Читать книгу Das kleine ABC des Staatsbesuches - Meinhard Rauchensteiner - Страница 8

EINLEITUNG

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Als Beamter, da hat man nur die Wahl – Anarchist oder Trottel.

(ARTHUR SCHNITZLER)

Das Leben ist eine viel zu wichtige Angelegenheit, um ernsthaft darüber zu reden.

(OSCAR WILDE)

Ein Staatsbesuch ist die höchste Form, die gegenseitige Wertschätzung zweier Staaten auszudrücken. Deswegen gibt es auch keinen offiziellen Staatsbesuch, einen inoffiziellen folgerichtig schon gar nicht. Schlicht und einfach – und in ebendieser Schlichtheit erhaben: Staatsbesuch. Der Genitiv wird daher auch mit e gebildet. Nicht »des Staatsbesuchs«, nein, »des Staatsbesuches«, damit die beinahe aufdringliche Anhäufung von Zischlauten durch den eingeschobenen Vokal in Wohlklang aufgelöst wird. Eine phonetische Brausetablette.

Der Staatsbesuch existiert nur auf Ebene der Staatsoberhäupter, Besuche auf Regierungsebene (oder zwischen Präsidenten diverser Vereine) gelten nicht als Staatsbesuche, wenngleich sie mitunter – vor allem in den Medien – als solche bezeichnet werden.

Freilich gibt es neben dem Staatsbesuch – oder besser unter ihm – auch andere Besuche, die auf allerhöchster Ebene stattfinden: Den – in absteigender Reihenfolge – Offiziellen Besuch, den Offiziellen Arbeitsbesuch, den Arbeitsbesuch und den Besuch. Diese Formen zeichnen sich allesamt dadurch aus, dass sie einen Teil jener Elemente oder Bausteine aufweisen, die für den Staatsbesuch charakteristisch, unabdingbar, ja eine conditio sine qua non sind. Schließlich kommen noch häufig multilaterale Treffen vor, bei denen sich mehrere Staatschefs und -chefinnen irgendwo treffen und irgendwas besprechen. Noch weiter unten in der zwischenstaatlichen Hackordnung gibt es gar keinen Besuch und auch kein Treffen mehr, sondern nur einen Aufenthalt, z. B. wenn eines der zahlreichen Wintersport-Happenings vom Fürsten von Monaco, der Präsidentin von Lettland oder sonst wem »besucht« wird. Adolf Schärf, der übrigens der erste österreichische Bundespräsident war, der überhaupt Auslandsvisiten unternahm, nannte diese Aufenthalte noch korrekterweise »offiziöse Besuche«. Schließlich gilt es noch zu erwähnen, dass die Anzahl von Staatsbesuchen per anno in manchen Ländern limitiert ist – in der sparsamen Schweiz etwa, wo nur zwei pro Jahr stattfinden dürfen, oder in Japan, wo dem Tenno immerhin jährlich drei zugestanden werden. Über diese Zahl hinausgehende Visiten werden entsprechend anders benannt und entsprechend unanders abgewickelt.

Kein Wunder also, dass es gar nicht so viele Staatsbesuche gibt, wie das ein »Prinz aus Dänemark« vielleicht zunächst vermuten mag.

Damit der Staatsbesuch nicht im »administrativen Augiasstall« (Karl Kraus) mündet, existiert ein Reglement, das international üblich, nicht aber verbindlich ist. Woher es kommt und wieso es diese und keine andere Ausprägung angenommen hat, ist nicht eruierbar. Man macht das eben so. – Wobei das Wort »man« bereits andeutet, dass der Urheber, die causa efficiens, nicht identifizierbar ist (und damit auch klar wird, dass das häufig kritisierte »man« ja eben jene negative Konnotation aufweist, die es durchaus fragwürdig erscheinen lässt, weswegen es denn ein »frau« auch noch geben soll. Genügt es nicht, dass sich das Maskulinum durch einen Ausdruck völlig hilfloser Anonymität disqualifiziert? »Verfallenheit an das Man« nannte Heidegger diese Form der Anonymität. Dass es Frauen erstrebenswert erscheint, an diesem uneigentlichen Modus des Daseins teilzuhaben, erscheint unwahrscheinlich.). Das immer zweckdienliche »Handbuch zur Einrichtung und Führung eines Hofhalts« von Carl Otto Unico Ernst von Malortie aus dem Jahr 1842 bemerkt dazu lapidar: »Alles beruht auf willkürlichen Gebräuchen.«

