Читать книгу Prinzessin der Finsternis. Ein historischer Vampir Roman - Mej Dark - Страница 11
Zarenmord im Ipatjew Haus
ОглавлениеSeit zwei Wochen hatte Jakow Michailowitsch Jurowski nun hier schon das Sagen. Er war ein widerwärtiger Mensch und voller Hass uns gegenüber. In seinem Oberlippenbart hingen immer Speisereste.
Er war von Alexander Beloborodow, dem Vorsitzenden des Uraler Gebietssowjets, zum Kommandanten ernannt worden.
Mama sagte, dass wir von ihm nun das Schlimmste zu befürchten hätten. Um seine eigentlichen Wurzeln zu vertuschen, wäre er in Deutschland vom Judentum zum Protestantismus übergetreten und dann sogar noch Bolschewik geworden. Konvertiten neigten zum Sektierertum und wären durch Übereifer zu jeder Schandtat bereit. Deswegen sind sie so gefährlich.
Gleich einen Tag nach seiner Ankunft zwang er uns, sämtlichen Schmuck abzugeben. Jedes einzelne Stück, welches wir trugen, ließ er sich vorlegen, notierte es akribisch und verschloss das Eingeforderte in einem versiegelten Umschlag. Diesen wollte er angeblich für uns aufbewahren und jeden Tag das Siegel auf Unversehrtheit prüfen. Doch wir glaubten das nicht.
Heute wurden wir plötzlich kurz nach Mitternacht geweckt und mussten alle in das große Eckzimmer neben der Vorratskammer im Keller gehen. Durch den nahenden Kanonendonner und Papas Warnung hatte ich sehr schlecht geschlafen. Im Flur stand eine Gruppe von mit Karabinern bewaffneten Soldaten. Das machte mir Angst. Nervös musterte ich ihre verschlossenen Gesichter. Einige von ihnen trugen die ungarische Uniform, verziert mit Rotgardisten-Abzeichen. Sie blickten uns teilnahmslos an. Die anderen, in der russischen Uniform, schauten weg. Unter ihnen war auch Hauptmann Pawel Medwedew, der als Kommandant der Außenwachen nach Jakow Michailowitsch Jurowski das Sagen hatte. Ich hatte ihm gestern noch ein Stück Kuchen angeboten.
Auf Papas Nachfrage, was das hier solle, erklärte Medwedew uns, es sei nur zu unserer Sicherheit, da eventuell mit einem plötzlichen Angriff der Weißgardisten zu rechnen wäre. Er grinste dabei merkwürdig und meinte, man werde uns anscheinend verlegen müssen.
Mama drückte mir beim Vorbeigehen hastig etwas in die Hand und sah mich bedeutungsvoll an. Ich ahnte, um was es sich handelte und schaute erschrocken zurück. War es tatsächlich so weit? Mein Herz übersprang zwei Schläge. Es war eine der Kapseln aus der geheimen Schatzkammer.
Sie lächelte einen kurzen Augenblick, um mir Mut zu machen. Dies ließ keinen Zweifel zu. Mir wurde eisig kalt und meine Hände zitterten unkontrollierbar, als hätte ich einen Tremor. Fast entglitt mir das kleine Gefäß mit der besonderen Medizin. Ich hielt die Hände fest zusammen, damit die anderen meine Furcht nicht bemerkten. Oh, geliebte Geschwister, liebe Eltern, was wird aus uns. Der Boden schien wegzubrennen und meinen zaghaften Schritten nicht standzuhalten. Für einen Moment glaubte ich ohnmächtig zu werden. Kalter Schweiß klebte unter meinen Achseln.
Doktor Botkin, der Leibarzt, hatte unsere drei Diener geweckt und kam mit ihnen herunter. Nur der neue Kammerdiener Leonid Sednew war nicht dabei, er hatte gestern noch Ausgang bekommen.
