit jeder Minute, die ich Eliza gegenübersaß und ihr in die grünen Augen sah, fühlte sich mein Herz etwas leichter an.

„Was ist mit Liam? Benimmt er sich?“, fragte Eliza weiter, worauf ich den Mund verzog. „Er arbeitet wieder als Lehrer an unserer Schule.“

Eliza begann erneut zu lachen. Obwohl sie jeden Grund gehabt hätte zu weinen, brachte sie es fertig für die Dauer unseres Gesprächs alles um sich herum zu vergessen und mir das Gefühl zu vermitteln, als säßen wir in einem kleinen Café bei einem Glas Latte Macchiato. „Ich kann ihn mir so gar nicht als Lehrer vorstellen. Macht er seine Sache gut?“

„Er hält sich nicht an den Lehrplan“, erwiderte ich, als würde das alles erklären. „Du hättest ihn als Schülerin sicher gemocht.“

Sie nickte traurig. Gab es für Eliza überhaupt noch Hoffnung, dass sie je einen Schulabschluss bekommen würde? Sie hatte es schon schwer genug gehabt, wie Lucas mir erzählt hatte, aber jetzt erschien eine Rückkehr an die Schule geradezu unmöglich.

„Mona ist sicher froh, dass er wieder zurück ist, oder?“

„Sicher“, sagte ich, obwohl ich es nicht genau wusste. Mona war zwar zurück zu ihm in das Anwesen der Familie gezogen, aber einen glücklichen Eindruck machte sie selten, wenn ich sie sah. Lediglich wenn sie mit Aidan sprach, hellte sich ihr Gesicht ein wenig auf.

Eliza sah auf ihre Hände. Ihr schienen langsam die Fragen auszugehen. Sie hatte mich nach so ziemlich jedem gefragt, den wir beide kannten, nur einen dabei bewusst ausgelassen: Lucas.

Ich legte meine Fingerspitzen sanft über ihre. „Lucas denkt an dich.“

Die Tränen kehrten in ihre Augen zurück, als sie mich ansah. Der Polizist räusperte sich und sah auf die Uhr. „Für heute reicht es jetzt“, bestimmte er und forderte mich durch eine Handbewegung auf, mich zu verabschieden. Eliza und ich warfen ihm beide einen bösen Blick zu. Da eine Umarmung nicht erlaubt war, reichten wir uns die Hände wie es sonst nur Geschäftsleute tun. Ihre Haut war kalt und ich spürte wie sie zitterte. Ich drückte etwas fester zu und versprach: „Ich komme wieder, sobald ich kann.“

Sie nickte und senkte den Blick, um mich ihre Tränen nicht sehen zu lassen. „Grüß die Anderen von mir“, murmelte sie leise.

Während ich das Polizeigebäude verließ, rannen mir Tränen über die Wangen. Es tat weh, Eliza zurücklassen zu müssen. Sie litt und ich konnte nichts dagegen tun. Meine Wut auf sie war zwar immer noch da und ich konnte nach wie vor nicht verstehen, wie sie so skrupellos hatte sein können, aber das alles erschien mir in diesem Moment völlig unbedeutend. Ich fühlte mich ihr mehr verbunden denn je. Ich hatte bereits fast den Ausgang erreicht, als sich mir plötzlich jemand in den Weg stellte. „Winter?“

Schnell wischte ich mir die Tränen aus dem Gesicht und sah auf – Detektive Windows. „Hallo“, murmelte ich verlegen.

„Bist du nicht mehr in Velvet Hill?“, fragte sie überrascht, als wäre meine Anwesenheit im Polizeirevier nicht Antwort genug.

„Meine Eltern haben dafür gesorgt, dass ich vorzeitig entlassen wurde. Mir geht es wieder besser.“

Sie musterte mein tränenfeuchtes Gesicht. „Warst du deine Schwester besuchen?“

„Ja.“

„Habt ihr gestritten?“

Sie interpretierte meine Tränen völlig falsch, aber wer konnte es ihr auch verübeln? Immerhin war ich nur in der Psychiatrie gelandet, weil ich unter anderem versucht hatte meine eigene Schwester umzubringen, nachdem ich sie bei der Polizei des mehrfachen Mordes beschuldigt hatte.

„Nein, es tut mir einfach weh sie so zu sehen. Es geht ihr schlecht“, antwortete ich wahrheitsgemäß.

Sie sah mich verwirrt an und berührte mich sanft am Arm. „Können wir uns vielleicht mal unterhalten? Ich hätte da noch ein paar Fragen.“

Misstrauisch trat ich von ihr zurück. „Wenn das ein Verhör werden soll, muss ich erst meine Tante anrufen. Sie ist Anwältin und vertritt Eliza.“

Detektive Windows machte einen enttäuschten Eindruck. „Seit wann brauchst du einen Anwalt, um mit mir zu sprechen? Wir beiden hatten doch noch nie Probleme miteinander.“

Das stimmte. Während die Polizei Eliza vom ersten Moment an verdächtigt hatte, war Windows mir gegenüber immer fair und verständnisvoll geblieben. Aber sie war es auch, die Eliza vor unserem Elternhaus festgenommen hatte. Ich konnte ihr nicht vertrauen!

