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Investigativ

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Katharina Lug tippte die letzte Zeile ihres Artikels und schickte ihn gerade noch rechtzeitig vor Redaktionsschluss an ihren Chef vom Dienst.

Seit knapp drei Jahren arbeitete sie für ein regionales Magazin, das sich vor allem mit lokalen Themen aus dem Münchner Umland befasste. In den letzten Wochen und Monaten hatte sie immer wieder über das Thema Stalking berichtet.

Mit ihren 28 Jahren gehörte Katharina zu einer Generation von Frauen, die sich selbst als emanzipiert verstanden. Sie war gut ausgebildet und karriereorientiert und es störte sie, dass trotz der nominellen Gleichberechtigung vieles in Sachen Frauenrechte noch immer im Argen lag, vor allem, wenn man einen Blick in die Kriminalstatistik warf.

Statistisch gesehen wurde jeden zweiten Tag eine Frau in Deutschland von ihrem Partner oder Ex-Partner ermordet. »Familiendrama« nannte die Presse das dann euphemistisch. »Femizid« nannte es Katharina.

Beim Thema Stalking waren die Zahlen sogar noch drastischer. Bis zu zwei Drittel der Opfer von Stalking waren weiblich, jede fünfte Frau erlebte in ihrem Leben einmal Stalking, jede Dritte sogar Gewalt.

Obwohl die Rechtsprechung in den letzten Jahren immer wieder verschärft worden war und Stalking mit bis zu drei Jahren Gefängnis bestraft werden konnte, sah die Praxis ganz anders aus.

Ein Täter, der sich zuvor nichts zu Schulden hatte kommen lassen, konnte damit rechnen, straffrei auszugehen. Nicht nur Katharina hatte den Verdacht, dass es dabei vor allem um eine Art männliches Wohlwollen ging, das Richter gegenüber männlichen Tätern walten ließen. Stalking, so die Auffassung, war ein Kavaliersdelikt. Dass es die Leben der Opfer nachhaltig beeinträchtigte und in vielen Fällen sogar zerstörte, wurde dabei nicht berücksichtigt.

Katharina kannte mehrere Stalkingopfer, die inzwischen unter falschen Namen in anderen Städten lebten, nur um endlich Ruhe vor ihrem Stalker zu haben und von der ständigen Angst begleitet wurden, dass ihr Stalker sie wieder fand.

Eine E-Mail ploppte auf. Obwohl sich der Feierabend näherte klickte Katharina sie an, weil sie aus der kommunalen Stadtverwaltung stammte.

Philipp Wehmann war Stadtrat für Soziales. Sie kannte ihn aus verschiedenen Sitzungen der Stadtverordnetenversammlung, hatte aber bislang kaum persönliche Berührungspunkte mit ihm.

Neugierig geworden, scrollte Katharina durch die E-Mail.

Sehr geehrte Frau Lug, las sie. Aufmerksam verfolge ich schon seit einigen Jahren Ihre Berichterstattung über das Thema Stalking. Dabei ist mir aufgefallen, dass in den Fällen, über die Sie berichten, die Täter allesamt männlich, die Opfer weiblich sind.

Deshalb möchte ich Sie gerne auf einen Fall aufmerksam machen, der sich hier bei uns zugetragen hat und bei dem es andersherum ist.

Das Opfer ist ein Unternehmer! Die Täterin eine alleinerziehende Mutter, die bereits mehrfach von einem Gericht verurteilt wurde, zuletzt zu einer mehrmonatigen Gefängnisstrafe. Dennoch hörten die belästigenden Anrufe und Besuche nicht auf, gipfelten sogar in rufschädigenden Verleumdungen im Internet.

Vielleicht erinnern Sie sich an einen Polizeieinsatz im letzten Herbst, bei dem es um einen Einbruch ging. Eine junge Frau wurde mit einer Verletzung ins Krankenhaus eingeliefert und befindet sich nun in der forensischen Psychiatrie. Es handelt sich um eben jene Täterin. Ohne dramatisch klingen zu wollen lässt sich festhalten, dass das Opfer ihrer Taten nur knapp mit dem Leben davonkam.