Papa trug Ljoschka auf den Armen, da man mit dem Rollstuhl schlecht hierher hinkam. Sie hatten beide Uniformhemden an und ungewöhnlicherweise Fellmützen auf dem Kopf. Unser Vater war offensichtlich in Sorge, dass wir nach draußen gebracht und sich der kleine Zarewitsch dabei erkälten würde.
Wir Mädchen hatten unsere Mieder und Kleider angezogen.
Darunter trugen wir Unterwäsche, in die wir unseren letzten Schmuck eingenäht hatten, den wir vor unseren Bewachern verbargen. Mama hatte zwar Tränen in den Augen, schluchzte aber nicht. Diese Genugtuung wollte sie ihren Feinden nicht geben. Sie riss sich zusammen und bat um Stühle, da Ljoschka nicht stehen konnte. Der Zarewitsch lehnte mühsam auf den dünnen Beinen stehend erschöpft seinen Kopf an sie, so als wollte er sich verstecken. Die Krankheit, der Sturz und die Entbehrungen der letzten Zeit waren für unseren Liebling zu schwer gewesen. Man brachte tatsächlich zwei Sitzgelegenheiten herbei. Ich wusste nun, dass Mama unseren baldigen Tod erwartete. Doch die Hoffnung in mir wollte nicht sterben.
Wollte man uns nicht doch wegbringen? Vielleicht waren Mamas schlimme Befürchtungen falsch und Medwedew sprach die Wahrheit?
Das letzte Geschenk fühlte sich eisig in meinen Händen an, die nun plötzlich glühten. Die Kälte tat gut und lenkte ab.
Papa versuchte ebenfalls tapfer zu erscheinen. Als letzter Zar und Familienoberhaupt wollte er uns auch in dieser Stunde Mut machen und ein Vorbild sein, darum bekreuzigte er sich und murmelte Gebete. Was nutzte das?
Hätte er doch lieber die Angebote des deutschen Kaisers angenommen. Ich hatte daraus gelernt, dass Stolz uns nur im Wege stand und blind machte. Man sollte auf gar nichts stolz sein. Genauso gut könnte man feststellen, man wäre dumm und dazu noch überheblich.
Trotz all der Aufregung hatte er offensichtlich bemerkt, dass Mama mir etwas gegeben hatte. Er ahnte, was es war, überließ aber allem, wie so oft, seinen Lauf. Was sollte er auch in diesem Moment sonst tun?
Unser Hausarzt, Dr. Jewgeni Botkin, stand neben Papa. Trotz der Kühle des Kellers rann fortwährend Schweiß von dessen Stirn. Seine wenigen Haare klebten dadurch an dieser. Er nestelte fortwährend nervös und ängstlich an der runden Brille. Seine Klugheit ließ ihn die Gefahr deutlich erkennen. Er verbarg vor mir seine panischen Blicke. Was sollte er auch mitteilen? Etwas hinter dem Doktor und Papa stand unser Koch. Ich befand mich in der äußersten Ecke neben Mamas Kammerfrau, die ein Kissen bei sich trug. Rechts vor mir stand Maria. Ich hatte somit alle gut im Blick. Anna Demidowa, so hieß die Bedienstete, hatte Mama ihr Kissen für Ljoschka angeboten, doch diese hatte es abgelehnt. Sie wollte ihn nicht von sich lassen.
Anastasija und Tatjana standen hinter Mama. Ich selbst hatte mich mit dem Rücken an den rundlichen Kamin gelehnt, der sich unmittelbar hinter mir befand.
In der Ferne hörten wir den Kanonendonner. Dumpf drang dieser durch die Wände des Kellerzimmers. Er war lauter geworden. Die Gefechte kamen rückten also näher und unsere Befreiung löste sich auf, wie ein Regenbogen am Himmel.
Wir Mädchen, der Leibarzt, unser Diener, das Kammermädchen, der Koch und Papa standen. Insgesamt waren wir elf Gefangene. Es gab außer den zwei Stühlen keinerlei Möbel im Raum. Mama setzte nun den Zarewitsch auf den einen Stuhl und sich auf den anderen. Er legte seinen Kopf auf ihren Schoß. Papa, der nun neben ihm stand, streichelte liebevoll seine Hand.
