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Das Heil der Welt

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Das Licht des neuen Welttages überfiel den dämmernden Frieden der Täler so unwiderstehlich wie der Morgen die Mondnacht. Die Hirten, die ihn von Vätern und Urvätern geerbt, ohne seines Ursprungs und der Verheißung noch zu gedenken, schauten auf ihren Weiden schlaftrunken in die wachsende Helle und schieden sich voneinander wie alles Lebendige unter dem Licht. Aus dem gelockerten Erbgut stiegen Sagen wie Blumen auf, alte Sprüche gewannen Macht.

Als der Glaubensbote Ruotpert ruhenden Mähern die Erschaffung der Welt erzählte, erwachte im sonst verschlossenen Mund eines Hirten die Kunde vom uralten Streit des Strahlenden wider den Finstern wie eine frische Erfahrung noch einmal zum Leben. Ruotpert hielt sie für wahr, lobte den Hirten und verkündete mit der ansteckend freudigen Gewißheit des ganz vom Glauben durchdrungenen Mannes, daß der Strahlende einen Siegeszug ohnegleichen durch die Menschheit angetreten habe und Jesus Christus sei, der eingeborene Sohn Gottes, vor dem der finstere Teufel und Fürst der Hölle geblendet weiche.

Ein Mönch kam aus den rätischen Tälern durch das Urnerland nach Swits gefahren und berichtete von einem dem Heiligen Kolumban geweihten Gotteshaus im Urserental, das den Eingeborenen auf wunderbare Weise zum Segen gereiche. Ruotpert gewann darauf zwölf Männer, die ihm helfen wollten, dem Herrn ein solches Haus in Swits zu zimmern; er verlangte aber steinerne Grundmauern, damit das höchste Gut hier sicher ruhe, und die Männer führten Steinblöcke aus den Bächen.

Von den Bergen aus Mittag wanderte ein fränkischer Pil­grim herab und blieb drei Tage im Tal. Er kam aus dem großen, sonnigen Reich des Mittags. Über das Gebirge, berichtete er, steige im Sommer ein rüstiger Wanderer ohne Gefahr. Er war beim heiligen Vater der Christenheit gewesen, in der Stadt Rom, die von heidnischen Sarazenen bedrängt werde; von dieser Not erzählte er, doch hörten die Switser nur halb darauf und wollten vielmehr wissen, seit wann man sich über das Gebirg wage, ob da ein Pfad sei, woher man aufsteige und wo man jenseits hingelange, ob Rosse hinüber kämen, wie Land und Menschen drüben beschaffen seien.

Der Pilgersmann gab lächelnd Auskunft, und die Hirten standen schweigend da, ausgefüllt von den Bildern des Abstiegs aus Schnee, Gestein und Nebel in warme Lüfte unter unendlich blauenden Himmel zu gewaltigen Herden, Palästen und Fruchtgeländen. Ein uralter, sehnsüchtiger Wille, von dem sie nichts mehr wußten, stieg aus dem Erbe des Blutes traumhaft in das Zwielicht ihrer Tage hinauf und wob weiter am Bild des mittäglichen Landes.

Der Hunn hatte einen Reichstag besucht und den Kaiser gesehen, er kehrte überwältigt heim, erzählte, daß alle Menschen getauft seien, und beugte selber das Haupt zur Taufe. Die Genossen gliederten auf seinen Rat ihre Mark in Viertel. Aus der hohlen Hand des Mönches floß geweihtes Wasser Tag für Tag über die Scheitel neuer Täuflinge.

So begann das Volk nach den zeitlos vergangenen Werktagen des Hirten, Alltagen eines ewigen Tuns, sich in die zeitliche Welt einzufügen, doch war sein Wesen innen nicht verwandelt, sondern auseinandergetreten, und es geschah wieder Unfaßbares. An einem Thing, der auf Ruotperts Rat im Namen Jesu Christi anhob, stand plötzlich ein bärtiger Greis auf und wankte in die Mitte des Volkes und rief, die Arme wild emporgeworfen, wie verstört: «Wer ist der Fremde? Mir war es aufgetragen … warum habt ihr nicht nach mir verlangt … verflucht, zu spät … schlagt mich tot!» Mit diesem heiseren Rufe warf er sich zu Boden. Das betroffene Volk erkannte in ihm ein halb vergessenes, scheues, wunderlich einsames Wesen, und niemand legte Hand an ihn, sondern sie führten ihn hinaus. Der Ärmste schwankte aber der Muota zu und stürzte sich in das reißende Wasser, das seinen Leichnam wieder ans Ufer spülte. Niemand faßte, was da geschehen war.

Schatten griffen auch nach dem heitern, mächtigen ­Ulrich, dem Hunn der Switser Hundertschaft. Ulrichs junger Schafhirt Fönno kam drei Tage nach dem Auftrieb von einer ­östlichen ­Berg­allmend herabgelaufen und erzählte stammelnd noch vor Schreck, daß in der Morgendämmerung fremdartig hochgehörn­te Tiere unter der Herde gewesen, bei seinem Anblick aber in den nahen Fallenfluhwald geflohen seien und alle Schafe mitgerissen hätten. Er sprang ihnen nach, ging im Wald aber irr, weil ein Wolfspaar, das er mit eigenen Augen sah, in die flüch­tige Herde brach und das klägliche Blöken der Versprengten ihn bald dahin, bald dorthin lockte. Dann wurde er am Fuß gepackt und bis zur Lende in einen Spalt hinabgezogen. Er entrann dem und folgte einem Wildpfad durch das Dickicht bis zu einem Felsblock, wo ihn silberner Rauch umfing. Ringsum hörte er es rauschen, blöken, stöhnen, laufen und pochen. Da sah er durch den Rauch die Sonne aufgehen, schloff, kroch, lief ihr entgegen und kam laut rufend und lockend, von wenigen Schafen gefolgt, nach Mittag erschöpft und blutig zerkratzt auf die Weide zurück.

Ulrich schwieg dazu. Es war Abend, und viele standen noch da vor den Häusern, aber alle schwiegen. Der Rest der Herde war verloren. Der junge Hirt schaute traurig zum hohen, dunklen Saum des Fallenfluhwaldes hinauf und wußte nichts mehr zu sagen.

Dieser Wald begrenzt auf breiter, felsgestirnter Bergstufe den Himmel gegen Aufgang. Seine Wipfel greifen ins erste Morgengold, von ihm wirft sich die Nacht ins Tal, seinem Geäst enttaucht der Mond, der große Jäger Orion steigt über ihn her in den Winterhimmel. Zwei Wesen von übermenschlicher Art verwehren sich in seiner Tiefe seit Anbeginn den Austritt in die Welt, ihre Speere krachen, ihre Schilde dröhnen durch die Lanzignächte. Sein Dickicht birgt goldene Dünste und giftige Nebel, seine Moosklüfte behausen glotzende kleine Drachen. Aus dem gegenwärtigen Geschlechte waren zwei Fallensteller in ihm versunken, ein Kräuterweib war ihm nur mit gelähmter Zunge entwichen.

Ulrich nickte seinem Hirten, der die Strafe erwartete, gütig entschuldend zu und erwiderte auf Fönnos scheuen Dank: «Dank dem Lichte, das dir dort erschienen ist!»

In der Dämmerung unter einem Nußbaum stand der Mönch Ruotpert vor Ita, noch immer vom Leben heiliger Frauen erzählend, obwohl alle Mädchen bis auf dies eine rings im Abend verschwunden waren, und begann um diese eine Seele, die dem höchsten Heil ergeben schien, glühender zu werben. Ita, Ulrichs des Hunno jüngste Tochter, schaute überwältigt in das fremde Angesicht, das wärmer, feiner, edler war als jedes, und erfaßte den Sinn der Worte nicht mehr hinter ihrer wachsenden Glut; sie spürte bebend auf ihrem Scheitel die schmale Hand, die nur segnen wollte, hob ihre Augen dem brennenden Blick entgegen und warf sich in der innigsten Verwirrung an den Mönch.

Ruotpert, Brust an Brust mit der Jungfrau, den Nacken von ihren Armen umschlungen, den Mund vor ihren dürstenden Lippen, schwieg erbleichend und wehrte sich mit aller geistlichen Kraft wider sein eigenes Blut. Er riß den Kopf zurück, tauchte den Blick durchs Baumgeäst in den Abendhimmel und löste laut betend die Mädchenarme von seinem Nacken. Aber ihre Hände ließ er nicht los und führte sie, eh die Scham sie ganz verstörte, mit gütig klärenden Worten unter die Menschen zurück, die spielend oder ruhend vor ihren Behausungen die Nacht erwarteten.