Es ist mir ein Anliegen, als Stadtrat für Soziales, über dieses Thema zu informieren und würde mich sehr freuen, mit Ihnen über diesen Fall und mögliche politische Implikationen zu sprechen. Im Anhang erhalten Sie zahlreiche Unterlagen, die Ihnen einen Einblick in diesen hochbrisanten Fall ermöglichen.

Katharina runzelte die Stirn. Was sollte das? Wollte dieser Typ sie etwa vor seinen Karren spannen? Sie erinnerte sich an den Fall.

Sie öffnete ihre Suchmaschine und gab einige Suchbegriffe ein. Sofort erschienen einige Einträge von Zeitungsberichten.

Die junge Mutter hatte mit zwei Männern eine Affäre, beide waren verheiratet oder liiert gewesen. Offenbar hatte die junge Frau unter psychischen Problemen gelitten und als die Männer die Affären mit ihr beenden wollten, hatte es Schwierigkeiten gegeben. Die Frau hatte nicht länger Stillschweigen bewahren wollen und jetzt saß sie im Rollstuhl. Ein tragischer Fall, doch was das mit Stalking zu tun haben sollte, leuchtete Katharina nicht ein.

»Spinner«, murmelte sie, schloss ihr Browserfenster und fuhr ihren Rechner herunter.

Etwa zwei Stunden später saß Katharina mit ihrem besten Freund Jan im Havannas, einer kleinen gemütlichen Cocktailbar in der Innenstadt und schlürfte zwei köstliche Cuba Libre.

Jan, der gerade seine Doktorarbeit schrieb, wirkte entgegen seiner sonstigen Gewohnheit irgendwie abgelenkt und zerstreut. Ständig blickte er auf sein Handy.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte Katharina.

»Was? Ähm, ja, ja, entschuldige, es ist nur …« Jan machte ein zerknirschtes Gesicht.

»Es ist nur was?«

»Ach, nichts.« Jan winkte ab.

»Wie geht es eigentlich Lisa? Sie macht doch jetzt auch Examen, oder?«

Lisa war seit knapp drei Monaten Jans Freundin.

Bei der Erwähnung ihres Namens zuckte Jan zusammen, als hätte er einen leichten Stromschlag bekommen. Er verschluckte sich an seinem Cuba Libre und hustete.

»Ja, ja, ich denke sie wird das Examen auf das nächste Jahr verschieben. Ihr geht es gerade nicht so gut«, erklärte er.

»Oh, das tut mir leid zu hören. Was hat sie denn?«, fragte Katharina.

»Das ist ein wenig kompliziert.« Jan wich ihrem Blick aus. Wieder zog er sein Handy hervor. Das Display leuchtete auf. Ein Anruf ging ein, Lisas Name war zu lesen. Jan schaltete das Display aus.

Katharina begann zu ahnen was los war.

»Habt ihr beide Streit?«

Jan biss sich auf die Unterlippe. »Ja, so etwas in der Art.«

»Wenn du mit ihr telefonieren möchtest, ist das ok. Ich weiß, wie so etwas ist. Wenn die Honeymoon-Phase erst einmal vorbei ist, kann es schon mal heiß her gehen«, sagte Katharina verständnisvoll und erinnerte sich an ihre letzte Beziehung.

Jans Züge verhärteten sich. »Nein, so ist das nicht.«

»Wie ist es dann?«

Wieder leuchtete das Display auf. Ein neuer Anruf ging ein.

»Lisa ist aber hartnäckig. Bist du sicher, dass du nicht rangehen möchtest? Es scheint dringend zu sein. Wie oft hat sie schon angerufen?«

Jan drehte sein Handy um, so dass das Display nicht mehr zu sehen war.

