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Wie ich mich selbst von meiner Blindheit heilte

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Geboren bin ich unter schwierigen Umständen in der damals noch stalinistischen Sowjetunion. Mein Vater ging illegalen Geschäften nach, indem er Fotos für Kirchen machte und druckte. Diese Arbeit hätte dazu führen können, dass er für 20 Jahre nach Sibirien geschickt wurde. Darüber hinaus waren meine Eltern beide taub.

Meine Großeltern väterlicherseits waren dagegen, dass ein weiteres Kind in die Familie kam. Es war mein Großvater väterlicherseits, der als Erster feststellte, dass mit meinen Augen etwas nicht stimmte. Bei einer ärztlichen Untersuchung stellte sich heraus, dass ich mit Grauem Star geboren war. Viele Menschen entwickeln zwar später im Leben Grauen Star, aber nur sehr wenige werden damit geboren. Ich war praktisch blind geboren.


Mein Vater Abraham, meine Mutter Eda und ich im Alter von fünf Jahren, als ich noch so gut wie nichts sehen konnte

Auf der Suche nach einem besseren Leben für uns alle beschloss meine Familie, aus der Sowjetunion zu fliehen und sich in dem neuen Land Israel niederzulassen. In dieser Zeit der Umsiedlung und Umstellung wurden an meinen Augen fünf Operationen durchgeführt. Die erste in Polen, auf unserem Weg nach Westeuropa, verlief erfolglos. Die übrigen alle in Israel durchgeführten Operationen hatten meine Linsen bis zu dem Punkt vernarbt, dass 99 Prozent der Linsen aus Narbengewebe bestanden, das effektiv verhinderte, dass Licht durchdringen konnte. Infolgedessen wurde mir vom Staat Israel ein Blindenausweis ausgestellt und die meisten Menschen in meiner Umgebung hatten sich damit abgefunden, dass ich nie würde sehen können.


Der Blindenausweis, mit dem ich vom Staat Israel für dauerhaft blind erklärt wurde

Als Kind las ich nur Braille-Schrift, obwohl ich eine normale Schule mit nicht sehbehinderten Kindern besuchte. Wegen dieser Situation litt ich viel unter Einsamkeit und Isolation. Was machst du, wenn du blind bist und von Kindern umgeben bist, die normal sehen können, während deine (tauben) Eltern sich hauptsächlich mit einer Zeichensprache verständigen, die du nicht sehen kannst …?

Mein Vater, der sich sehr für das aktuelle Zeitgeschehen interessierte, wollte oft, dass ich Radio hörte und ihm erklärte, was draußen in der Welt passierte. Er wollte, dass ich Nachrichten hörte und sie für ihn wiederholte, was mich zunächst irritierte. Ich verstand nicht, warum er immer meinen Kopf hob, wenn ich ihm zu erzählen versuchte, was ich gehört hatte. Später wusste ich, dass er das tat, weil er mir von den Lippen ablesen wollte. Aber wie sollte ich wissen, dass Lippenlesen so wichtig war, wenn ich gar nicht sehen konnte, wie sich die Lippen bewegten?! Diese tragikomische Situation charakterisiert treffend die frühen Jahre meiner Kindheit. Ich war von Verwirrung und Frustration umgeben und davon, dass meine Eltern immer zu kämpfen hatten, um im Alltag zurecht- und über die Runden zu kommen. Ich lernte aber auch, dass es viele Wege gab, um die Herausforderungen zu überwinden, mit denen Menschen durch ihre Lebensumstände konfrontiert werden.

Mir war klar, dass meine Eltern mich liebten. Dennoch war unser Leben von Angst und Unsicherheit geprägt, nachdem wir den Repressionen in der Sowjetunion entflohen waren, um in den jungen Staat Israel zu ziehen, der vom Krieg verwüstet war. Wegen ihrer Taubheit konnten meine Eltern kein Hebräisch lernen, das so ganz anders als das Russisch war, das sie vorher gesprochen hatten. Darüber hinaus verloren meine Großeltern mütterlicherseits das Geld, das sie aus der Sowjetunion mitgebracht hatten, durch schlechte Investitionen in Israel. Bei alledem glaubte meine Großmutter dennoch unerschütterlich an mich und fand Wege und Möglichkeiten, mir zu helfen. Sie blieb nach den Operationen bei mir am Krankenbett, als ich traumatisiert und verunsichert war, weil ich viele andere Kinder um mich herum weinen hörte.