Er selber floh in seine Klause und stritt auf den Knien vor dem Kreuz wider die Versuchung, die ihm nachschlich wie ein böser Wurm. Um Mitternacht legte er sich zur Ruhe, doch eh er einschlief, brach das Bild der schrankenlos willigen Mädchen­gestalt durch seine geschlossenen Lider, er kniete betend auf und ließ nicht ab, bis er vor Müde schlafend hinfiel. Aber der finstere Herr des Traumes legte das Mädchen in seine Arme, er sprang stöhnend vom Lager, packte die Geißel und schlug seinen Leib. Er siegte für diese Nacht und lag im Morgengrauen mit zusammengepreßtem Munde schlafend langhin auf dem nackten Fußboden.

Zu dieser Zeit kam ein neuernannter Gaugraf hergeritten, der für einen Heerzug dem Kaiser auch aus diesem Tal die pflich­tige Mannschaft zuführen sollte; er ließ aber keine Ausflucht gelten wie der mildere Herr, der vor ihm dieses Amtes gewaltet, sondern verlangte unerbittlich nach der Satzung, daß jeder mit vier Huben begüterte Freie selbst ausrücke und sonst auf je vier Huben ein Mann. Da geriet der Hunn in arge Bedrängnis, denn früher war ausgezogen, wer wollte, und immer noch hatte eine aben­teuerlustige Jungmannschaft die Heeresfolge gern geleistet; er gedachte aber nicht wider den Grafen zu handeln und gebot, daß man in Gottes Namen folge. Das verdroß die älteren Leute. Der Freie Cunrat im Hof erwiderte dem durch seine Weide reitenden Grafen auf die Frage, wann er sich wohl zu rüsten gedenke: «Ich muß heuen, Herr, und habe keinen Feind.»

Auch Burkhard Rato, Itas Jugendgespiel und nach der Voraussicht beider Sippen ihr künftiger Gatte, war nicht willens, seinen großen Hof im östlich aufsteigenden Talwinkel, wo nachts die Wölfe zum Wald aus kommen und kein anderer Herde und Haus zugleich im Griff behalten konnte, zu verlassen; vielmehr gedachte er nun, die endlich reife und begehrenswerte Tochter Ulrichs als Eheweib zu nehmen, obwohl er das Mädchen sich nicht gar gefügig wußte. Er schwang sich im guten Gewand auf sein schönstes Roß und ritt, vom Hörigen Schuppli begleitet, zum Hunn auf die Freite.

Ulrich versprach dem bewährten jungen Bauern die Tochter, ohne des Grafen Aufgebot mit einem Wort zu streifen, und rief sie herbei.

Ita erkannte in Burkhard, den sie als starken Wildling bewundert und als rühmlich von fränkischen Zügen heimkehrenden Krieger mit Wohlgefallen angesehen hatte, erst jetzt, da er ge­­schoren, sauber und ernst vor ihr stand, den seßhaft gewordenen Freier. Sie erschrak aber mehr vor dem einverstandenen Gesichte des mächtigen Vaters, das noch in seinen strengsten Furchen von seltener Milde schimmerte. Sie bat ihn um Aufschub. Er bewegte erstaunt den Kopf und blickte fragend den jungen Mann an.

«Wozu den Aufschub, Ita?» rief Burkhard. «Wenn du nicht willst, sag es jetzt!»

Der Vater maß sie beide grollend. «Seid ihr einig oder nicht?»

Burkhard bat gelassen, auf kurze Frist nach seinem Rosse sehen zu dürfen, das sich mit fremden Stuten schlecht vertrage, und ging zur Tür.

«Halt, du bleibst!» rief Ulrich. «Ita, du bist dem Burkhard Rato doch wohlgesinnt?»

Ita nickte.

«Will dich ein anderer?»

Ita schüttelte errötend den Kopf.

«Burkhard, willst du sie zum Weibe?»

Rato blickte forschend auf das Mädchen, das hilflos in sich gewandt mit den Händen die zwei braunen, voll zum Gürtel fallenden Haarflechten preßte, und antwortete entschlossen: «Ja, ich will sie!»

«Wohl, so einigt euch!» entschied Ulrich und verließ sie. Er ging zum Gestüt in den gewaltigen Gaden, klopfte Ratos auserlesener Stute den Hals und fragte den Hörigen nach seiner Mutter Berchta.

«Sie wird von einem Teufel zugeritten, heißt es, Herr», antwortete Schuppli, «dem Mönch muß einer auf den Fersen hierher nach Swits gefolgt sein, doch hat sie auch von Christenleuten Zulauf.»

Der Hunn schüttelte verweisend den Kopf. «Schwatz nicht von Dingen, die du nicht verstehst! Christen sind wir nun alle.» Er ging weiter, aber dann stellte er sich den geschwänzten Satan reitend auf der talbekannten Alten vor und lachte lautlos vor sich hin.

Rato fand den Hunn mit einem jungen Hengst auf der Weide. «Wann wollt Ihr den satteln?» fragte er, ruhig hinzutretend.

«In den nächsten Tagen», gab Ulrich zurück. «Komm etwa vorbei … schau, wie er läuft!» Er packte den Hengst an der ­Mäh­ne, lief mit ihm eine Strecke und blickte, Anerkennung fordernd, mit hochgezogenen Brauen stumm auf Rato.

Der nickte lächelnd. «Aber ist er nicht zu leicht für Euch?» fragte er.

«Das ist er», gab Ulrich zu. «Für dich wär er grad recht. Mit deinem alten Normannen darfst du abfahren. Das ist ein Ungar.»

Sie gingen, die und jene Rasse rühmend, zur Stallung. Rato nahm Abschied und ritt mit Schuppli heimwärts. Er ritt auf Umwegen über ausgesuchte Hindernisse, und wenn die Stute nicht beim ersten Anlauf sprang, spornte er das edle Tier so jähzornig in die Flanken, daß der Hörige, der es aufgezogen, laut zu murren begann.

Andern Burschen und ledigen Männern stieg indes ein Erb­teil mächtiger ins geweckte Blut, und sie fanden einander auch rasch genug, um noch das gräfliche Aufgebot nach ihrem Sinn zu nützen; eines Morgens stand unerwartet eine gerüstete Hundertschaft der kräftigsten jungen Switser im Frühlicht vor den Häusern, und aus der ganzen Talschaft kamen Leute zum Abschied.

Der Gaugraf, der sich wider Willen hier hatte versäumen müssen, umritt mit endlich dennoch gnädiger Miene die Schar, gab ihr zur Führung aus seinem Gefolge einen Ritter mit zwei Knappen bei und schickte sich an, vorauszureiten. Er saß auf ­ seinem Hengst vor dem verwunderten Hunn und etlichen Alten, Urteilern des Things, als auserlesener Edelmann, mit Silberspangen, in doppeldrähtiger Brünne, glänzend im schrägen Strahl der Sonne, und gab die letzte Weisung. In jedem Viertel der Mark sei eine Hundertschaft zu bilden. Am Gotteshausbau sei jeder zu wirken verpflichtet, und das Haus sei bis zum nächsten großen Thing zu vollenden; dies gebot er einverständig mit Ruotpert, der ihn darum gebeten hatte. Er faßte die Lagernden noch einmal ins Auge, nickte dem Hunn und den Alten zu, wandte sein Roß knapp um und ritt es, vom Schildhalter und zwei Edelknechten gefolgt, im Trab auf den Weg zur nördlichen Einsattlung, durch die der reisige Zug nach ihm das Tal verlassen mußte.

Der Ritter prüfte den Mundvorrat und die Waffen der Mannschaft, gebot zu ergänzen, was mangelte, ordnete den Zug und ließ aufbrechen. Er schaute vom Roß herab zu. Der Zug schritt aus. Da bog die Spitze aus der befohlenen Richtung in scharfem Winkel nach Mittag ab, die ganze Mannschaft brach in dröhnendes Gelächter aus, kehrte, den Winkel abschreitend, dem Ritter den Rücken und zog unbändig jauchzend, rufend, lachend nicht dem Grafen nach, sondern dem Gebirge zu nach Mittag.

Der Ritter rief, schimpfte, sprengte dem Zug entlang und forderte, quer vor der Spitze haltend, die andere Richtung, aber der gewaltige Flügelmann Heiri von Schönenbuoch führte ihn, die Zügel unter dem Roßkinn fassend, abseits zu den nicht minder erstaunten Richtern und dem bestürzten Hunn, hielt den Sturm der Fragen lachend aus und sagte darauf: «Ihr, Ulrich, mögt verzeihen, daß wir’s geheimgehalten. Wir ziehen über den Axen und auf dem Fußpfad ob dem See nach Uri, dann übers Gebirg und nach der Stadt Rom, dem heiligen Vater beizustehen gegen die Sarazenen. Der Herr da mag dies dem Grafen so vermel­den, uns dünkt es wichtiger als das andere und freut uns halt gar unmäßig. Lebt wohl!»