Was dergestalt als »Protokoll« für zwischenstaatliche Beziehungen aus den unpersönlichen Nebeln der Großmachtpolitik auf uns gekommen ist, soll kein Korsett, kein »spanischer Stiefel« sein, sondern ein Haltegriff für den gesitteten Umgang mit Freunden. Damit wird den formalisierten Abläufen dieser Besuche letztlich die Funktion von sozialen Ritualen zugewiesen, die eben nicht zwischenmenschlich, sondern zwischenstaatlich angesiedelt sind. So, wie der Alltag jedes einzelnen Menschen zu einem Gutteil von codierten Verhaltensmustern bestimmt ist, so dient auch das Reglement eines Staatsbesuches in erster Linie dazu, Begegnungen zwischen staatlichen Funktionsträgern zu beschreiben, Abläufe weltweit kompatibel zu machen und auf diese Weise die Fokussierung auf die Inhalte und Gesprächsthemen zu erleichtern. »Die Zeremonie«, schreibt Roland Barthes in diesem Sinne, »schützt wie ein Haus: sie macht das Gefühl bewohnbar.« Was im Folgenden also auf staatlicher Ebene beschrieben wird, findet sich in abgewandelter Form ebenso im Umgang von Menschen aller Gruppen und sozialen Herkunft. Nicht zufällig hat der englische Philosoph Thomas Hobbes den Staat auch als »magnus homo« bezeichnet und gerade angesichts des Absolutismus einen gleichsam anthropologischen Analogieschluss gezogen, der letztlich auch auf das Mikro-Makro-Modell und damit auf den in esoterischen Kreisen so beliebten Hermes Trismegistos und auf die sagenumwobene Tabula Smaragdina verweisen kann oder könnte. Kurz: Der Staatsbesuch ist die Antwort auf die Frage, wie Staaten untereinander höflich kommunizieren. Das gilt es, bei jedem Augenzwinkern, bei jedem Lächeln oder Lachen im Hinterkopf zu behalten.

Dennoch: Entgegen allen Versuchen zur Vereinheitlichung von Besuchsabläufen kann man ein geradezu babylonisches Protokollgewirr beobachten, und jedes Land hat so seine Eigenheiten: Im Iran singt die Ehrengarde der Armee die Nationalhymne (laut und beherzt), in Brasilien reitet am Ende der Militärischen Ehren die Kavallerie am Palast des Staatspräsidenten vorbei, zur dröhnenden Melodie von »The Final Countdown« (der – nomen est omen – Rockband »Europe«), in Deutschland – wie auch in anderen Ländern – wird das Flugzeug des Staatsgastes von der Grenze bis zum Zielflughafen von Kampfjets begleitet, in Mexiko werden zur Begrüßung von einem Pult aus Reden gehalten, und in einigen Ländern muss der Gast in der Landessprache den Soldaten der Ehrenformation der Armee etwas zurufen, was etwa so viel bedeutet wie: »Guten Tag, Soldaten, Ihr seid klasse Burschen!« (auf Polnisch etwa lautend: »Czołem żołnierze!«). Der Gast selbst versteht natürlich kein Wort von dem, was er spricht, und darf nur hoffen, dass er nicht in eine phonetische Schieflage gerät und Unsinn hinausposaunt. (So geschah es etwa Bundespräsident Rudolf Kirchschläger, der sich bei seinem Staatsbesuch in Polen die Begrüßungsworte für die Soldaten phonetisch in sein Hutband schrieb, um die richtige Formulierung unauffällig ablesen zu können. Unglücklicherweise hatte einsetzender Regen während des Abspielens der Hymnen die Schrift im Hut unlesbar werden lassen – ein typischer Fall für semantische Improvisation. Anders erging es Bundespräsident Thomas Klestil, der dieses Begrüßungsritual noch nicht kannte und bei seinem ersten Staatsbesuch in der Slowakei vom damaligen Präsidenten Michal Kováč mit dem Wort »Rede!« unauffällig aufgefordert wurde, die Gardesoldaten zu begrüßen. Klestil verstand den Vokativ als Nomen, die Grußaufforderung als Vortragsankündigung und hob also zu sprechen an: »Liebe Soldaten! Es freut mich, dass ich heute in Bratislava …« Hier unterbrach ihn Kováč und sagte in knappem Befehlston: »Genug!« – und die Zeremonie nahm ihren weiteren Verlauf.)

In heißen Ländern schließlich stehen die Staatsoberhäupter während der Begrüßungszeremonie unter einem Baldachin, ähnlich einem katholischen Priester beim Fronleichnamsumzug – obgleich diese Variante meist in muslimischen Ländern anzutreffen ist. Man sieht: Was der Vereinheitlichung dienen sollte, unterliegt ebenso spezifisch kulturellen Ausprägungen wie andere Bereiche des Lebens auch. Oder, um das Gesagte mit der Autorität des Weisen zu untermauern: »Nicht nur jedes Land hat seine eigenen Umgangsformen, sondern auch jeder Stand.« (Michel de Montaigne). Besonders diese letzte Erkenntnis findet ihre realhistorische Untermauerung in jener Anekdote, wonach der Sozialdemokrat Karl Seitz 1906 im Gehrock, und nicht im vorgeschriebenen Frack, bei Kaiser Franz Joseph zur Audienz erschien. Vom Kaiser auf diesen Umstand angesprochen, sagte Seitz: »Majestät, auch das Proletariat hat sein Zeremoniell.«