»Lisa hat Probleme, Katharina. Also, psychische Probleme. Es ist wegen ihrer Kindheit.«

»Oh, ok. Das tut mir leid. Bekommt sie Hilfe?«

Jan schüttelte den Kopf. Täuschte sich Katharina oder standen ihm Tränen in den Augen? In ihr regte sich heftiges Mitleid mit ihrem besten Freund. Jan war das, was man gemeinhin einen guten Kerl nannte: treu, zuverlässig, echtes Beziehungsmaterial, der perfekte Schwiegersohn. Er schien mit seiner Freundin zu leiden.

Katharina hatte Lisa nur wenige Male getroffen, ein sehr ruhiges, irgendwie zerbrechliches Mädchen mit flackerndem Blick. Sie vermochte nicht viel zu ihr zu sagen, doch wenn Jan sie liebte, dann mochte sie sie auch.

»Sie will keine Hilfe. Sie sagt, das alles ist meine Schuld. Es ist … ich kann es nicht erklären.« Jan rang verzweifelt die Hände in die Luft und legte sie dann wieder vor sich auf den Tisch. So hatte ihn Katharina noch nie gesehen. Sie schwieg und ließ ihm Zeit. Anscheinend hatte er das Bedürfnis zu reden.

»Weißt du, es ist als hätte sie zwei Persönlichkeiten«, fuhr er schließlich fort. »Manchmal ist sie die liebste Person der Welt, anhänglich, fürsorglich. Dann schmieden wir Pläne, was wir machen, alles ist gut. Und dann, von einem Augenblick auf den anderen, schlägt das um. Dann ist sie misstrauisch, macht mir Unterstellungen, behauptet ich würde fremdgehen …« Er brach ab.

Katharinas Augen wurden groß. Ihr Blick wanderte zu Jans umgedrehtem Handy.

»Du meinst doch nicht etwa, dass sie auf mich eifersüchtig ist, oder? Ruft sie deshalb die ganze Zeit an?«

Jan nickte. »Erst hat sie gesagt es ist in Ordnung, dass ich mit dir weggehe, und dann fing der Terror an. So ist es jedes Mal.« Er raufte sich das aschblonde Haar. »Ich weiß nicht mehr was ich machen soll. Wenn ich versuche mit ihr darüber zu reden, dann bricht sie regelrecht zusammen und weint wie ein kleines Kind. Zuletzt hat sie sogar gedroht, sich etwas anzutun. Sie hat sich stundenlang im Badezimmer eingesperrt. Ich war kurz davor, die Polizei zu rufen.«

Katharina lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Das klingt nicht gut«, bemerkte sie. »Ihr seid ja noch gar nicht so lange zusammen. Bist du dir sicher, dass Sie die Richtige ist für dich?«

Jans Gesicht nahm einen gequälten Ausdruck an.

»Ich habe versucht mich von ihr zu trennen, für zwei oder drei Tage. Da ist sie einfach bei mir in der Uni aufgetaucht, sogar bei meinem Professor. Sie hat mich bis zu 80 mal am Tag angerufen … ich wusste einfach nicht mehr was ich machen soll.«

»Und dann bist du zu ihr zurück?«

»Sie hat mir so leidgetan. Ich meine, sie hatte wirklich eine schlimme Kindheit, Katharina.«

»Jan, aber du bist nicht der Retter der verdammten Menschheit. Kommst du überhaupt noch dazu an deiner Dissertation zu arbeiten?«

Jan starrte auf seine Fingerspitzen. »Nein«, gestand er schließlich tonlos. »Sie braucht ständig meine Aufmerksamkeit. Und wenn sie die nicht bekommt, dann geht es wieder los.« »Jan, du musst …«, setzte Katharina an.

Jan hob abwehrend die Hand. »Ich weiß was du jetzt sagen willst. Ich muss aus dieser Beziehung raus. Aber ich kann das nicht so einfach. Ich möchte nicht dafür verantwortlich sein, dass sie sich etwas antut. Ich muss das behutsam machen. Ich weiß, dass du dir Sorgen machst, aber bitte, misch dich nicht ein, ok? Ich kläre das schon. Danke, dass ich mich dir anvertrauen konnte.«

Katharina hielt die Luft an. Es fiel ihr schwer all die Worte zurückzuhalten, die ihr auf der Zunge lagen.