Ulrichs kräftige Rüge und des Ritters Schimpf, daß sie zucht­lose Abenteuerer seien und Rom nie sehen würden, überhörte Heiri und sprang aufjauchzend in langen Sätzen dem reisigen Haufen nach, der auf die Schönenbuocher Höh zuhaltend, mit Schwertern, Schilden, Spießen, Bogen, Äxten laut und froh nach Mittag zog.

Ita verließ die Zuschauer und den Sammelplatz mit tiefem Bangen, da Burkhard Rato nicht ausgezogen war und also der Zwang bevorstand, dem sie nichts entgegenzusetzen hatte als eine verworfene Liebe. In heilloser Verstrickung begann sie nach dem Worte Gottes aus Not zu begehren und empfing den Leib des Herrn, doch in ihrem armen Herzen wohnte sein irdischer Mittler. Sie verlangte mit dem Mönch allein zu reden, aber Ruotpert wies sie an seinen geistlichen Bruder Otfried, der in allen Tä­lern um den See aushalf. Sie folgte und saß am selben Abend und manchen darauf in der Kapelle zu Füßen eines seelekundigen Mönches, der in ihr Herz, das falsche Bild verdrängend, das wahre des lebendigen Gottessohnes eingrub. Sie lernte Widerstand gegen das Irdische, versagte sich Ratos drängender Werbung und verlangte gegen den Willen des Vaters, der vor dem jüngeren Genossen eher seine Hand als sein Wort brach, ihr Heil im Kloster zu suchen.

Ruotpert merkte indes verwundert, daß auf des Grafen Geheiß, die Kirche zu bauen, nicht nur kein neuer Arm sich rührte, sondern auch die ersten freiwilligen Werker zu Hause blieben. Das verdroß ihn nicht, er begann mit seinen eigenen schwachen Händen Erde auszuheben, erwirkte sich die Für­sprache des Hunns und gewann noch einmal ein Dutzend Helfer. Das Werk schritt langsam fort, bis die alte Berchta auf den Grundmauern öffentlich ihre Notdurft verrichtete und Ruotpert selber die Bauleute heimschicken mußte, um den entweihten Grund wieder einzusegnen.

Burkhard Rato, der sich von diesem Gottesmann betrogen wähnte, umgab ihn mit hässigem Mißtrauen und ließ Ita durch seinen Hörigen Schuppli Tag und Nacht belauern. Er wurde eines frühen Morgens, lang vor Aufgang, vom Hörigen aus dem Schlaf gerissen durch den Ruf, daß Ita flüchtig mit dem Mönch talaus reite, er sprang auf, sattelte und jagte mit Schuppli den Flüchtigen nach.

Ita ritt in der Dämmerung durch den Wald zur nördlichen Einsattlung. Auf ihrem leicht gebogenen Nacken saß die Angst vor dem, was hinter ihr geschehen mochte, ihr vorgebeugtes An­ge­sicht war voll zaghafter Hoffnung auf den himmlischen Bräutigam und die erlösende Zuflucht frommer Frauen. Neben ihr ritt mit dem Bündel ihrer Habe barhaupt der gute Mönch Otfried, der ihr zur Flucht verholfen hatte und weiter helfen wollte bis ins Kloster. Unablässig trieben sie die Rosse an und ritten stumm und eilig nebeneinander durch die Heerschar dunkler Stämme, während der Morgen oben um die Wipfel graute.

Da hörten sie durch das stete Schritteklopfen der Rosse hinten polternden Hufschlag, sie wandten sich erschrocken im Sattel um, schlugen ihren Gäulen die Haselrute auf den Schenkel und holperten auf dem steinigen Waldweg hoffnungslos ­dahin. Im Schnauben der fremden Tiere versuchte Ita noch verzweifelnd, durch das seitliche Dickicht zu brechen, aber schon waren vier Rosse schlagend und beißend geknäuelt, eine Faust riß den Mönch über die Kruppe zurück, ein Hengst erhob sich, und hinter seinen bebenden Nüstern tauchte im Halbdunkel Ratos hartes Gesicht auf. «Kehr um!» rief Rato, seinen Hengst ­bezwingend, und packte Itas Roß an der Mähne. «Laß los!» schrie Ita. «Laß mich! Ich kehre nicht um.»

Otfried sprang, den Hufen entrinnend, neben dem Mädchen auf und warnte in heiligem Zorn: «Wahre dich, Burkhard Rato, hier gilt Gottes Wille, nicht der deine!»

Rato schlang, mit einem Fuß im Bügel stehend, den rechten Arm um Ita, riß sie auf sein Roß herüber, entwand sich dem Gedräng und kehrte um. «Wie schwach und hilflos haben sie dich gemacht!» raunte er. «Von deinen Schwestern hätt’ sich keine ergeben, ohne zu schlagen und zu beißen.» Während hinter ihm der Hörige den Mönch anfeixte, ritt er im Trab mit hän­genden Zügeln durch den Wald zurück, die Geraubte an sich ­gepreßt, trabte draußen eiliger über die Weiden und sprengte ­endlich, als im goldenen Morgenlicht die ersten Mäher aus den Hütten traten, mit der nächtigen Beute dampfend in den Hof.

Otfried kehrte traurig bei Ruotpert ein, und dieser sprach von nun an offen über die rohe Tat sein Urteil. Des Weibes unsterbliche Seele, verkündete er vor Männern und Frauen, verbiete dem Mann nicht nur gewaltsame Werbung, sondern fordere von ihm Ehrfurcht und zarte Schonung. Dies gefiel den Frauen wohl, doch ein Übelgesinnter rief: «Eh Ihr die Weiber schwach und feig gemacht, hat noch keine um Ehrfurcht und Schonung gebettelt, sondern im Gegenteil erfahren wollen, was ein Mann ist.» Dies rief er, kehrte sich ab und stapfte davon. Ruotpert ­erzählte aber, wie das Weib schon überall des adligen Mannes besonderen Schutz und höchste Achtung genieße, und die Frauen hörten ihm gern zu.

Mit Otfried beriet er sich noch manchen Tag und begleitete den Scheidenden eines Abends zum See. «O Bruder, wie mich gelüstet, den Kampf aufzugeben und in der Einsamkeit dem Herrn mich ganz und gar zu weihen», gestand er müde. Otfried erzählte aber von den Leuten um den Kernwald, zu denen er fuhr. «Sie sind getauft und gläubig … aber die Anfechtungen des Bösen sind viel gewaltiger als hier … lieber Bruder … er haust dort in Drachengestalt, die Hirten zittern vor ihm, und eh ich ihn nicht vertilgt habe mit diesen meinen Händen, mit denen auch ich lieber einsam anbeten möchte, hab’ ich nichts getan, das auch nur des geringsten dessen würdig wäre, was Jesus Christus – sein Name sei gelobt in Ewigkeit – für uns getan.» Er nahm am Ufer Abschied und ruderte einsam hinaus gegen Untergang. Ruotpert sah ihn noch draußen vor dem rotglühenden Himmelsgrund aufrecht im Einbaum stehend mit ausgebreiteten Armen sein Abendgebet verrichten.

Den Leidensweg des Herrn vor Augen, trug Ruotpert die Sendung an dies schwer verwurzelte Hirtenvolk geduldiger und bedurfte der Geduld und Stärkung bald genug. Die steinernen Grundmauern des Switser Gotteshauses, das langsamer wuchs, als ein Baum aus der Erde wächst, kränzte jetzt ein niederes Holzgefüge, aber schon querte wieder ein Verhängnis den Glaubenseifer der freiwilligen Werker. Einer der unbehauenen Tannen­stäm­me zerdrückte dem Illo, der sie hergeführt, den rechten Fuß. Ein Stamm war von oben bis unten vom Blitz gezeichnet und dennoch unversehrt. Über einem andern Stamm zerbrach dem Behauer das Beil in der Hand. Illo gestand beklommen, daß die Tannen aus dem Fallenfluhwald stammten; sie seien vom letzten schweren Sturm entwurzelt über die Fluh hinuntergeworfen und von ihm mit Hilfe etlicher Muotataler aus Vertrauen auf den neuen heiligen Zweck hierher geführt worden. Die Werker standen da und sagten kein Wort dazu, dann nahmen sie ihr Zeug gelassen zusammen, gingen mit Gleichmut andere Dinge beredend heimwärts und erschienen nicht mehr. Der Mönch mochte die Kirche selber bauen oder sich mit der Kapelle begnügen.