Allen Verlockungen zum Trotz möchten die folgenden Seiten aber keine Abhandlung über »das Protokoll« sein, schwankend zwischen akademischem Traktat und Kriegshandbuch; eher ein kleiner Führer, auch Guide genannt, der systematisch, aber unvollständig Einblick in die höchsten zwischenstaatlichen Abläufe bietet. Es geht weder darum, auf diesem Weg zu einer allgemeinen Staats(besuchs)lehre zu gelangen, noch darum, eine Philosophie vorzulegen. Nicht etwa deshalb, weil eine Philosophie nicht billig zu haben wäre. Selten standen die Leitzinsen für intellektuelle Hochstapelei so niedrig. In einer Zeit, da jeder bessere Waschmittelhersteller über eine Philosophie verfügt (ganz zu schweigen von Milchsäureprodukten und Müsliriegeln, die sich ganzer scholastischer Lehrgebäude erfreuen) und in der ein einfacher Beweggrund (causa finalis) bereits zum System mutiert, angesichts solcher Entwicklungen wäre eine Philosophie tatsächlich billig zu haben. Nimmt man sie aber beim Wort, so gibt es Wissenschaft nur vom Allgemeinen, wie Aristoteles in seiner »Metaphysik« schreibt, und der ständige Rückfall ins Besondere ist Wissenschaft wie Philosophie gleichermaßen abträglich. Das Besondere ist nun aber wiederum das Salz des Staatsbesuches, sein unverwechselbarer Charakter, sein Charme – und sein Ärgernis. Es zu streichen hieße, das Skelett für den ganzen Menschen ausgeben, wenn wir diese leviathanische Metapher aus der Staatslehre heranziehen. Erst die Eigenheiten, die Eigentümlichkeiten lassen erahnen, mit wie viel Freude und Vergnügen der Freundschaft der Völker auf Beamtenebene gedient werden kann. Dass für die folgenden Seiten schließlich auch konkrete Ereignisse zur Illustration herangezogen werden, findet seine literarische Legitimation in der schönen Formulierung Bruno Kreiskys, wonach »sich in Österreich fast alles in Anekdoten auflösen lässt, auch die ernsteren Dinge«. Dem persönlichen Lebensweg des Autors (also von mir) ist schließlich der Umstand zuzuschreiben, dass Beispiele und historische Bezüge beinahe ausschließlich »austro-zentristisch« sind und zudem einem Zeitraum von dem Jahr 1999 bis zur Gegenwart entstammen.

Die Choreografie für einen Staatsbesuch zu schreiben, oder auch nur zu beschreiben, mag verschroben wirken, und mancher Beobachter wird den Kopf schütteln ob der tausend Nebensächlichkeiten, die es zu bedenken, zu formulieren und zu organisieren gilt. Es ist aber allemal besser, aufwendige Skizzen für Freundlichkeiten zu zeichnen als Aufmarschpläne für Truppen. Lieber Theaterdonner als wieder einmal einen Blitzkrieg. Und auf die Frage: »Ja ham die keine anderen Sorgen?«, möchte ich sagen: »Nein! Gott sei Dank nicht«, Der Staatschoreografie liegt die Idee zugrunde, dass persönlicher gesitteter Umgang und unpersönliche oder überpersönliche Ziele (Moral, Ethik, das Gute und solche Sachen) miteinander in Verbindung stehen und keine disparaten Lebenswelten darstellen.

Man wird bemerken, dass die drei großen Blöcke, aus denen sich Staatsbesuche zusammensetzen, im Wesentlichen aus Militärischen Ehren, dem Arbeitsgespräch und dem Staatsbankett bestehen. Vielleicht wird mancher fragen, was denn das Arbeitsgespräch in dieser Trias zu suchen hat, aber auf eine so offensichtliche Polemik muss man gar nicht weiter eingehen, oder? Legitimer ist sicherlich die Frage, weshalb einer hoch ritualisierten Nahrungsaufnahme wie dem Staatsbankett ein so beachtlicher Stellenwert eingeräumt wird. Der Grund hierfür liegt in den Abgründen. Nämlich jenen der Kulturgeschichte, die ja bekanntlich für jeden ein Häppchen bereithält. Das gemeinsame Mahl ist nämlich nichts Geringeres als ein Sinnbild der politischen Gemeinschaft. Deswegen haftet ihm von Petronius bis Asserate, vom Satyricon bis zum Bestseller »Manieren«, immer etwas Politisches an, wie umgekehrt das Politische immer mit irgendeiner Form von gemeinsamem Essen verknüpft ist. Die philites, die Gemeinschaftsmahle, sind solcherart die seit den Spartanern überlieferte Form, Gleichheit, und damit »Brüderlichkeit«, modellhaft zu verwirklichen. Aus dem Fressen erwächst die Moral! Und um sie herum sammeln sich die Staaten als Brüder.

Daher ist die Sorge um eine freundschaftliche Atmosphäre bei Staatsbesuchen keine geringe und nicht gering zu achten.

Und damit das auch so bleibt und die zwischenstaatlichen Probleme nicht mutieren, pervertieren, wie schon so oft, und damit nicht Verhandlungsgeschick durch Opfermut abgelöst wird, darum, nicht zuletzt, gibt es auch die schöne Kunst des Staatsbesuches.

Voller Bewunderung und demutsvoll und so respektlos, wie nur ein Liebhaber sein kann, sei sie beschrieben.


Das kleine ABC des Staatsbesuches

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