Andere Mitglieder meiner Familie waren der Meinung, dass ich die Sozialfürsorge in Anspruch nehmen solle. Ich hatte zwar kein Problem damit, meine Familie um Geld zu bitten, aber irgendwie wollte ich es nicht vom Staat annehmen. Diese Einstellung entsprang einem tiefen Instinkt, dessen Ursprung ich erst später verstand, als ich reifer wurde. Ein Mensch, der staatliche Unterstützung erhält (was bei vielen Behinderungen der Fall ist), läuft leicht Gefahr, ein schlechtes Selbstbild zu entwickeln und sich als bedürftig oder bemitleidenswert zu sehen; das kommt automatisch, ob es einem gefällt oder nicht. Greift man aber nicht auf diese Unterstützung zurück, bekommt man ein stärkeres Selbstbild und ist gezwungen, eigenständig zu werden.


Ab der siebten Klasse war ich der schnellste Braille-Leser in Israel.

Ich war fest entschlossen, dass ich nicht als Blinder stigmatisiert werden wollte. Dieser Entschluss war der Beginn meines Wandels und einer Veränderung, ohne die ich nicht dahin gekommen wäre, wo ich heute bin. Als Reaktion auf den Mangel an Sicherheit und die Ungewissheit, die die frühen Jahre in meinem Leben prägten, entwickelte ich ein Gefühl der Entschlossenheit und Selbstverpflichtung. Andere Kinder wollten oft nicht mit mir spielen. Auf Partys wollten die Mädchen nicht mit mir tanzen. Manchmal fühlte ich mich einsam. Ich begriff aber, dass die Wahl bei mir lag, ob ich depressiv oder glücklich war.

So flüchtete ich mich in meine Braille-Bücher. Mit meinen Büchern war ich in einer anderen Welt und las stundenlang. Selbst wenn meine Mutter sagte: „Zeit zu schlafen, Licht aus“, versteckte ich die Bücher einfach unter meinem Bett. Unsere Wände waren zwar dünn, aber sobald das Licht aus war und ich wusste, dass sie mich nicht mehr sehen konnte, zog ich meine Bücher wieder hervor und las weiter.

Jedes Mal, wenn wieder neue Braille-Bücher auf dem Postamt eintrafen, eilte ich dorthin, um sie abzuholen. Die Bücher waren riesig. Es muss schon ein wundersames Bild gewesen sein, das ich abgab – ein kleines Kind, das einen sehr großen Schulranzen auf dem Rücken trug, der an den Schultern festgeschnallt war, dazu eine Braille-Schreibmaschine unter den einen Arm geklemmt und eine Tasche voller Braille-Bücher unter den anderen. Mehr als einmal fiel die Schreibmaschine zu Boden und war beschädigt und wir mussten dann die Reparaturkosten bezahlen. Mein Vater ärgerte sich immer über den hohen Preis und ich fühlte mich schuldig, weil ich die Schreibmaschine fallen gelassen hatte.

Langsam, aber sicher, bauten sich meine Muskeln auf. Viele, die mir in jener Zeit begegneten, meinten, es sei zu viel, was ich zu heben und zu schleppen hatte. Aber genau dieses viele Heben und Schleppen formte in vieler Hinsicht meinen Charakter. Ich stellte mir vor, dass irgendetwas mich eines Tages von meiner Blindheit befreien würde, und ich handelte danach: Ich ging aus eigenem Antrieb von einem Arzt zum anderen.

Ich kämpfte gegen den Unmut oder die Ressentiments der anderen Kinder in der Schule, die der Meinung waren, ich bekäme zu viel Sonderbehandlung. Es ärgerte sie, dass sie mir erklären mussten, was an der Tafel stand. Und mir ging es genauso! Ich wollte die Tafel mit eigenen Augen sehen können. Ich wollte allein, ohne fremde Hilfe arbeiten. Ich hatte sogar Lehrer, die gemein zu mir waren, weil ihnen mein Verhalten nicht passte. Sie glaubten, ein blindes Kind habe unterwürfig und passiv zu sein – was ich nie war und wahrscheinlich nie sein würde.

Ich wünschte mir verzweifelt, von meinem Zustand befreit zu werden. Aber alle Ärzte erklärten mir, daran könne man nichts ändern, die Blindheit werde mich mein Leben lang begleiten und mein Sehvermögen werde nie mehr als ein halbes Prozent ohne Brille und nicht mehr als vier oder fünf Prozent mit Brille betragen. Sie sagten, ich solle das Augenlicht annehmen, das ich hatte, und damit zufrieden sein. Das waren schöne Worte, aber mir halfen sie nicht.

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