»In Ordnung«, sagte sie schließlich. »Aber versprich mir, dass du mich anrufst, wenn du Hilfe brauchst, ok? Und opfere dich nicht auf für diese Frau. Du bist nicht ihr Therapeut.«

»Versprochen«, sagte Jan.

Später auf dem Heimweg erinnerte sich Katharina an die E-Mail von Philipp Wehmann. Sie zog ihr Handy hervor, scrollte durch die E-Mail und suchte nach einer Telefonnummer. Tatsächlich hatte er ihr seine Handynummer mitgeschickt. Obwohl es bereits nach 22 Uhr war, startete sie den Anruf.

Schon nach wenigen Klingelzeichen nahm Wehmann ab.

»Herr Wehmann, hier ist Katharina Lug. Ich möchte mich gerne mit Ihnen treffen.«

Zu Hause angekommen, klappte Katharina ihren Laptop auf und öffnete die E-Mail von Philipp Wehmann. Im Anhang fand sie zahlreiche Zeitungsberichte, Briefe, Abschriften von Anzeigen und sogar Arztberichte.

Es begann als eine romantische Liebesgeschichte. Holger H., Versicherungsmakler aus R., verliebte sich in die 36-jährige Julia K., alleinerziehende Mutter. Doch was als Romanze begann, endete in einem Albtraum.

Als Holger H. sich von Julia K. trennte, fing sie an ihn mit bis zu 80 Anrufen pro Tag zu terrorisieren. Sie saß sogar stundenlang mit ihren beiden kleinen Kindern auf den Stufen seines Büros. Der Unternehmer verlor sogar Kundinnen, die von der Verlassenen mit ihrem Liebesschmerz behelligt wurden.

Beide waren eigentlich sicher, die Liebe ihres Lebens gefunden zu haben. Doch Julia K. zeigte psychische Auffälligkeiten. Ein Experte vor Gericht spricht von Persönlichkeitsstörungen. Sie wurde mit der Trennung nicht fertig, wurde zur Stalkerin. Holger H. wusste sich nicht anders zu helfen und ging erst zur Polizei und zog dann vor Gericht.

Das Gericht verurteilte die Stalkerin erst zu einer Therapie und schließlich zu einer Haftstrafe. Doch die Stalkerin verstieß immer wieder gegen ihre Auflagen, näherte sich Holger H. und bemalte sogar sein Büro mit rosa Herzen. Was romantisch klingt, schränkte den Versicherungsmakler erheblich in seiner Lebensqualität ein.

Der tragische Fall gipfelte schließlich in einem Einbruch. Am 26. Oktober 2011 drang Julia K. in das Haus von Holger H. ein, in dem er inzwischen mit seiner neuen Partnerin lebte. Zu ihrer Absicht wollte sie sich vor Gericht nicht äußern. Es kam zum Kampf, bei dem Julia K. schwer verletzt wurde. Heute sitzt sie im Rollstuhl. Das Gericht ließ sie in die forensische Psychiatrie einweisen.

Holger H. hofft, dass das Stalking nun ein Ende hat. Doch die Prognosen stehen schlecht. Hartnäckige Stalker geben oft auch nach empfindlichen Strafen nicht auf. Forscher sind bisher noch uneins, wo die Ursachen für ein solches Verhalten liegen. Gekränkte Liebe, Zurückweisung und traumatische Ereignisse in der Kindheit spielen eine Rolle.

Katharina massierte sich die Schläfen. In einem Zeitungsartikel war ein Bild von Julia K. zu sehen. Kinnlanges blondes Haar, adrette Figur, schmales Gesicht, und große Sonnenbrille. Holger H. wirkte sympathisch und gutaussehend. Er hatte etwas von einem Teddybären. Irgendwie wurde sie nicht so recht schlau aus der Geschichte. Doch ihr Gespür sagte ihr, dass sie damit möglicherweise einer ganz besonderen Story auf der Spur war.