Unsere schönsten Augenblicke standen mir so kurz vor dem Tod vor Augen. Wie hatten wir das Leben mit unserem Baby genossen – so nannten wir unseren kleinen Bruder manchmal auch. War Ljoschka guter Dinge und fröhlich, schien der Sonnenschein überall im Palast. Ging es ihm durch die vielen Medikamente oder eine Verletzung schlecht, hingen düstere Wolken über unserer kleinen Insel.
Er musste leider immer äußerst vorsichtig sein. Das widersprach eigentlich seinem ungestümen Wesen. Bei Spaziergängen wurde er darum sogar von zwei Kosaken getragen, über deren Verschiedenheit Alexej gern scherzte.
Die Leiden und Schmerzen seiner Krankheit hatten sein goldenes Herz noch mitleidsvoller gemacht. Jedem, der litt, spendete er selbst Trost. Er war einer dieser wenigen, ganz besonderen Menschen, die nur sehr selten in dieser hässlichen Welt geboren werden. Christen bezeichnen solche Menschen als „Heilige“, die Buddhisten nennen sie „Boddhisatvas“.
Ich hatte als älteste Schwester viel Zeit mit Ljoschka verbracht und bei seiner Erziehung geholfen – von Anfang an. Mama schimpfte manchmal mit mir, da ich ihm aus ihrer Sicht zu wenig Tischsitten beigebracht hatte. Aber wie sollte man diesem Charmeur denn Grenzen setzen? Einmal hatte Alexej beim Empfang einer Dame den Schuh ausgezogen und eine Erdbeere hineingesteckt. Deswegen durfte er lange Zeit nicht mehr mit anderen Gästen essen.
Anders als wir fühlte sich Ljoschka jedoch mehr als Russe denn als Deutscher. Papa hatte ihm das eingeredet, da er ein Zarewitsch und somit der zukünftige Zar war. Deswegen trug unser Bruder wie alle Romanows gern die russische Marineuniform und sprach bewusst nur diese Sprache. Selbst wenn Mama ihn außerhalb des Unterrichts etwas auf Deutsch fragte, antwortete er ihr auf Russisch.
Als Papa wegen des Krieges im Feldlager war, begleitete Alexej diesen oftmals dorthin. Die Erlebnisse hatten beide zusammengeschmolzen. So war zum Beispiel der Sohn eines Generals in dieser Zeit gefallen. Da Papa Ljoschkas gutes Herz kannte, ließ er diesen bei dem trauernden Vater übernachten. Unser Bruder vermochte diesen alten Mann allein durch seine Nähe wieder aufzurichten und Trost zu spenden, obwohl er gerade elf Jahre alt war. Wir Schwestern und Mama pflegten in dieser Zeit die Verwundeten. Wir sahen dabei viel Leid.
Keiner sprach nun ein Wort, da die Angst ihre dunklen Flügel ausgestreckt hatte. Ich war mit fast dreiundzwanzig Jahren das älteste Kind und bildete den äußeren Abschluss unserer verängstigten nächtlichen Gruppe.
Es war jetzt 01:20 Uhr morgens. So standen wir verhöhnt und erniedrigt in diesem kühlen Zimmer und warteten auf weitere Anweisungen. Alle spürten, dass etwas anders als sonst war.
Furcht schnürte unsere Hälse zu und ließ bei meiner Schwester Anastasija unentwegt Tränen kullern. Sie war die Jüngste. Diesen Gefallen wollte ich den roten Bestien nicht gewähren. Meine Hände zitterten jedoch erneut wie Espenlaub.
Wir würden sicher sterben. Das war unser letzter Morgen. Ich machte mich bereit und zwang mich vor Angst nicht ohnmächtig zu werden. Ich musste klaren Verstand bewahren, damit mich das geheime Mittel vielleicht doch rettete. Ja, ich wollte leben, leben. Die Hoffnung stirbt zuletzt.