Burkhard Rato legte Ita nach sieben Monden die Hand auf den Leib und spürte, daß sie keine Frucht trug. Er wurde finster, doch wartete er noch einmal sieben Monde, dann trat er in Ruotperts Zelle. Der Mönch stand vor dem finstern Mann und fragte nach seinem Begehr. «Vierzehn Monde sind um, seit ich Ita zu mir genommen habe», begann Rato, Ruotperts Miene belauernd, «und noch immer ist kein Zeichen da, daß sie Kinder haben wird.» Der Mönch senkte den Kopf. «Gottes Wege sind also wunderbar», sagte er leise; als Rato darauf schwieg und er fragend aufschaute, traf ihn ein stechender Blick, er schrak zusammen, verstand und rief abwehrend: «Ich errate deine Gedanken, Burkhard Rato, aber du täuschest dich.» Rato packte seinen Arm. «Du wirst den Bann von ihr nehmen, oder ich erschlage dich!»

Der Mönch antwortete, ohne den schmerzenden Griff zu beachten, mit heiterem Ernst: «Gott allein kann nach seinem allmächtigen Willen verwehren oder zulassen, daß eines Weibes Schooß gesegnet werde. In meiner Macht steht es nicht, und wenn du mich darum erschlagen willst, so erschlage mich. Es wir­re dir aber besser, des Allwaltenden Hand hierin zu erkennen. Ita war bereit, sich ganz dem Herrn zu weihen, nun siehst du wahrlich, daß nicht nur ihre Seele, sondern sogar ihr Sterbliches deinem Willen entzogen ist. Gelobt sei Jesus Christus, der sich uns durch dies Zeichen kundgibt!»

Rato schaute den Mönch an, der so lauter glühend dastand, daß ein Schein von ihm ausging, und schlich sich aus der Zelle wie ein geblendeter Hund.

Ita litt ergeben, weil auch der Herr gelitten, und zehrte ­wochenlang von einem tröstenden Wort, das ihr die treue Magd Richenza aus dem Munde Ruotperts überbrachte. An einem Win­terabend aber, als um das Haus ein ungeheurer Lärm anhob und Rato stürmisch fragte, ob sie bereit sei, brach eine solche Angst in ihr aus, daß sie um Beistand flehend Richenza zum Mönche hetzte. Der Lärm nahte, die Tür sprang auf, Getöse erfüllte die Kammer, vermummte Gestalten umtanzten sie wild, packten sie, schwangen sie hoch und trugen sie fort, hinaus, talab. Der Lärm schwoll an, die Rotte wuchs, Ita fuhr auf Schultern, Armen, Händen halb von Sinnen durch die Luft und kam am Ende der Fahrt in jäher Stille und scharf andringendem Bocksgeruch erschrocken zu sich.

Sie saß im zerwühlten Gewand mit aufgesträhntem Haar auf Tannreisbündeln, von Moos, Erlengestäud, Schneefetzen und schwarzen Lachen umgeben im öden Moor der Talmitte. Gewaltige Wolkenschübe fuhren hastig von Untergang her, aus taumelnden Himmelsklüften starrte und schwand der Mond, die Luft war lau und feucht, die Erde roch. Eine heisere Stimme aus dem Kuhgrind einer unförmigen Gestalt, die groß, grau und reglos auf dem höchsten Mooshügel hockte, hob einförmig zu rufen an und schloß mit einem Schrei, der ein betäubendes Lärmgewitter nachriß. Rasselnd, jauchzend, zischend, heulend, hornend brach es rundum los, durchpoltert von aufreizend ­bewegten dumpfen Schlägen, die sich in ansteckendem Gleichmaß unabläs­sig wiederholten, und zugleich sprangen die Vermummten aus dem Dunkel und tanzten nach dem Maß der Schläge rund um Ita. Die arme junge Frau saß hilflos weinend zwischen unzüch­tig springenden Beinen, in einem Wirbel von Wurzeln, Schwänzen, Tannzapfen, Hörnern, Haaren, Borsten und Bälgen, von dem allem ihr etwas in den Schooß flog, indes ihr Wesen, das, vom christlichen Geist geläutert, die Scham schon rein im Blute trug, vor diesem gewaltig Unschamhaften tief erschauerte.

Durch die trunkene Nacht kam aber der Mönch gelaufen und drängte sich mit einem Holzkreuz mitten durch den Höllenspuk zur duldenden Christin. «In nomine Patris et Filii et Spiritus sancti!» rief er dröhnend, das Kreuz in der steil erho­benen Rechten, voll heiliger Streitlust, während der Lärm verstummte und die Rotte zwischen Trotz und Scheu betroffen schwankte. «Im Namen des allmächtigen Gottes, laßt dies sündhafte Spiel und geht heim!»

Da reckte sich ihm gegenüber die unförmig große Gestalt vom Mooshügel auf, nahm den Kuhgrind vom Haupt und zeig­te das erschreckende Gesicht der alten Berchta, die mehr Früchte getragen als je ein Weib und mehr Mittel kannte gegen Gebresten und Zauberei als je ein Mönch. Sie spuckte gegen ihn aus und wies ihn mit einer schroffen Armbewegung wie einen uner­wünsch­ten Gaffer schweigend fort.

Er trat ihr entgegen, doch zog ihn ein Vermummter am Arm gewaltsam aus dem Kreis und stieß ihn draußen von sich. Da kniete er nieder, wo er stand, und kämpfte mit der Macht des Gebetes wider das finstere Unwesen, indes der Taumel von neuem losbrach.

Ein zottiges Geißmännlein schleifte einen gefesselten Bock in die Mitte der Tanzenden, stieß ihm das Messer in den Hals und fing den Blutstrahl in einer hölzernen Schale auf. Berchta nahm die Schale, stellte sich zwischen Itas Knie und goß der Unfruchtbaren das warme, rauchende Blut in den Schooß.

Den Bock brieten die Vermummten am Spieß, verzehrten ihn, tranken aus Darmschläuchen den von Rato gestifteten Wein und brachen unter ungeheurem Getöse zum Umzug durch die Talschaft auf, während Rato sein Weib auf den Schultern nach Hause trug.

Ruotpert kniete auf der Stufe des schlichten Altars im Morgendüster der Switser Holzkapelle, das hagere Haupt zum Kreuz erhoben, die schmalen Hände verklammert, und rang mit glühender Seele um die Hilfe des Herrn. Den ganzen abendländischen Umkreis hatte die Heilsbotschaft verwandelt, das dunkle Erbe seiner Völker war bezwungen vom Geist, seine weiten Grenzen gegen die Heiden schützte der fromme Wille des Kaisers, nur hier seine Mitte widerstand wie ein zäher Kern. Getauft und guten Willens waren die Eingeborenen wohl, aber in diesen schwer zugänglichen Tälern, Bergen, Wäldern und in manchen undurch­dringlichen Köpfen hatte das Böse seine letzten Schlupfwinkel gefunden und stritt in so mannigfacher Gestalt wider das Heil der Welt, daß kein Mönch mit seiner Menschenkraft allein den Sieg erfocht.

«O Herr, es sind Wunder geschehen, damit den Menschen die Augen aufgetan würden. Wenn du willst, so leih mir deine Kraft, daß ich dir und deiner heiligen Kirche dies Volk gewinnen mag.» So bat der inbrünstige Beter, aber sogleich erschrak er über seinen vermessenen Wunsch und schlug sich an die Brust. «O Herr, ich bin nicht würdig. Ich will dir dienen wie der geringste deiner Knechte.» Darauf betete er für Ita und trat am Ende doch gestärkt in den Morgen hinaus, der als verfrühter Lenzanfang mit Tauwind und Silberschimmern die weite Mulde erfüllte.

Lenz und Sommer gingen stürmisch und heiß über Ita hin, aber ihr Herbst kam nicht. Sie verließ den schönen Hof und ging traurig über die Weiden hinab. Niemand hielt sie zurück. All das Erduldete war umsonst gewesen, Rato hatte sie in die Mägdekammer verwiesen und ein anderes Weib genommen. Da ging sie lieber fort, sie konnte auch in Vater Ulrichs Haus eine Kammer haben, wenn sie wollte; sie wollte aber nicht, sondern fürchtete sich, ihre Schande dem Gespött der Menschen auszusetzen. Sie meinte auch nicht mehr würdig zu sein, in ein Kloster zu gehen oder nur dem reinen Gottesmann Ruotpert unter die Augen zu treten, weil zu viel Unwürdiges an ihr geschehen war und sie selber doch der sündhaften Lust, die der Mann in ihr erweckt, nicht immer widerstanden hatte.

