Читать книгу Das Leiden der Anderen - Mefa Dämgen - Страница 9

Prolog

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Die Welt bestand aus Schmerz. Julia hatte das Gefühl zu zerspringen.

»Nein«, stieß sie hervor.

»Julia, du musst aufhören hierher zu kommen. Du zwingst mich dazu Maßnahmen zu ergreifen, die ich nicht ergreifen möchte. Das ist das Zuhause meiner Familie.«

Volker Friedmann starrte seine Schülerin an, die in einem gelben Regenmantel vor ihm stand. Ihre Unterlippe zitterte, ihre Augen füllten sich mit Wasser. Doch da war noch etwas anderes in ihren Augen, ein Ausdruck, den er nicht zu deuten verstand. Eine seltsame Leere und zugleich eine Art von Trotz.

Es war ein milder Herbstabend. Das Schuljahr hatte gerade erst begonnen. Julia besuchte die 11. Klasse des städtischen Gymnasiums einer schwäbischen Kleinstadt. Sie war ein zierliches Mädchen mit hellblondem Haar, unauffällig und eher still, aber mit einem merkwürdig intensiven Blick. Ihre Noten waren gut, ihre Gedanken klar und strukturiert.

Dann hatte es angefangen, zunächst die Briefe, dann die Anrufe, kleine Liebesbotschaften, harmlose Schwärmereien. Volker Lehmann hatte sich geschmeichelt gefühlt, schließlich war er selbst erst Ende 20. Doch dann hatte Julia damit begonnen ihm nachzustellen, ihm aufzulauern, auf dem Nachhauseweg und jetzt auch bei ihm zu Hause.

»Julia, ich verstehe nicht wie du darauf kommst zu denken, zwischen uns könnte irgendetwas sein. Ich bin dein Kunstlehrer. Ich halte dich für eine kreative und äußerst begabte Schülerin, mit der ich mich gerne unterhalte, aber ich bin dein Lehrer. Ich bin verheiratet! Meine Frau bekommt gerade unser zweites Kind. Du …« Hilflos streckte er die Hände nach Julia aus, nur um sie dann verzweifelt sinken zu lassen.

Unwillkürlich wich Julia vor ihm zurück. Ihre Augen flackerten.

»Du liebst mich«, sagte sie und reckte ihr Kinn. »Ich weiß es. Ich habe es an der Art gesehen wie du mich ansiehst. Im Unterricht kannst du gar nicht aufhören, mich anzustarren.«

Volker Friedmann runzelte die Stirn. »Nein, Julia, das hast du missverstanden, so ist das nicht …«

Jäher Zorn blitzte in Julias Augen auf. Ruckartig machte sie einen Schritt nach vorne. »Willst du es etwa leugnen? Was ist? Bist du zu feige? Liebe hat kein Alter, weißt du das nicht? Viele Lehrer sind mit ihren ehemaligen Schülerinnen zusammen. Ich bin jetzt 16, in zwei Jahren bin ich 18. Ich kann auf dich warten …«

»Julia, hör auf!«, unterbrach Volker sie scharf.

Julia verstummte. Sie biss sich auf die Lippen. Ihre Miene war nun hart und verschlossen, ein einziger Ausdruck der Verbitterung.

»Ich werde niemals mit dir zusammen sein, Julia. Du bist ein Kind. Du musst jetzt gehen, sonst werde ich deine Eltern anrufen oder die Polizei. Hast du das verstanden?«

Julia verschränkte die Arme vor der Brust. Statt einer Antwort ging sie an Volker vorbei, zu der einzigen Bank in seinem Garten und setzte sich darauf. Ihn würdigte sie keines Blickes mehr. Volker schaute zum Haus. In einer halben Stunde würde seine Frau mit seinem kleinen Sohn nach Hause kommen. Bisher hatte er ihr noch nichts von seiner liebestollen Schülerin erzählt, um sie nicht aufzuregen, doch angesichts der Umstände war es nur noch eine Frage der Zeit, bis sie es mitbekommen würde. Er konnte nicht genau vorhersagen wie sie darauf reagieren würde.

Langsam folgte Volker ihr.

»Julia! Du musst jetzt gehen.«

Keine Reaktion.

»Julia! Du kannst hier nicht bleiben.«

Volker starrte Julia an. Er spürte, wie Wut in ihm aufstieg, die er nur schwer unterdrücken konnte.

Irgendwann drehte er sich um und ging ins Haus.

Es dämmerte bereits, als das Blaulicht die Straße in dem Wohngebiet erhellte und zwei Beamte sich dem Garten hinter dem Reihenhaus näherten.

Das Leiden der Anderen

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