Der kleine Zarewitsch hustete und weinte. Mama strich ihm zärtlich über das Gesicht. Ihr Blick lag jedoch beschwörend auf mir. Leider hatten wir uns oft gestritten, da ich sehr eigensinnig sein konnte. Wie gern hätte ich all meine harten Worte nun in Worte der Liebe verwandelt. Für mich war dies die kostbarste aller Familien. Ich umschloss die dunkle Ampulle in der Hand noch fester. Sie gab mir Halt.
Papa sah mich traurig, aber konsterniert an. In seinen warmen Augen stand alle Liebe. Er verabschiedete sich so von mir.
Diesmal würde ich jedoch Mamas Rat folgen. Warum hatte Papa nicht schon früher auf sie gehört?! Wer weiß besser als eine Mutter, was für ihre Kinder gut ist? Sein Rat erwies sich leider oft als falsch.
Wir hätten dieses hinterhältige Land verlassen sollen, wie es uns die Verwandten unserer Mutter geraten hatten. Das Volk, dem Papa sich so verbunden fühlte, spuckte jetzt auf uns. Aus ihm kamen unsere Henker.
In einem günstigen Moment, während ich mich bekreuzigte, ließ ich das kleine Gefäß in meinen Mund gleiten und positionierte es unter meinen Backenzähnen. Ein kräftiger Biss würde es bersten lassen. Ich wollte unbedingt leben und nicht sterben! Noch nie war mir dies so kostbar erschienen. Mein Hals schnürte sich panisch zu. Verzweifelt wandte ich mich an Gott: Wenn es dich gibt, lass uns nicht sterben! Schenk uns ein Wunder!
Papa sah mich mit großen Augen an und verabschiedete sich mit einem Lidschlag. Mama nickte mir fordernd zu.
Ich schloss als Antwort ganz langsam und leicht meine Lider. Ein nur für mich erkennbares Lächeln zeichnete sich im besorgten Gesicht meiner wunderbaren Mutter ab. Diese bekreuzigte sich nun ebenfalls. Sie hatte mit dem Leben abgeschlossen. Dann sah sie liebevoll zu meinem Vater. Würde es das letzte Mal sein?
Rasputin hatte alles richtig vorausgesagt. Wir Romanows würden vertilgt werden und Russland zusammenbrechen.
Hätten doch nur die Weißgardisten Jekaterinburg schneller und überraschend gestürmt. Es war besser, dabei zu sterben, als weiter von diesen herzlosen Monstern der Revolution erniedrigt zu werden.
Die Tür öffnete sich. Die beiden Ungarn im Raum hielten demonstrativ ihre Hände an die Pistolen und funkelten uns mit giftigen Augen an. Unsere Blicke wandten sich ängstlich, leider auch mit etwas Hoffnung gemischt, den Eintretenden zu. Vielleicht war alles ein Irrtum?
Im Türrahmen erschien die Gestalt des verhassten Kommandanten Jakow Michailowitsch Jurowski. Er ähnelte einer Ausgeburt der Hölle. Sein kalter, herzloser Blick richtete sich auf meine Mutter, die ehemalige Zarin von Russland. Er strich sich genüsslich durch seinen schmutzigen Bart. Demonstrativ langsam holte er ein Schreiben aus seiner Jacke und grinste böswillig. Hinter ihm tauchten weitere Soldaten mit Gewehren auf, an denen wie auf dem Schlachtfeld Bajonette befestigt waren. Sie richteten diese nun auf uns. Eine Gegenwehr war unmöglich.
Die Kühle des Raumes wich einer besonderen Kälte. Diese war der Atem des Todes. Nur wer schon einmal in der Nähe eines Sterbenden war, kennt ihn. Dieser Hauch lässt das Mark gefrieren und jeden bis in die Knochen erschauern.