Am Rand einer Wiese wich sie vor zwei jungen Mähern zurück, die das dunkelgrüne Emd absichelten, indes der dritte ein Bündel der fetten Mahd dem Gaden zutrug. Sie umging die Wiese, kam aber nur zu einer andern, auf der sie die ganze Familie heuen sah. Burschen und Mädchen schwangen da halbreifes Emd durch das Sonnengeflimmer und rechten dort eine reife Lage zusammen, indes die Hausmutter mit dem Kleinsten im Arm auf die lustig über Schwaden hin trollenden Kinder achtgab. Sie ging gesenkten Hauptes rasch vorüber, stieg zum Waldrand hinauf und schritt ihm tief beklommen entlang. Sie kam an einer armen, von zwei Kindern begleiteten Frau vorbei, die einen Eimer voll Beeren wohlgemut dahertrug. Da drang sie in den Wald ein, warf sich ins Moos und weinte bittere Tränen.

Hier blieb sie verborgen, von hier aus streifte sie nachts her­um; sie vergaß Gott den Herrn und begriff nicht, warum allein ihr Schooß verflucht sein müsse, da doch die ganze Erde mit Mensch, Gewächs und Tieren Früchte trug.

Ihr Vater schickte einen Knecht aus, der sie eines Abends elend und halb verhungert heimführte. Ulrich strich ihr gütig schweigend die Hand über den Scheitel und hatte ihre Mädchenkammer schon für sie bereit.

Ita setzte sich aber der spöttischen Neugier und Verachtung des Volkes nicht aus, sondern schweifte nachts umher, rastlos, scheu und einsam wie eine entartete, vom Rudel ausgestoßene Wölfin. Ihre arme Seele fand keine Stärkung mehr, und darüber erhob sich der Hunger ihres verwöhnten Leibes und ein wüster Trotz gegen ihr Geschick so, daß sie sich jedem räudigen Knechte hingeworfen hätte; und wußte doch, daß im ganzen Tal nicht einmal der geringste Hörige sie zum Weib begehren würde.

In einer kühlen Herbstnacht, als sie mittagwärts über die Schönenbuocher Höhe hinausgewandert und auf den schmalen Axenpfad gekommen war, von dem ein verlorener Mensch über hohe Felsen in den See hinab still aus der Welt verschwinden kann, stieß sie auf einen Mann, der mit dem Rücken an der ­Böschung über den Pfad hinlag. Sie beugte sich und sah einen Kriegsmann, dessen Panzerhemd im ungewissen Halbmondlicht aus dem Man­tel schimmerte. Neben ihm lagen Schwert und Schild.

Es war ein kranker und fast erschöpfter Kriegsmann. Sein Haupt lag im Heidelbeerkraut, seine Augen waren geschlossen. Aber er tat die Augen auf und sah das Weib über sich gebeugt. «O allerseligste Jungfrau und Mutter Maria!» sagte er leise und fal­tete die Hände über der Brust. Er fieberte und wußte nicht, was ihm geschah. Ita schob Moos unter sein Haupt, legte ihm ein im nächsten Rinnsal genetztes Tüchlein auf die heiße Stirn und ­begann Heidelbeeren zu sammeln, soviel sie in der Dämmerung finden konnte. Dreimal leerte sie eine Handvoll Beeren in seinen Mund; als sie zum viertenmal kam, kniete der Mann, das dunkelsilbrig beschienene, große junge Gesicht voll kindlichen Staunens, und fragte: «Wer seid Ihr, liebe Frau?»

«Ich bin nur eine arme Magd», antwortete sie. «Doch wenn Ihr nun gehen könnt, so wollen wir gehen. Die Nacht ist kühl und Ihr seid nicht bei Kräften.»

«Wohl!» sagte der Mann. «Die Krankheit ist mir nachgesprungen und hat mich eingeholt. Aber mir ist wunderbar zumut, als ob Ihr mein Schutzengel wäret und ich jetzt heimkäm. Bin doch schon durch Uri gelaufen.»

Der Mann erhob sich mühsam, Ita half ihm und erkannte Heinrich von Schönenbuoch, der mit den Switsern ausgezogen war, und Heinrich erkannte Ita, aber sie waren nicht verwundert, sondern schauten sich an wie im Traum. Ita wandelte den Pfad zurück, Heinrich folgte. Auf der Schönenbuocher Höhe sagte er, den Blick im Switser Tal, das vom Morgengrauen noch kaum berührt, still und dunkel vor ihnen lag: «Gelobt sei Jesus Christus! Hier bin ich ja zu Hause.» Er ging aber nicht zum Hause, sondern ins Tal hinab, und Ita folgte ihm, ohne zu fragen. Sie schritten über die Muota und jenseits zur Kapelle hinauf; es war heller geworden, da traten sie ein und knieten nebeneinander auf die Bank hin vor den Altar. Ruotpert las die Frühmesse und verwandelte das Brot in Christi Leib, den Wein in Christi Blut, sie neigten erschüttert das Haupt und flehten: «O Herr, erbarme dich unser!»

Nach der Messe gingen sie in das Schönenbuocher Heimwesen zurück, Heinrich legte sich zu Bett und Ita pflegte ihn. Jeden Tag nun waren sie einander nah, doch verschlug es ihnen die Stimme, wenn sie etwas von der innigen Macht zu sagen versuchten, die sie glücklicher verband als alles, was nach ihrem Wissen Mann und Weib verbindet. Er war verseucht, aber unter ihrem Blicke schien er zu genesen. Sie war verwüstet auf ihn gestoßen und war schon heil und rein.

Er begann zu erzählen, und tagelang erfüllten Bilder der großen Fahrt die enge Kammer. Den Switsern, erzählte er, schlos­sen sich unerwartet Urner und Waldleute an. Das Gebirge überschritten sie mühelos und zogen jenseits immer weiter mittagwärts nach Abenteuern, voller Übermut und ohne des bedrängten Vaters der Christenheit noch zu gedenken. Sie kamen aber doch zur heiligen Stadt, die sie mit der Gewalt des Wunders überfiel, und wurden unter einem lombardischen Markgrafen im christlichen Heer zum harten Kern, an dem die Sarazenenstürme sich bis zur Ohnmacht brachen. Der Heilige Vater spendete ihnen beim Siegesgeläut der Glocken Segen in Fülle, versprach den Kaiser wegen ihres eigenwilligen Zuges zu versöhnen und gab ihnen ein Feldzeichen, darauf geschrieben stand: «Den Beschützern und Verteidigern der Heiligen Römischen Kirche. Den Rettern Roms.» Da ging aber von den gefangenen Heiden eine Seuche aus, die den tapfern Bergleuten so tückisch Mann um Mann entriß, daß sie den noch gesunden Heinrich mit dem Feldzeichen unter dem Panzerhemd vorausreiten und über die Berge heimwärts wandern hießen.

«Wo hast du das Zeichen?» fragte Ita.

Heinrich deckte sich auf und da lag die rote Seide doppelt gefaltet auf seiner bloßen Brust.

Was aber den Kranken wunderbar bei Kräften hielt und Ita geläutert hatte, wurde bald vom leiblichen Verlangen durch­säu­ert. Heinrich schlang die Arme um Itas Hals, ihre Lippen brannten aufeinander und aus ihrer reinen Glut stiegen die zwei Flammen auf, die endlich in wilder Umarmung zusammenschlugen. Von dieser Stunde an, da sie als Mann und Weib sich wieder auf irdische Art gehörten, nahm Heinrichs Krankheit eine schlimme Wendung. Sein Gesicht fiel ein, sein Körper magerte ab, ein Reif überzog seine Haut, ein übler Geruch fuhr über seine bläulichen Lippen. Ita pflegte ihn ruhelos und kämpfte leidenschaftlich um sein Leben, bis er ein grauenhaftes Abbild des Knochenmannes selber war.

Ruotpert kam auf ihre Bitte, nahm ihnen beiden die Beichte ab, vermählte sie und blieb bis in die Nacht. Als er vor das Haus unter die Sterne trat, schickte er ein Dankgebet zum Schöpfer empor, daß hier zum erstenmal ein Paar aus diesem Volke mit der Macht des unbedingten Glaubens Erdenweh und -lust überwand und gottseligen Angesichts zum Ewigen Leben reifte.