Immer tiefer und tiefer grub sie sich in eine Geschichte ein, die das Bild einer hochdramatischen Beziehungsgeschichte zeichnete, die beinahe mehr als nur ein Leben gekostet hätte.

»Ich muss sagen, dass ich nicht damit gerechnet habe, dass Sie sich bei mir melden«, erklärte Philipp Wehmann, als er zwei Tage später Katharina gegenüber im Konferenzraum der Redaktion saß. Er war Anfang 30, trug einen blauen Anzug und hatte dunkles Haar. Er sah auf eine beunruhigende Weise gut aus, fand Katharina.

»Wieso das?«, fragte Katharina.

»Weil ich davon ausging, dass Sie sich nicht für den Fall interessieren, weil die Täterin weiblich ist.«

»Werfen Sie mir gerade eine einseitige Berichterstattung vor?« Katharina fixierte ihr Gegenüber.

»Das würde mir niemals einfallen«, sagte Wehmann lächelnd.

»Ich gebe zu, Herr Wehmann, mein erster Impuls war tatsächlich, auf Ihre E-Mail nicht zu reagieren. Schließlich ist Stalking ein Straftatbestand, der vor allem von Männern an Frauen verübt wird. Und ich denke, mit einem Blick auf die Zahlen von sexueller Gewalt, sowie den Morden an Frauen und den weiteren Formen patriarchaler Unterdrückung, von Gehaltsunterschieden bis Sexismus, unter denen wir Frauen noch immer zu leiden haben, möchte ich mich nicht zum Handlanger zweier Männer machen, die eine bemitleidenswerte, psychisch kranke Frau dafür benutzten, ihre Partnerinnen zu betrügen.«

Wehmann hob eine Augenbraue.

»Ist das der Eindruck, den Sie von dem Fall haben?«

Katharina hielt seinem Blick stand, ohne zu blinzeln.

»Ja, durchaus«, erwiderte sie. »Darf ich erfahren, warum Sie sich in der Sache so engagieren?«

»Julia K. hat einen Antrag gestellt, um aus der forensische Psychiatrie entlassen zu werden. Holger H. und Sebastian K. leben nun in Angst, dass der Terror wieder von vorne beginnen könnte.«

Katharina stieß ein leises Keuchen aus.

»Die Frau sitzt im Rollstuhl.«

»Ich denke Sie sollten mir zuhören, Frau Lug, dann verstehen Sie, dass das keine Rolle bei der Frage spielt, ob der Terror durch Julia K. fortgesetzt werden wird, sobald sie die forensische Psychiatrie verlässt.«

Katharina schwieg einen Moment und musterte Philipp Wehmann eindringlich. Sie war sich noch immer nicht sicher, ob diese ganze Sache hier nicht möglicherweise ein Fehler war. Kurzentschlossen griff sie nach ihrem Aufnahmegerät.

»Können wir anfangen? Erzählen Sie mir einfach alles was Sie über den Fall wissen.« Katharina drückte auf den Play-Knopf ihres Aufnahmegerätes.

»Schießen Sie los«, sagte sie.

Philipp Wehmann lehnte sich zurück. »Es begann vor etwa zwei Jahren. Sie müssen wissen, das Opfer ist seit vielen Jahren ein Freund von mir. Wir kennen uns von unserem ehrenamtlichen Engagement bei der Freiwilligen Feuerwehr. Sebastian ist ein echt sozialer Mensch, arbeitet als Rechtsanwalt, ist zuverlässig, offen, sympathisch. Einer, den man gern in seinem Freundeskreis hat. Als er seine Anna heiratete waren alle sicher, dass die beiden miteinander glücklich werden.