Voller Liebe versuchte ich nochmals meine Schwestern, unseren wundervollen und kranken Bruder, die geliebte Mama und unseren tapferen Vater mit einem letzten zärtlichen Blick zu bedenken. Diese starrten jedoch angstvoll auf Jurowski. Durch die vielen Heilsbücher, die wir in den letzten Monaten gelesen hatten, sollten wir eigentlich besser auf diese Stunde vorbereitet sein. Die herzlose Wirklichkeit war jedoch anders, immer schlimmer als erwartet und der eigene Geist schwächer und voller Angst. Sterben ist niemals leicht.
Alle meine Muskeln begannen zu vibrieren. Dabei klapperte sogar die Kapsel verräterisch im Mund unter den Zähnen. Ich musste auf den richtigen Moment warten, so wie Mama mich angewiesen hatte. Es war dieses unendlich schnelle Zittern der Todesangst. Ich sah, dass auch die Lippen meiner Geschwister bibberten und Schleim aus Marias Nase lief. Sie kümmerte sich nicht darum und war dem Wahnsinn nahe.
Mama beherrschte sich noch immer. Sie war stärker als wir.
Unser Henker verlas den Inhalt des Blattes. Ich verstand nur, dass dieses unser Todesurteil enthielt. Der Uraler Sowjet hatte es gestern beschlossen und übte Selbstjustiz. Es gab für uns keinen Prozess, keinen Anwalt, nur diesen heimtückischen Mordbefehl. War das die Idee von kommunistischer Gerechtigkeit, die sie selbst für sich laut einforderten? Es ist so leicht über andere zu richten!
Alles wirkte in diesem Moment entrückt und unwirklich. Es fühlte sich an, als verließ das Bewusstsein schon in diesem Moment den Körper und war nur noch ein Zuschauer der Ereignisse.
War alles ein böser Traum, aus dem ich vielleicht bald erwachte? Das konnte doch nicht die Realität sein? Es musste irgendetwas passieren, dass dieses Missverständnis beseitigte!
Mama und ich bekreuzigten uns nochmals. Niemand will seinen eigenen Tod wahrhaben.
Papa fragte der Realität entrückt: „Was?“
Die Männer zielten nun genauer auf unsere elfköpfige Gruppe. Sie schienen den Ablauf ihres Verbrechens genau besprochen zu haben, da auf jeden von uns ein anderer Rotgardist seine Gewehrmündung richtete. Auf mich war die von Pawel Medwedew gerichtet.
Die Möbel fehlten deswegen im Raum, weil sie unseren Tod bereits detailliert geplant hatten. Das wurde mir jetzt bewusst.
Der Kommandant Jurowski trat mit gezogenem Revolver auf Papa zu. Zwei Schüsse peitschten durch den Raum! Dann schoss er auf Mama. Unsere Eltern fielen als Erste getroffen zu Boden. Ljoschka schaute entsetzt und zitternd auf die Getroffenen.
Ich biss nun mit aller Kraft zu. Länger durfte man keinesfalls warten. Etwas schnitt in meine Zunge und Zahnfleisch. Den Schmerz spürte ich nicht. Der Inhalt schmeckte bitter und faulig. Brennend ergoss sich eine Flüssigkeit in den Magen und verströmte glühenden Schmerz.
Nun feuerten alle Soldaten gleichzeitig. Die Kraft des bitteren Mittels krümmte mich jedoch in diesem Moment. Ein Geschoss zischte an mir vorbei. Durch die plötzliche Bewegung hatte es mich verfehlt. Eine weitere Kugel traf mich nun mit Wucht vor die Brust und schmetterte meinen zarten Körper gegen die Wand.
Überall peitschten Schüsse. Federn flogen durch den Raum. Die Kammerdienerin versuchte voller Verzweiflung die Schüsse mit dem Kissen abzuwehren. Es war unermesslich laut. Pulverdampf trübte die Sicht, der Rauch konnte durch die geschlossenen Fenster, wie wir auch, nicht entweichen.
Ich war jedoch nicht tot. Wir hatten in unsere Mieder auf Mamas Anweisung schon in Tobolsk einigen Schmuck eingenäht. Dieser musste die Kugel abgehalten haben. Das Mittel begann zu wirken. Das Geschehen um mich her ähnelte einem Traum.