Die Seuche aber schlug auf eine Hausmagd über, die wie am Haar gerissen verwundert rücklings auf die Stiege fiel. Dem einen der beiden Knechte glitt in der Nacht, da sie den toten Heinrich begruben, die Schaufel aus der Hand; als er sich nach ihr bückte, sank er vor Schwäche zusammen und blieb, in die Grube starrend, am Rande liegen. Der andere Knecht warf die Schaufel hin und floh. Die Leute der Nachbarschaft raunten sich noch Gerüchte zu, als die Krankheit schon da auf einer Schulter, dort auf einem Arm zu flecken begann und manchem Vorwit­zigen so deutlich winkte, daß er sich wie auf den Mund geschlagen stumm verkroch. Das Tal beschlich sie leise wie frühherbstlicher Erdrauch, der hier unerwartet auf dem Wege, dort in lichten Streifen auf der Wiese liegt. Fürchterlicher Argwohn weh­te ihr voran, das menschliche Vertrauen war vergiftet, eh ihr Hauch das Fleisch vergiftete. Als im Tal das Sterben begann, und alles Verheimlichen, Hoffen, Beschwören vor dem offenen Unheil töricht wurde, lief die Kunde, wo es entsprungen sei, mit Flüchen beladen von Ohr zu Ohr, und hundert Erzürnte zielten täglich drohender auf den Herd der Seuche.

Ita kniete rastlos betend in Heinrichs Sterbekammer, zwischen dem strahlenden Engel, der sie segnete, und dem schwarzen, der sie bedrohte. Sie schaute auf ihren hohen Leib, in dem die Liebe fruchtete, und vergaß ihr selig verweintes Angesicht zu trocknen; sie horchte ins Tal hinaus auf den Zorn des Volkes, der weder Schuld noch Unschuld, sondern ein Opfer suchte, sie spürte ihn auf sich gerichtet und zitterte vor Angst. Ihr kam der Gedanke, zu fliehen, aber sie sah darauf in einem nächtlichen Gesicht sich selber als Flüchtige, während der Engel des Herrn das leere Haus durchsuchte, sie sah den Engel weinen und hörte seine Stimme: «O Herr, die du erwählt und gepeinigt hast, will nicht länger geprüft sein.» Da wurde sie andern Sinnes und harrte in Ängsten aus.

Im Tale rottete sich beim Toten, mit dem das dritte Zehnt der Opfer begann, ein Haufe angesteckter Männer und Weiber zusammen, der nach Sühne schreiend von der Berchta zum Hunn, vom Hunn zu Ruotpert zog und nachts mit Fackeln zum Schönenbuocher Hang aufstieg.

Ita erhob sich beim nahenden Lärm vom Lager, kniete mitten in die Kammer, das Angesicht zur Tür gewandt, und begann laut zu beten. Es drang aber niemand ein, sondern sie legten Feuer an das Haus und warfen von außen Fackeln in die Räume. Von Rauch und Flammen umhüllt, meinte sie schon zu ersticken und schrie aus innerstem Herzensgrund zum Erlöser auf, ob das der Sinn der Prüfung sei, daß sie mit dem Kind elend zugrunde gehe. Das war nicht der Sinn, eine Hand ergriff ihren Arm und riß sie fort, zur Tür hinaus. Sie sah vor sich die Flammen auseinandertreten, sah im Freien die Brandstifter bestürzt nach rechts und links ausweichen und erkannte unter allen das große welke Gesicht der alten Berchta. Während die rettende Hand sie talwärts führte, hörte sie neben sich die Stimme Ruotperts, der sie gerettet hatte, und dankte dem Herrn dafür. Ruotpert führte sie zum Hunn, der ihr mit unverändert väterlicher Zuneigung die alte Mädchenkammer öffnete.

Von nun an stand ihre rätselhafte Gestalt erst recht in der Mitte der fluchenden und segnenden, der abergläubischen, frommen und furchtsamen Gedanken des Talvolks. Daß die ehemals Unfruchtbare mit hohem Leib einherging, daß sie mit dem Seuchenbringer Brust an Brust gelegen und wohl ein Kind, aber nicht die Seuche empfangen hatte, war schon unfaßbar genug; auch gab es Leute, die hatten selber gesehen und konnten es beschwören, daß sie mit dem Mönche Hand in Hand ganz ohne Schaden mitten durch die Flammen geschritten war. ­Andern, die vor Wissenschaft die Augen verdrehten, aber auch manchen christlich Ge­sinnten, war es Blendwerk des Teufels, der seinen Mantel über die Urheberin des namenlosen Unheils warf.

Ita gebar indessen schreiend vor Schmerz und Freude ein Knäblein, das sie durch den Mönch am dritten Tag schon auf den Namen Heinrich taufen ließ.

Die Seuche aber schwand nicht, ob auch ihr Geburtshaus verbrannt war, und die Erzürnten forderten unbelehrt die Sühne von Ita. Die alte Berchta, die nicht verwand, daß ihre Macht an der Unfruchtbaren zuschanden geworden und eine andere Macht geholfen hatte, daß ein Schein vom Himmel auf dies Weib zu fallen schien und daß es mit dem verhaßten Mönch im Bunde stand, schürte die Zornglut unablässig. Ein Tag kam, der den Jammer nicht mehr faßte, fünf Leichen lagen nebenein­ander auf dem Brennholzhaufen, den die Markgenossen täglich neu errich­ten ließen, darunter auch einer der vielen Söhne Berchtas und Burkhard Ratos Weib. Die dumpf erregten Angehörigen umstrichen den Totenhügel in scheuer Entfernung, nur der Mönch stand nah davor und sprach lateinische Gebete, während der Hunn abseits mit etlichen Genossen willig den hundertsten Ratschlag erwog. Die fürchterliche Alte drängte, von Leidträgern umgeben, zu Rato hin, der, vom Gifthauch schon gezeichnet, mit dem Hörigen Schuppli bleich, finster und gemieden im Hintergrund stand. Rato warnte und wich zurück, aber die Alte kümmerte sich nicht darum. «He Rato», rief sie, «warum hatte Ita von dir kein Kind, da du gesund warst? Vom Schönenbuocher hat sie eins. Vom Seuchenbringer! Wo hat er die Seuche her? Huhu, merkt ihr nichts? Und warum ist sie nicht angesteckt, aber wir? Wer hat ihr geholfen und warum müssen wir’s alle entgelten? Seht dort, jetzt zünden sie an, kommt näher, wir wollen doch zusehen, wie unsere Toten verbrennen, unsere armen Mannen, Frauen und Söhne, die sterben müssen, damit die saubere Mönchs- und Himmelsbraut zu Hause in Ruh ihr Kindlein wiegen kann …»

Der aufgeregte Haufe schwärmte zum rauchenden Holzstoß hin, indes bald die, bald jene Stimme das erzürnte Murren und Rufen überschrie: «So holt sie her!» «Wie lang wollen wir noch zuschauen?» «Sie soll verhört werden!» «Was meint ihr», rief die Alte, «was meint ihr zu dem Kind? Wenn das nicht gezeichnet und verflucht ist, will ich’s selber sein. Wo solche Saat aufgeht …» «Es habe eine Krötenhaut», überschrie sie das junge Weib eines toten Hörigen, «und speuze Gift, heißt es. Itas Milch sei schwarz …»

Während das Feuer in diesen Lärm hinein zu prasseln begann und der Schmerz über die sinnlosen Opfer sich heftiger in die Empörung mischte, kam Schuppli, der sich unbemerkt entfernt hatte, von Ulrichs Haus zurückgelaufen. Unter dem Arm trug er das verwünschte Kind.

Die Mutter kam hinter dem Hörigen hergerannt, mit Augen voll namenloser Angst und unendlichen Flehens, den wie vor Kälte zitternden Mund geöffnet, zum Schreien geöffnet, das schon auf der Zunge erstarrt schien, da niemand es hörte, und das nun doch erscholl, nicht kreischend, sondern volltönend aus tiefer Brust, aber aus tödlich beängstigter Brust: «Nein! Nein! Nein!» Da geschah es, durch Burkhard Rato, sie sah’s mit eigenen Augen. Sie wurde starr, in ihrem Gesicht stand alles still, ihrem halbgeöffneten Mund entfuhren Laute, wimmernde, stöhnende Laute, die nicht sie ausstieß, die selber heraufkamen aus dem unmenschlich gemarterten Herzen. Im nächsten Augenblick mußten ihr die Sinne schwinden, im Übermaß der Schmerzen rettet den armen Menschen seine eigene Schwäche, aber schon griff der Mönch unter ihre erschlafften Arme und hielt die ­Wankende aufrecht und sprach zu ihr, mit der wahrlich glühenden Kraft des Gottestrunkenen, der hundertmal selber in sein irdisch Herz ­gestoßen: «Ita, Kind Gottes, wenn du dies über­windest … um des Erlösers willen, der für uns gestorben ist … sieh doch, sieh doch die göttliche Mutter zu Füßen des Kreuzes, sieben Schwerter durchbohren ihr Herz, am Kreuze stirbt ihr Sohn … Ita, sieh den Gekreuzigten an …»

Ihre Augen standen offen, aber sie blickte nach innen, der Gekreuzigte tauchte schon auf, sie sah sein Blut von Haupt und Händen rinnen, ihn dürstete, sein göttlicher Leib bewegte sich in Qualen, sein Haupt ward schwer, sein Kinn sank auf die Brust, und da geschah es, der Heiland starb für die Menschen, sein letztes, stilles Wort, das alles Leid der Welt und die ganze Seligkeit der Erlösung einschloß, umklang ihn noch, nicht laut, nicht leise, unfaßbar schwebend zwischen Himmel und Erde: «Es ist vollbracht!»

