Читать книгу Das kleine ABC des Staatsbesuches - Meinhard Rauchensteiner - Страница 6
VORWORT ZUR NEUAUFLAGE
ОглавлениеAls dieses Brevier zunächst erschien, schrieb man das Jahr 2011. Seine Wurzeln gehen gleichwohl auf das Jahr 2005 zurück.
Seither hat sich viel verändert.
Statt Wirtschaftskrise nun Klimakrise, statt einer sich über George W. Bush erregenden Welt eine über Donald Trump staunende. Und in unserem kleinen, aber umso stolzeren Land – um die vorherige Analogie fortzusetzen – Alexander Van der Bellen statt Heinz Fischer an der Spitze der Republik. So betrachtet haben wir es gut erwischt, wenngleich … knapp.
Auch am Schreiber dieser Zeilen ist diese Zeit von fast einem Dezennium (oder eben mehr, je nachdem, welches Jahr als Referenz herangezogen wird) nicht spurlos vorübergegangen. Da eine Schramme, dort ein kleiner Lorbeer, vor allem aber ein altersbedingt sanfterer Blick auf die Welt und ihr Welten. Die Phänomene gleichwohl, um die es in diesem Büchlein geht, sie haben zu allerwenigst sich verändert, jedenfalls nicht so dramatisch, wie eben jene Welt, in die wir auch im globalen Maßstab geworfen sind.
Will sagen: Zeiten kommen und gehen, Protokoll, Diplomatie und Verwaltung bleiben bestehen. Das ist auch eine ihrer Kernaufgaben, die nämlich darin besteht, über scheinbar mitunter inhaltsbefreite Handlungsanweisungen und Regelwerke jenes Minimum an Stabilität sicherzustellen, ohne das weniger fest verankerte Gesellschaftsbereiche schlichtweg vom Mahlstrom der Geschichte mitgerissen würden. Gerade in Zeiten, deren Verlustpotenzial an historischem Wissen exponentiell anwächst und deren kulturelle Haltegriffe kaum mehr ins Blickfeld rücken, kann die als Trägheit verunglimpfte Beharrlichkeit der drei genannten Bereiche rettend sein – speziell im Falle einer politischen Notbremsung.
Damit aber sei keinem Kulturpessimismus das Wort geredet, ganz im Gegenteil geht es darum, all dem mit Respekt zu begegnen, was sich selbst bei hohem Wellengang bewährt hat. Sagt doch schon der Apostel Paulus: Darum prüfet alles, und das Gute behaltet.
Und ganz im Sinne des Paulus, der als Erfinder des Christentums doch auch als Urheber einer bis dahin menschheitsgeschichtlich ungeahnten Ritualisierungsindustrie gelten muss, ganz in seinem Sinne sind Rituale die oft gescholtenen Grundfesten sozialen Zusammenhalts – vom Karneval bis zum 14. Juli, von Weihnachten bis Chanukka oder dem Ramadan, im säkularen wie im religiösen Raum, den 1. Mai inbegriffen. Das Schwinden der Rituale ist daher alles andere als eine Emanzipation oder Befreiung von kulturell auferlegten Zwängen. Es geht vielmehr einher mit dem Schwinden von Gemeinschaft und lässt im geringsten Fall eine Lücke aufklaffen, die von geschäftstüchtigen Gauklern ausgefüllt wird, die um gutes Geld individualisierte Rituale anbieten, die das persönliche Trauern, Freuen oder was auch immer, jedenfalls aber das Persönliche in den Mittelpunkt stellen. What a fail, und erst vor Kurzem schrieb Peter Handke den klugen Satz, dass es – im Zusammenhang mit einer Erzählung – um ein »nicht persönlich (…) vorgesehenes Ritual« ginge. Sehr richtig, denn Rituale sind dazu da, uns an das zu erinnern, was wir nicht morgens im Spiegel sehen. Sie sind ein Anti-Narzissmus-Programm. Und daher heute nötiger den je. Hartmut Rosa und andere kluge Köpfe haben daher den Begriff der Resonanz gegen jenen der Echokammern gestellt. Dienen diese der formlosen Fortschreibung des Immergleichen, nur eben »neu«, erzeugt jene einen gemeinschaftlichen Raum, der für dauerhaftes Zusammenleben unabdingbar ist.
Und darum geht es doch in einem Land, in einem Staat, in einem transnationalen Staatenverbund wie der EU. Dass es Bereiche gibt, auf die wir uns als Gemeinschaft verständigen können, die Stabilität gewährleisten und neben der geliebten oder gehassten oder bewusstlos vorangetriebenen Fragmentierung, neben jenen Singularitäten ein solides Gemeinsames sicherstellen. Dazu dienen Rituale. Und dazu dienen daher auch jene immerhin säkularen Teilbereiche, die als Protokoll und Zeremoniell hoch offizielle Anlässe und Begegnungen strukturieren.
Dass sie heute in den Augen mancher antiquiert wirken, genau das macht paradoxerweise ihre Notwendigkeit evident; als eines jener Elemente, die nicht deshalb überlebt haben, weil ein bürokratisch-diplomatischer Konservativismus sie mittels politischer Eliten über die ihnen eigene Lebensdauer hinaus um der Prunksucht willen erhalten hätte, sondern weil es trotz des Kataraktes neoliberaler Bemühungen, Subjekte zu willenlosen, aber dankbaren Konsumenten zu machen, doch noch ein kollektives Unbewusstes zu geben scheint, das um die Bedeutung Halt gebender Rituale und Formen weiß.
Man sieht, es ist ganz einfach.
Dass Rituale aber immerhin vermögen, die kleine Zeit in der wir sind, bewohnbar zu machen, so viel steht fest.
Sie dienen darüber hinaus als Prozesse, die in der Lage sind, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu verbinden und damit die Flüchtigkeit und Flucht des Einzelnen in eine mit anderen gemeinsame Zeit und einen gemeinsamen Raum zu fassen. Wenn dies, wie internationale Übereinkommen – etwa jenes über den diplomatischen Umgang miteinander – über nationale Folklore hinaus gelingt, dann ist immerhin auch eine am Papier bereits bestehende zivilisatorische Errungenschaft näher gerückt.
Ja, liebe Leserin, lieber Leser, Sie merken, der Ton ist nicht auffallend unbeschwert. Doch seien Sie deswegen nicht beunruhigt. Der Textkorpus selbst – wenngleich ergänzt, korrigiert und überarbeitet in jeder Form – eignet sich weiterhin als Abendlektüre nach anstrengenden Arbeitstagen. Kurzum: Wir meinen es eh nicht so ernst.
Meistens.
Bon voyage!