Auch die anderen Mädchen stöhnten. Ich blickte zu Papa. Schaute er tatsächlich zu mir? War das noch ein letztes Lächeln? Sein Körper zuckte unter weiteren Treffern. Auch ich verspürte einen großen Schmerz im Bein. Gleichzeitig brannte die fremde Flüssigkeit wie Feuer im Magen. Der Wirkstoff versengte mich innerlich.
„Bitte nicht!“, stöhnte die neben mir liegende kleine Maria.
Auch sie lebte noch. Die Bolschewiken hatten auf die Brust ihrer Opfer gezielt.
Ljoschka, mein Bruder, der Zarewitsch, stöhnte leidvoll und stützte sich auf einen Unterarm. Seine Kinderaugen baten um Gnade. Er hatte furchtbare Schmerzen.
Jurowski trat nun kaltherzig zu diesem, hielt seinen Revolver an dessen Ohr und drückt erneut ab. Der Kopf zuckte unter dem Schuss und krachte laut auf die Dielen.
Trotzdem wimmerte Ljoschka immer noch unerträglich. Bitte, bitte, lasst ihn leben und tötet stattdessen alle anderen!
Jurowski schoss ihm ein zweites Mal in die gleiche Stelle ins Ohr. Blut und Gehirn meines geliebten kleinen Bruders spritzten nun auf den hölzernen Boden. Er stöhnte nicht mehr.
„Sterbt endlich!“, schrie der Anführer der Henker und entlud nun den Rest seines Pistolenmagazins auf Anastasija. Die Geschosse schienen sie nicht zu verletzen.
Die eingenähten Juwelen verzögerten ihre Pein. Selbst Morden ist zuweilen nicht so einfach, wie viele glauben.
„Ein Wunder! Die Kugeln prallen ab!“, rief einer der russischen Schergen und bekreuzigte sich entsetzt. Er wagte nicht mehr zu schießen. Auch die anderen stellten erschrocken das Feuer ein. Der Raum war voll Gewimmer und Stöhnen.
„Bekreuzigst du Narr dich noch?“, schrie Jurowski außer sich und riss dem Soldaten den Karabiner aus den Händen.
„Schaut her, wie man das macht!“
Er stach mit aller Wut auf die wimmernde Anastasija ein. Das Bajonett drang aber nicht ganz durch und blieb im eingenähten Goldschmuck des Mieders stecken. Der Raum war voller Nebelschwaden, was die Sicht erschwerte. Jurowski versuchte nun das Messer herauszuziehen und schliff dabei meine Schwester durch den halben Raum. Blut verschmierte den Boden. Das Bajonett steckte jedoch weiter im Schmuck und den Rippen fest. Die wilde Bestie musste Anastasija mit einem Fußtritt von dem Stahl lösen.
Die Soldaten wirkten konsterniert und wussten nicht, was sie tun sollten. Auch Tatjana und meine Mutter stöhnten noch. Ich stellte mich tot.
„Vielleicht ist das ein Zeichen von Gott!“, wagte ein anderer Russe einzuwenden.
„Noch ein Wort und du liegst auch da!“, schrie der rasende Kommandant diesen an.
„Nur gut, dass ich noch die Ungarn mitgenommen habe.“
Er kramte in der Tasche nach seinem Taschenmesser und zog dieses heraus. Es hatte eine recht kurze rostige Klinge. Ich hatte gesehen, wie er sich mit diesem schmutzigen Ding manchmal einen Apfel schälte oder die langen Nägel reinigte.
„Bitte nicht!“, stöhnte die kleine Maria eindringlich, die ihm am nächsten lag. Das Monster ließ von Anastsija ab und machte bei der Kleinen weiter.