Ruotpert, der den Atem anhielt, da er sie auf den letzten schmalen Grat des Irdischen hinausgeschleudert sah, hörte dies Wort, denn sie selber hatte es eben jetzt geflüstert, und antwortete: «Gelobt sei Jesus Christus in Ewigkeit. Amen!» Er ließ sie aber nicht, sondern half ihr gespannt und wachsam weiter, während sie schon begnadet mit der Kraft des Himmels den langsam erwachenden Blick wieder gegen das Furchtbare aufschlug.

Der Hunn war, als er den Vorgang erfaßt hatte, mit einem dröhnenden Fluch durch den finstern Haufen gebrochen, zu spät, um das Kind zu retten, aber früh genug, um mit der Faust den Hörigen, dann in steigender Wut auch Rato niederzuschlagen. «Du Satan! Verfluchte Hunde! Seid ihr tollwütig oder … das Kind zu töten … wenn ihr keinen Verstand mehr habt, schlag ich euch allen den Grind ein, ihr …» So tobte der gewaltige Mann, der statt mit dem nüchternen, klaren Verstand, wie er sonst ­gewohnt war, hier mit den Fäusten ein Wahngespinst durchfuhr; mit sprühendem Blick und mahlendem Kinn, die Arme zu Schlag und Stoß gebogen, stand er vor den erschrockenen Leuten.

Da trat die Alte vor. «Ulrich, nehmt Euch zusammen, Ihr seid gar leicht mit schuld am Elend … hier ist gerichtet und gesühnt worden … nehmt Euch in acht!»

Der Hunn ging auf sie zu, langsam, mit zorniger Verachtung wie auf eine räudige Hündin, die zu schnappen beginnt. «He, du alte Hexe, du kommst mir eben recht, du ekelhafte Nachtspinne … den Leuten die gesunden Köpfe verdrehen und überall Gestank wittern, den nur du selber stinkst … ein Wort noch, und du fliegst da ins Feuer, dann ist gerichtet, was gerichtet werden muss …»

Die alte Berchta, die nie dergleichen vernommen und einen solchen Wandel der Gesinnung nicht einmal geahnt hatte, starrte wie vom Donner betäubt auf den wütigen Mann, um sogleich schwer aufatmend jene geheimnisvoll beschwörende Haltung anzunehmen, vor der sonst jeder Mund verstummte, und in die heiseren, einförmigen Klagrufe auszubrechen, mit denen sie Unheil anzukünden pflegte: «Weh dir, Ulrich, weh dir …»

Der übermäßig gereizte Mann packte sie und schleppte sie zum Feuer.

Da trat ihm Ita entgegen. Sie legte beide Hände an seine Brust und schaute ihn an. «Laß das, Vater!» Sie bat nicht, sondern befahl. «Laß die Frau gehen!» wiederholte sie, als er zögerte, und stand da mit einem Angesicht, vor dem die zornige Kraft eines ehrlichen Mannes klein und rechtlos wird. Das war nicht mehr seine Tochter.

Er ließ von der Alten ab, die sogleich entwich, und blieb verwundert stehen, mit leeren Armen, ratlos, was denn nun geschehen müsse.

Ita ging still zum Hörigen Schuppli, der seitlings mit dem Gesicht auf den ausgestreckten Arm gefallen war, und alle sahen verwundert zu. Sie beugte sich über ihn und griff ihm unter die Arme. «Komm steh auf!» Schuppli wandte ihr sein bösartiges Schafbocksgesicht zu und schwieg verdutzt, dann versuchte er aufzustehen, und sie half ihm; die Frau, die er noch eben um ihr Kostbarstes beraubt, half ihm auf, bis er sicher stand. «Kannst du allein gehen?» fragte sie leise, was er sogleich mit offenem Munde stammelnd beteuerte, ohne einen Schritt zu tun.

Da ging Ita zu Burkhard Rato, der auf dem Rücken lag, und kniete neben ihn hin und nahm seinen Kopf in ihre Hände. «Laßt mich liegen», brummte Rato schwach, «ich bin krank … er hätte mich sonst nicht …» Er öffnete die Augen und verstummte. «Rato, steh auf, du kannst nicht hier liegenbleiben!» Er starrte sie an wie eine Erscheinung, aber sie schob den Arm unter seine Schulter und half ihm auf, er schwankte, und sie stützte ihn. In seinem Blicke, den er nicht von ihr ließ, erschien die Angst vor Unheimlichem, er begann zu flüstern: «Was willst du von mir …? Dein Kind hab ich … wer mich anrührt, wird krank …»

«Ich werde jetzt mit dir heimgehen und dich pflegen», sagte sie leise. «Schuppli, führ ihn auf der andern Seite … so, ja nun wollen wir gehen!»

Rato ließ sich heimführen, ihm war nicht anders zumut als einem Kind, das im Unbekannten erwacht und nach dem ersten Zögern wie im Fieber alles mit sich geschehen läßt, ohne etwas zu begreifen.

Unter den Leuten beim Feuer war eine Stille, als ginge ein Engel vorüber. Manche spähten heimlich nach der Alten aus, neugierig, wie die nun dastehen werde, aber sie war verschwunden. Stumm erwarteten alle das Ende der Verbrennung, und ohne das Ereignis mit einem Wort zu berühren, gingen sie auseinander. Ihr ehrfürchtig erstauntes oder erschüttertes Herz verrieten erst die rasch umlaufenden Berichte, die überall anders klangen, aber in der Beteuerung einig waren, der Schmerz auf Itas Antlitz sei unbegreiflich verklärt gewesen wie nur bei Toten, doch nicht von dieser endlichen Ruhe, sondern von der strahlenden Milde eines neuen Lebens, das man in seiner Hoheit nicht fasse. Der Mönch allein erfaßte es ganz; zur Stunde noch, da es geschehen, pries er den Herrn, und aus der Kapelle klang sein lauter Lobgesang in den Mittag hinaus.

Ita diente dem bestürzten Rato wie eine Magd, sie wusch seinen kranken Leib, drückte ihm die Eiterwunden aus und legte Honig darauf, sie brachte die Speisen an sein Lager und kühlte ihm die Stirne. Er genas wundersam rasch und erhob sich eines Morgens, um seine Pflegerin als Gesunder zu erwarten, mit dumpfem Überschwang von Dank, Ehrfurcht, Zuneigung, und mit einer bangen Neugier.

Ita hatte sein Haus aber in der Nacht verlassen und pflegte schon in der ärmlichsten Hütte die junge Witfrau eines Hörigen. Diese Kranke, Matildis, wehrte im Gefühl ihrer Nichtigkeit die Hilfe ab, aber Ita blieb heiter, fest und sorglich dabei und diente ihr wie der besten Freundin. Da erfüllten Liebe, Freude und Vertrauen das junge Weib so mächtig und anhaltend, daß seine Seuchenmale in wenigen Tagen verschwanden und ein Wunder gewirkt schien, über das bald jeder Talbewohner mehr wußte als Ita selber. Als sie darauf kurz nacheinander den Bruder Heinrichs von Schönenbuoch und die schwer heimgesuchte Familie des Cunrat im Hof glücklich dem Leben zurückgewann, hielt nichts mehr den Glauben auf, daß sie Kranke durch ein Wunder heile, und es baten sie Leute aus dem ganzen Tal kniefällig um Hilfe. Sie half unablässig, fast über das Maß ihrer Kraft, aber sie erschrak immer mehr über die abgöttische Verehrung, mit der das Volk an ihr zu hangen begann. Mit Tränen in den Augen lief sie im Sommer zu Heuern auf eine Wiese, wo ein junger Hirt bei ihrem Anblick auf die Knie gefallen war; sie zog ihn auf und rief bekümmert: «Nicht so, nicht so … ihr lieben Leute, was meint ihr nur … ich bin nichts, gar nichts durch mich selber, alles verdanke ich nur der Gnade des allmächtigen Gottes …»

Ein alter Mann entgegnete ehrfürchtig: «Du hast Wunder gewirkt!»