„Ich habe nichts mit dem Mord an Will zu tun, falls Sie mich das fragen wollten.“

Sie hob beschwichtigend die Hände. „Das weiß ich doch! Wir haben Kameraaufnahmen von dem Bahnhof in Dublin, die dich eindeutig zeigen. Dazu hat Aidan Monroe deine Aussage bestätigt.“

„Was wollen Sie dann von mir?“

Sie sah sich auf dem Flur um und seufzte resigniert. „Ich wünschte wirklich wir müssten dieses Gespräch nicht im Stehen führen.“

„Ich müsste nicht einmal mit ihnen reden“, erinnerte ich sie. „Meine Aussage habe ich bereits abgegeben.“

„Traust du es deiner Schwester zu?“, fragte sie eindringlich.

Das war keine Frage des Vertrauens, denn ich wusste, dass Eliza den Mord an Will begangen hatte. Was die anderen Fälle anging, war sie jedoch unschuldig. Aber ich konnte Liam nicht verraten, genauso wenig wie Mona, die in allem mit drin steckte. Die Wahrheit würde mir ohnehin niemand glauben. Mein Zögern interpretierte Detektive Windows als Zweifel. Sie nickte und klopfte mir auf die Schulter. „Pass auf dich auf!“

Ich hätte ihr nachrufen sollen, dass meine Schwester das alles nicht verdient hatte und sie gewiss unschuldig war, aber ich hielt meinen Mund. Natürlich wollte ich, dass Eliza freikam, aber hatten Will und Beth nicht auch verdient, dass ihre Mörderin bestraft wurde? Beth war zwar ein Unfall gewesen, aber das machte es nicht weniger schlimm. Ich war hin und hergerissen, in dem Wunsch meiner Schwester zu helfen und Gerechtigkeit walten zu lassen.

Da ich den letzten Schulbus verpasst hatte, musste ich meine Mum anrufen und sie bitten mich abzuholen. Als sie mit unserem Auto vor einem Café in Wexford hielt und ich mich neben sie auf den Beifahrersitz sinken ließ, sah sie mich misstrauisch an. „Ich würde dich das unter normalen Umständen niemals fragen, aber hast du die Schule geschwänzt?“

„Nein“, rief ich empört aus und schüttelte energisch den Kopf. „Ich war nach der Schule noch in der Stadt, das ist alles.“

Sie fädelte sich in den Verkehr ein. „Was hattest du denn zu erledigen?“

Ich zögerte mit meiner Antwort, weil ich wusste, dass meine Eltern vorher gerne eingeweiht worden wären, aber schließlich gab ich zu: „Ich habe Eliza besucht.“

Sie verkrampfte für einen Moment, bevor sie sagte: „Das hast du gut gemacht!“ Auch wenn sie lächelte, sah ich wie ihre Lippen zitterten. „Ihr seid Schwestern und solltet zusammenhalten, egal was passiert.“

Ihre Worte ließen mich an den Weihnachtsabend denken, als Rhona plötzlich unangekündigt vor unserer Tür gestanden hatte. Obwohl sie Mums Schwester war, schien sie alles andere als glücklich zu sein, sie zu sehen. Rhona wohnte in Wexford in einem Hotel, anstatt in Elizas Zimmer zu schlafen, wie Mum es sonst so ziemlich jedem angeboten hätte.

„Bist du froh, dass Rhona in der Stadt ist?“, fragte ich sie neugierig.

„Natürlich“, behauptete Mum, ohne zu zögern. „Wenn jemand Eliza helfen kann, dann sie.“

„Warum hat sie uns zuvor noch nie besucht?“

„Sie ist beruflich sehr eingespannt und immer viel unterwegs.“

„Hat sie denn nie Urlaub?“

Mums Finger schlossen sich so fest um das Lenkrad, sodass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. „Rhona hat ihr eigenes Leben und ich meins.“

„Aber sie ist doch deine Schwester! Vermisst du sie nicht manchmal?“

Sie warf mir einen scharfen Blick zu, der mich deutlich dazu aufforderte nicht weiter nachzufragen. Als sie jedoch meinen enttäuschten Gesichtsausdruck bemerkte, sagte sie leise: „Du und ich sind einander ähnlicher als du vielleicht denkst.“

Ich verstand nicht, was sie mir damit sagen wollte. Sprach sie darauf an, dass ich selbst Eliza auch immer am liebsten aus dem Weg gegangen war? War sie genauso froh darüber, dass Rhona Wexford mied, wie ich es gewesen war, als Eliza für ein halbes Jahr verschwunden war? Was war zwischen ihnen vorgefallen? Ging es etwa ebenfalls um einen Jungen? Ich dachte an Dad, der Rhona freundlich bei uns aufgenommen hatte. War es möglich, dass Rhona einst mehr für ihn empfunden hatte? Meine Eltern waren in meinen Augen immer das perfekte Paar gewesen, sodass ich mir nicht vorstellen konnte, dass es je anders gewesen sein könnte.

Schattenschwestern

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