Anfänglich war alles harmonisch wie im Traum, doch daraus wurde ein Alptraum. Nichts war mehr so wie vorher, alles geriet aus den Fugen. Ihre Ehe, die Kinder und sogar die Existenz standen auf dem Spiel. Die andauernde Situation hatte Anna und Sebastian in ihrem Zusammenhalt sowie Vertrauen geprägt. Mit dem Umzug ins neue Haus trat Julia ins Leben und eine Odyssee an Problemen nahm ihren Lauf. Julia hatte vollkommen den Verstand verloren, sie war außer sich. Es stellte sich später heraus, dass Julias Probleme schon in ihrer Kindheit begonnen hatten. Sie zeigte ein auffälliges Verhalten, verletzte sich selbst und äußerte wilde Beschuldigungen. Es kam so weit, dass Julias Eltern gegen ihre eigene Tochter Anzeige wegen Stalking erstatteten. Mehr noch, sie hatten für ihre Tochter eine gesetzliche Betreuung erreicht, um sie gegen ihren Willen in psychiatrische Behandlung geben zu lassen.

Das setzte sich auch in ihrem Erwachsenenleben fort. Als sie 21 war, machte sie eine Ausbildung zur Verlagskauffrau und verliebte sich unsterblich in ihren damaligen Chef. Dieser wies ihre Avancen zunächst freundlich, dann immer entschlossener zurück. Als er sie dabei erwischte, wie sie seinen Schreibtisch durchwühlte, entließ er sie. Und damit begannen die Probleme erst richtig.

Julia lauerte ihm auf, tauchte vor seinem Haus auf, behauptete sie sei schwanger von ihm. Es kam zu einem Zwischenfall, bei dem seine Frau auf dem Gehweg stürzte und sich am Arm verletzte. Julia wurde zu vier Monaten Gefängnis verurteilt. Eine strenge Strafe, als eine Art Warnschuss gedacht.

Nach der Entlassung kehrte das alte Verhalten wieder zurück. Wegen erneuter Verstöße wurde sie zu vier Monaten Frauengefängnis verurteilt. Julia peinigte ihren Auserwählten täglich mit 80 Anrufen, meistens anonym, damit man ihr kein Fehlverhalten zusprechen konnte. Julia lebt in ihrer eigenen Welt. Für sie ist alles in bester Ordnung. Sie findet keinen Bezug zur Realität, benutzt Freunde, ihre Familie, sogar ihre eigenen Kinder setzt sie auf dieses gefährliche Spiel. Dann war Julia für 20 Monate in einer geschlossenen psychiatrischen Klinik. Nun hatte ihr Opfer für eine Weile Ruhe, weil …«

Katharina hob eine Augenbraue. »Weil?«

»Weil Julia ein neues Opfer fand. Den Vater ihrer beiden Kinder. Ich hatte Gelegenheit, mit ihm zu sprechen. Er lebt heute knapp 600 Kilometer entfernt unter neuem Namen, seine Adresse ist geheim. Zu seinen Kindern hat er keinen Kontakt. Möchten Sie wissen weshalb?« Katharina nickte. »Nur zu.«

Philipp faltete seine Hände. »Ich erzähle Ihnen die Kurzform. Markus L. ist das, was man gemeinhin einen guten Kerl nennen würde. Er stammt aus einem kleinen Dorf im Odenwald und seinem Vater gehörte ein Autohaus. Er ist breitschultrig, im Schützenverein, fährt einen tiefergelegten Golf. Dann stirbt der Vater als er gerade 22 ist und auf einmal gerät sein Leben aus den Fugen. Er bekommt eine Angststörung, Depressionen und der Hausarzt, der die Familie schon lange kennt, verschreibt ihm zuerst Tabletten. Dann weist er ihn in eine Klinik ein. Und in eben dieser Klinik begegnet Markus L. dann Julia.

Er schließt sie fast sofort in sein Herz. Sie ist blond, ganz zart und so verletzlich. Und da sind diese schrecklichen Narben auf ihren Armen. Er hat das Bedürfnis sie zu beschützen. Sie erzählt ihm von Missbrauch, davon, was die böse Welt ihr angetan hat. Der Ex-Chef, der sie vergewaltigt hat und dafür nie vor Gericht kam. Dass sie selbst im Gefängnis war, das verschweigt sie.