«Nein», rief sie, «ach Gott, ihr täuscht euch. Ich habe immer nur den Herrn und Heiland angefleht, daß er mir beistehen möge, und vielleicht sind zwei, drei Kranke mit seiner Hilfe etwas früher gesund geworden … Glaubt an Jesus Christus und ihr werdet nie, nie mehr ohne Hilfe sein!»

Die Heuer nickten schweigend.

Die Zahl der Kranken nahm ab, ein allgemeiner herzlicher Helferwille tilgte Angst und Argwohn, die Seuche schwand. Ruot­pert hielt vor der Kapelle einen Dankgottesdienst, zu dem so viel Volk erschien, wie man in dieser Talschaft nie versammelt gesehen hatte. Er sprach es zum erstenmal als Gemeinde an, und mit nassen Augen hieß er sie wie einen ehedem verlorenen Sohn willkommen im einzigen irdischen Vaterhaus der Völker, in der großen Gemeinschaft der Kirche und des christlichen Staates. Am nächsten Morgen stieg er, von zwei jungen Ministranten begleitet, mit geweihtem Wasser auf die Fallenfluh und vollzog mitten im verwunschenen Wald die feierliche Handlung wider die hier hausenden Ausgeburten der Hölle. Seinen kirchlichen Oberherrn bat er durch ein Schreiben dringend um einen geistlichen Gehilfen zu dauerndem Amt. Das Gotteshaus vollendete die Markgenossenschaft aus eigenem Antrieb, und Ruotpert weihte es in der Gegenwart des zum Thing erschienenen Gaugrafen dem Schutzpatron des fränkischen Reiches, dem Heiligen Martin.

An diesem Thing standen verteilt im Kreis der Freien etwa dreißig junge Männer, die von der abenteuerlichen Romfahrt unauffällig heimgekehrt waren und still ihr Tagwerk aufgenommen hatten. Der Hunn rief sie hervor. Auf Anklage gefaßt, betraten sie zögernd den freien Platz, und Ulrich tadelte auch die eigenmächtige Willkür ihrer Fahrt noch einmal, aber dann pries er kräftig vor allem Volk die Tapferkeit und rühmliche Haltung in der fremden Stadt und schwenkte plötzlich das vom Heiligen Vater gestiftete Feldzeichen. Während sie es mit lauten Rufen freudig begrüßten, den mächtigen Schönenbuocher vor Augen, wie er Abschied winkend auf einem Sarazenenhengst aus der Stadt ritt, bohrte der Gaugraf ungeduldig mit der Schwertspitze Löcher in den Boden; der Waffenruhm der Switser war ihm anderswo noch lauter zu Ohren gedrungen, aber ihre freche Ausfahrt hinter seinem Rücken wurmte ihn noch heut, und so schwieg er dazu.

Etliche Tage nach dem Thing gaben der Hunn und die zwei rüstigsten Urteiler dem leicht verstimmten Grafen das Ehrengeleit. Die Genossenschaft hatte dem hohen Gast zu zwei Huben Landes, die er unter einem Lehensmann im Tale schon besaß, eine weitere Hube geschenkt oder schenken müssen; das war ihm zu nichtig vorgekommen, er hatte kaum gedankt und ritt jetzt schweigend neben dem Hunn an der Spitze des Gefolgs quer über die waldige Berglehne hinauf.

Kurz vor dem Weiler Sattel kam dem Zug ein Geritt entge­gen, dergleichen wohl der Graf, aber der Hunn noch nie gesehen. Zwei alte Ackergäule trottelten daher mit einem dicken Mönch und einem Weibsbild, das den Teufel nicht mehr zu fürchten brauchte. Aus der schwankenden Fettkugel des Kuttenmannes ragten unten zwei Beinstumpen über je ein bauchiges Weingefäß zu den Schultern des Kleppers vor, so daß dieser seltene Diener Gottes auf einem Stuhl zu sitzen schien, indes sein ganzes An­gesicht vor Feiste und Vergnügen glänzte. Lebhaft nickend mit einem fröhlich frommen Gruß bewegte er die fleischige Rechte auf und ab, seiner irdischen Hälfte stieg ein würdig saueres ­Lächeln ins abgefeimte Gesicht, und die geduldigen Tiere standen nebeneinander mitten im Weg bockstill.

Der Graf zwang sein Roß finster schweigend seitlich auf der Böschung vorbei, die übrigen Reiter folgten, doch unter Ge­­läch­ter und schandbaren Zurufen, während der Hunn sein Geleit hier aufgab und mit den Gefährten beim Mönch zurückblieb; der erklärte ihm freundlich, daß er als geistlicher Helfer zu einem Bruder Ruotpert nach Swits bestellt und also samt seiner rechtmäßigen Gattin dorthin unterwegs sei.

Dieses glückliche Paar kam nie ins Switser Tal, sondern schaukelte vom Hunn weg alsbald seufzend über den Sattel zurück.

Zu dieser Zeit verließ Ita ihre schlichte Kammer, die sie vor Geschenken und Ehrungen nicht mehr schützte, und wanderte, von Matildis begleitet, still aus dem Tal, um hinter Klostermauem künftig nur mehr mit Gott allein zu verkehren. Nach halber Mondesfrist aber kam sie ebenso still zurück. «Die Klöster», berichtete sie, «nehmen nur adelige Leute auf. Wir Bauerntöchter wurden abgewiesen und sind wohl der Aufnahme auch nicht würdig.»

Da bauten ihr die Switser auf ihrer Mark ein Klösterchen und fügten unter einem frommen Lehensmann drei Huben Landes hinzu, damit sie nie zu darben brauche. Sie bezog es dankbar mit Matildis und nahm bald auch andere Frauen auf, denn Milch, Fleisch und Ziger flossen ihr in Fülle zu. Als ihr aber manche der begüterten Freien Land zu schenken begannen, besonders Burkhard Rato, beschloß sie, öffentlich kund­zutun, daß sie allem irdischen Gut entsage. Ruotpert belehrte sie, daß zwar kein Mensch im Dienst der Kirche, wohl aber die Kirche selber der irdischen Güter bedürfe, um dauernd unabhängig auf Erden zu wirken. So nahm sie denn Schenkungen an, doch nicht für sich, sondern für Kirchen und Klöster, die in diesen abgelegenen Tälern um den See künftig noch entstehen mochten. Sie wandte ihr Angesicht von dieser Welt ab und entwöhnte sich fast der irdischen Nahrung um der himmlischen des Leibes Christi willen, dem sie in der heiligen Kommunion sich täglich mit entzückter Seele hingab.

Ulrich unternahm als alter Mann mit weißem Haar noch eine Fahrt den See hinab zu befreundeten Waldleuten und eine hinauf zu den Urnern. Er fand die Freunde nicht mehr am Leben. Er horchte und schaute nach dem Stand der Dinge in den Nachbartälern und erschrak darüber. Auf Weiden und Äckern sah er tätige Leute genug und sah das wohlgeratene Vieh, doch überall stieß er auf Dienstleute und Lehensmänner, aber nicht auf Freie, er hörte von Zehnten und anderen Abgaben reden, aber nicht von Eigentum. Am Ende erfuhr er staunend, daß der fränkische König den Urner Gau einem Kloster geschenkt habe, mit Kirchen, Häusern und allen übrigen Gebäuden, mit Eigenen jedes Geschlechts und Alters, mit Äckern, Wäldern, Wiesen und Weiden.

Dies verwirrte den altfreien Switser, er bestieg erregt sein Schiff zur Rückfahrt, doch der Tod stieg unbemerkt mit ihm ein, und als er nach Swits kam, redete er schon irr. Aber die Mark­genossen rief er noch zusammen und warnte sie fiebernd vor der neuen Zeit; er pries den allmächtigen Vater im Himmel, doch von der Kirche und den fränkischen Herren sprach er zum Entsetzen Ruotperts als von Wölfen im Lammfell. Auf dem Heimweg begann er zu wanken, und im Angesicht seines stattlichen Hauses, auf seinem freien Grund und unter seinen Rindern, warf ihn der stumme Begleiter in die grüne Weide.

Die Markgenossen wunderten sich nicht, daß ein Greis die Zeit mißverstehe oder an seinem Verstande Schaden leide, und noch lang gab jeder gern sein halbes Gut hin für das Heil der Seele und den Frieden auf Erden.

Jugend eines Volkes. Ehrenhafter Untergang

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