Jurowski griff kalt in ihre Haare, als töte er nur ein Tier, und begann mit dem Messer an ihrer Halsschlagader zu säbeln. Es war wohl recht stumpf, denn es dauerte ein wenig, bis das erste Blut hervorsprudelte. In irrer Raserei begann er die kurze Klinge ungeduldig in ihren kleinen Hals zu stoßen. Das Morden ging ihm nicht schnell genug. Es war ein bestialisches Meucheln. Maria schrie dabei fortwährend spitz und markerschütternd.
Mit weit aufgerissenen erschrockenen Augen beobachteten die anderen Häscher sein wahnsinniges Tun. Maria war immer noch nicht ganz tot, als er sich vorerst zufrieden mit seinem Werk den Männern zuwandte. Der hohe Blutverlust ließ aber den baldigen Tod meiner jüngeren Schwester erahnen.
„Soll ich das alles allein machen? Los!“ Mit seinem Stiefel trat er meinem toten Vater ins Gesicht. Ein Zahn brach dabei aus dessen Kiefer. Durch diesen Schwung verlor der Henker aber auf den blutverschmierten Dielen das Gleichgewicht und rutschte aus. Jurowski landete dabei so, dass er der noch immer nach Luft krampfenden Maria direkt ins weinende Gesicht schaute.
Puterrot versuchte er sich zu erheben, rutschte aber erneut auf dem glitschigen Blut aus.
Ein Ungar lachte darüber und reichte ihm die Hand.
„Ist nicht so leicht!“, sagte er auf Deutsch zu den anderen.
„Halts Maul!“, befahl Jurowski auf Russisch und stand allein auf.
Das Kommando machte sich nun erneut an die befohlene Schlachtarbeit. Ich hörte die kleine Maria immer noch durch den geöffneten Hals nach Luft keuchen. Wahre Bestien waren das. Wer konnte Kinder morden? Das waren keine Menschen, sondern Höllenwesen, die selbst den Tod verdienten.
Zwei Tschekisten stachen nun um die Wette auf Tatjana ein. Diese jammerte bei jedem Einstich laut.
Das Bajonett des einen Schergen verfing sich wie zuvor bei ihrem Anführer in der Kleidung und ließ sich nicht mehr herausziehen.
Durch die Versuche, es doch zu schaffen, riss er den noch lebenden Körper meiner blutenden Schwester von links nach rechts. Dadurch verfehlte wiederum der andere Bandit mit seinen Stößen das Ziel und dessen Bajonett landete mal im Bein, mal im Bauch von Tatjana, die jedes Mal trotz des hohen Blutverlustes leidvoll aufschrie.
Nichts ist schlimmer als diese Laute eines gequälten Kindes, das nicht erfassen kann, zu was Menschen fähig sind. Selbst wilde Wölfe erscheinen nach solchen Taten harmlos. Aller Schmerz, alle Verzweiflung und alles erschütterte Vertrauen lagen in diesen Schreien. Ich werde sie niemals vergessen.
Tränen des unermesslichen Mitgefühls rannen aus meinen Augen. Das Leid war nicht mit Worten zu beschreiben. Mein Körper wurde katatonisch.
Ich wirkte tot konnte jedoch noch immer meine Umwelt irgendwie wahrnehmen. Pawel Medwedew stieß mir probeweise das Bajonett ins Bein. Ich spürte den Schmerz nicht, so als wäre ich narkotisiert. Er stach ein weiteres Mal in die Brust. Hier spürte ich den Stahl noch etwas, doch schwieg.
„Die ist hinüber!“, schrie er zufrieden.
Dann wandte er sich Anastasija zu.
Ihr Stöhnen zeigte ihm, dass noch Leben in ihr war.
„Diese lebt dagegen noch!“, schrie er den anderen zu.
Er musterte sie neugierig, wie ein Schlachter das Lamm. In seinen Augen stand weder Mitleid noch ein schlechtes Gewissen. Der Henkersknecht dachte nur nach, wie er seinen Mord am besten bewerkstelligen konnte. Höhnisch auflachend stieß er ihr das Bajonett direkt zwischen die Beine. Sie wimmerte. Sein Kommandant trat hinzu und riss ihm das Gewehr aus der Hand.