Sie müssen sich an dieser Stelle das Setting in so einer Klinik vorstellen. Man ist weit draußen, irgendwo in der Natur. Es gibt Therapien und für das Essen ist gesorgt, aber die Patienten verbringen viel Zeit gemeinsam und man kommt sich näher.

So ist es auch bei Julia und Markus. Die beiden verlieben sich ineinander und noch bevor der Aufenthalt vorbei ist, ist Julia schwanger, und zwar mit Zwillingen.

Markus ist im 7. Himmel und auch seine Familie heißt Julia mit offenen Armen willkommen. Über die Narben auf ihren Armen sieht man hinweg. Auch über ihre Vergangenheit möchte man nicht genau Bescheid wissen. Markus erklärt seiner Mutter Julia habe es schwer gehabt, doch die frisch verwitwete Mutter will das gar nicht wissen. Sie freut sich nur auf die Enkel.

Julia zieht bei Markus ein, das Glück scheint perfekt. Die Kinder kommen zur Welt, doch dann bekommt das Glück Risse.

Julia ist total überfordert, bald liegt sie nur noch im Bett. Markus hofft, dass sich alles bessert, doch es bessert sich nichts.

Markus hält es zu Hause nicht mehr aus. Er trifft sich mit Freunden, ist viel unterwegs. Und jetzt fangen die Probleme erst richtig an.

Julia verfolgt ihn, kontrolliert sein Handy, unterstellt ihm Affären. Als sie ihn einmal dabei beobachtet, wie er mit einer anderen Frau spricht, sticht sie dieser die Reifen kaputt.

Markus kann den Fall abwiegeln, denn eine postnatale Depression wird diagnostiziert. Julia soll Medikamente nehmen. Doch es wird nicht besser.

Um sich Erleichterung zu verschaffen, geht Markus selbst zu einer Therapie. Julia schneidet der Therapeutin die Bremskabel durch, sie stirbt fast, als ihr auf der Landstraße die Bremsen versagen.

Als Markus sie darauf anspricht, dreht Julia durch und zündet das gemeinsame Haus an. Das war zu viel für ihn, er trennt sich von ihr. Die Kinder dürfen bei Julia bleiben, auch weil sie Markus droht, dass er niemals Ruhe vor ihr haben wird, wenn er ihr die Zwillinge wegnimmt.«

Katharina machte sich eifrig Notizen.

»Kehren wir zu Sebastian und Anna zurück, denn ich möchte, dass sich der ganze Horror der Situation, die mein Freund erlebte, auch vor Ihnen entfaltet«, fuhr Wehmann fort. »Sebastian und Anna sind seit zwei Jahren ein glückliches Paar. Die Beziehung ist ernst und ihr zweites Kind kommt in den nächsten Wochen zur Welt.

Sebastian ist schon seit Jugendtagen mit Holger befreundet. Als dieser eine junge Frau kennenlernt, Julia, eine alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern, treffen sich die beiden Familien regelmäßig. Man grillt gemeinsam, macht Ausflüge, fährt sogar gemeinsam auf Urlaub.

Alles scheint perfekt, doch Julia fällt immer wieder durch ein unberechenbares Verhalten auf. Wegen Nichtigkeiten macht sie Holger eine Szene. Kommt es bei ihnen zu einem Streit, terrorisiert sie Anna und Sebastian mit Anrufen. Sie weint, ist vollkommen aufgelöst, fleht die beiden an, ihr zu helfen. Sie behauptet, Holger würde sie misshandeln, was Sebastian nicht so recht glauben möchte. Doch Julia ist überzeugend, ein zartes Wesen, das zerbrechlich wirkt, das man sofort beschützen möchte.

Schließlich trennt sich Holger von Julia. Und damit fängt der Horror erst richtig an.«

Das Leiden der Anderen

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