„Du sollst sie nicht ficken, sondern umlegen!“, keuchte er und stieß das Bajonett in Richtung ihres Halses, um dort die Halsschlagader zu treffen, verfehlte diese jedoch. Angstvoll versuchte meine Schwester fortzukriechen. Ein weiterer Bajonettstich nagelte jedoch ihr Bein am Holzfußboden fest.
Der Ungar Imre Nagy, der dies getan hatte, sah meine blutende Schwester wie eine Schlange an, die man im Garten auf eine Forke spießte. Er lachte sogar auf, als sie sich krümmte und wand. Sie konnte nun nicht mehr fort. Ihn belustigte das.
Ein wahnsinniger Schmerz breitete sich vom Magen her in meinen restlichen Körper aus. Das Mittel schien mehr einer Säure zu ähneln. War es vielleicht bloß Gift, das mich lähmte?
In diesem Moment des Todes und der Erniedrigung schwor ich Gott ab und gelobte Rache. Wie konnte er dies alles zulassen? Ich schwor, nicht eher zu ruhen, bis das Menschengeschlecht von Bestien dieser Art befreit war. Blut für Blut, den Guten zuliebe. Dafür war ich bereit, selbst zu einem Monster zu werden.
Jurowski drückte das Gewehr wieder Pawel Medwedew in die Hand. Meine Schwester konnte ja nun nicht mehr entkommen. An einer anderen Stelle war für ihn wohl mehr zu tun.
„Du wirst schon sterben, Schlange!“, schrie Medwedew. „Hab nur Geduld! Und schönen Dank noch für den Kuchen!“
Erneut stieß er mit dem Bajonett zu. Er hatte sich nun den oberen Unterleib ausgesucht. Das scharfe Messer drang tief ein. Ein blutiger Brei ergoss sich aus der Wunde. Ein weiterer hilfsbereiter Ungar, der sein Mordgeschäft schon erfolgreich beendet hatte, eilte zu Hilfe. Es war der, der gestern das zweite Stück Kuchen von uns erhalten hatte. Sie stachen wild auf sie Sterbende ein. Ihre Gedärme quollen heraus. Ich hörte noch einmal meine Mutter hauchen.
„Olga …!“
„Deine Bälger sind alle schon hin!“, hörte ich Jurowski höhnen. „Wieso lebst du Hexe noch?“
„Da liegt Gold!“, schrie plötzlich Medwedew aufgeregt.
Aus meinem Mieder hatten sich einige Teile des eingenähten Schmuckes gelöst. Auch Jurowski blickte erstaunt auf das glänzende Metall.
„Diese Ausbeuterbrut versteckt sogar noch bei der eigenen Hinrichtung ihr Gold! Darum sind die Kugeln abgeprallt!“, stieß er aufgebracht hervor.
Für einen Moment hielten die Männer verdutzt in ihrer grausamen Tätigkeit inne und schauten begierig auf die Schmuckstücke.
„Keiner fasst das an!“, befahl ihr Kommandeur.
„Wer das macht, wird sofort erschossen! Wir bringen das jetzt zu Ende und dann sammelt ihr alles ein!“
Jurowski ließ selbst vom Morden ab, um die Untergebenen zu überwachen. Natürlich traute er dieser ihnen nicht. Zudem war seine eigene Gier erwacht.
„Los, an die Arbeit! Ihr seid solche Dilettanten! Ein Teil von dem Pack lebt noch immer!“
Medwedew sah nochmals prüfend auf meinen blutüberströmten Körper und stach mir zur Sicherheit abermals herzlos in den linken Arm. Ich fühlte es nicht und verzog keine Miene. Das mysteriöse Mittel wirkte.
„Die ist krepiert!“, verkündete er stolz zur letzten Sicherheit auch noch meinen Puls fühlend und spuckte zur Bestätigung in mein Gesicht.
Ich bekam keine Luft. Mir wurde sehr, sehr kalt. Es wurde dunkel und friedlich. War dies der Tod?