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Zarskoje Selo am 14. März 1917

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Die erste Bahn Russlands wurde zwischen Petrograd und Zarskoje Selo gebaut. Oh, ich liebte Zarskoje Selo. Schon immer! Es war hier ganz anders als in Petrograd. Nirgendwo gab es einen besseren Platz für Freigeister. Sogar Puschkin hatte hier gewirkt und seine Spuren hinterlassen. Es gab sogar ein Museum über den großen russischen Dichter. Das kleine Feodorowski-Städtchen war einfach entzückend zum Bummeln und Einkaufen. Die Symbiose von Parks und Schlössern war unvergleichlich in ganz Europa. Wo gab es noch so ein erhabenes und zugleich behagliches Ensemble? Von den unzähligen Kunstwerken im Schloss muss man gar nicht sprechen.

Wie wunderbar war es, durch die schönen barocken oder englischen Parks zu laufen und am Ufer der dortigen Seen die Schwäne zu füttern. Der Schönste von ihnen war für mich der Alexandrowski-Park. Jetzt im März steckten dort bereits die ersten Blumenblüten ihr Haupt der erstarkenden Sonne entgegen. Man sah auch schon erste Bienchen summend fliegen und den frühen Honig sammeln. Bei schönem Wetter beobachtete ich von der prächtigen Paladin Brücke das Treiben der Vögel auf dem See oder den Kampf der Enten um zugeworfene Brotkrumen. Danach trank ich gern einen Tee im Pavillon „Grotte“.

Wir wohnten wie immer im Katharinenpalast und waren in diesem Jahr früher als sonst hierher gekommen. Papa hatte seine Verwandten, die unseren Vater Grigorij ermordet hatten, verschont. Diese waren nur aus Petrograd verbannt worden. Was war das für eine milde Strafe für dieses große Verbrechen! Mama verzieh ihm diese Milde nicht und sorgte sich um unser Leben. Der Vorwurf, wir wären Deutsche, wurde immer lauter geäußert. Zuweilen sprach Mama sogar davon, nach Schweden zu fliehen. Doch sie liebte natürlich unseren Vater viel zu sehr, um diese Drohung wahr zu machen.

Die Lage in Petrograd spitzte sich insgesamt zu. Seit einigen Tagen war die Bahnverbindung dorthin unterbrochen. Es gab immer wieder gefährliche Unruhen in der Metropole. Einige machtverliebte Aristokraten nutzten die Abwesenheit des Zaren für sich aus und verfolgten ihre eigenen Pläne. Sie schürten das Chaos und verdienten an der Lebensmittelknappheit. Unser Vater war gerade im Hauptquartier der Armee in Mogilew in der Nähe von Minsk. Wir sahen ihn kaum noch. Er verbrachte die meiste Zeit als Oberbefehlshaber im Generalstab an der Front. Früher hatte er manchmal unseren kleinen Bruder gegen den Protest von Mama mitgenommen. Doch seit Rasputin tot war, erschien ihm das Risiko dafür zu hoch. Eine kleine Verletzung konnte unseren Bruder, der an Hämophilie litt, töten. Zudem stießen die Deutschen Kilometer um Kilometer vor. Selbst der russische Winter hatte sie nicht aufhalten können. Es sah fast so aus, als würden sie den Krieg gewinnen. Das wäre schrecklich. Im ganzen Land herrschte Hunger, da die Felder durch den Krieg nicht ausreichend bebaut worden waren. Die Männer waren ja Soldaten. In den Städten und Fabriken gab es immer wieder Streiks. Dazu gab es noch Gerüchte von einem geplanten Umsturz. Aus allen diesen Gründen waren wir froh, hier zu sein.

Rasputin schien recht zu behalten. Mütterchen Russland versank im Chaos. Das wollte ich aber an dem heutigen Tag vergessen. Nur für einen Augenblick sollten die Sorgen verblassen. die Jugend ist doch dazu da, um sie zu genießen. Es war der 14.03.2017 nach gregorianischem Kalender, wie wir ihn in Russland verwendeten. Der Rest Europas benutzt die julianische Zeitrechnung. Hiernach war der 01.03.2017. Mama war mit Anastasija zu einem bedeutsamen Generalsbegräbnis gefahren. Davon gab es jetzt viele. Alexej bastelte gerade mit seinem Englischlehrer, Charles Sydney Gibbes, Modellhäuser. Am Vormittag hatte ich mit ihm vorsichtig Ball gespielt.

Wir drei Mädchen waren also unbeobachtet und konnten endlich einmal das machen, was wir wollten. Und was war das?

Natürlich ein Tanztee! Solche Vergnügungen waren in Kriegszeiten aus Respekt vor den Soldaten und den Toten verboten. Doch welches junge Mädchen will nicht tanzen?

„Was ist, wenn Mama herausbekommt, was wir machen?“, fragte ich Tatjana besorgt, die die eigentliche Organisatorin war.

Diese lachte und warf ihr offenes Haar kess von links nach rechts.

„Dann ist es ohnehin zu spät. Olga, willst du denn niemals einen Jungen küssen?“, stellte sie in den Raum.

„Was weißt du schon“, erwiderte ich lachend. „Ich habe schon viele geküsst.“

„Papa und deinen Bruder Alexej! Das war es dann auch schon“, spottete Maria. Sie war die Jüngste von uns Dreien.

Es klopfte. Wir kicherten. Da waren sie, unsere stolzen Kadetten, die wir zu uns gerufen hatten. Sie wussten natürlich nicht, was sie hier erwartete. Alle unsere Kammerdienerinnen und Bediensteten hatten den strengen Befehl erhalten, keineswegs zu stören. Sicher waren sie froh, auch ein wenig Freizeit zu erhalten.

„Herein doch!“, befahl ich mit tiefer, verstellter Stimme. Maria und Tatjana lachten leise.

Etwas verdutzt traten die drei jungen Offiziersanwärter ein. Sie erröteten und wussten nicht so recht, wie sie sich verhalten sollten und traten unsicher steif ein. Die Burschen waren erst vor zwei Tagen aus Petrograd hierher versetzt worden und gehörten zum Wolhynischen Garderegiment. Die schwierige Situation dort gefährdete ihre Ausbildung, die sie gerade begonnen hatten.

Der Mutigste von ihnen nahm militärische Haltung an und salutierte, als wären wir seine Befehlshaber. Die beiden anderen kopierten seinen Gruß etwas verzögert.

Wir kicherten erneut. Das führte bei den jungen Männern zu noch mehr Röte in ihren Gesichtern.

„Man hat uns befohlen, hier zu erscheinen“, stotterte der selbst ernannte Anführer erklärend.

Da ich die Älteste war und auch militärisch ja gewisse Erfahrungen besaß, übernahm ich die Rede.

„Jawohl, meine Herren Offiziersanwärter! Ein wichtiger Auftrag, streng geheim!“, tat ich wichtig.

Maria prustete heraus und konnte ihr kindisches Lachen nicht zurückhalten. „Mein Gott!“, keuchte sie.

„Ein bisschen Haltung!“, ermahnte ich sie scheinbar streng. „Was sollen die Herren Offiziersanwärter denken?“

Die drei glotzten mich an und verstanden rein gar nichts. Sie sahen durchaus gut aus. Der Jüngste war etwa siebzehn, der Älteste um die zwanzig Jahre alt.

„Nun ja, darf ich vorstellen? Das sind meine Schwestern die Prinzessinnen Tatjana und Maria.“

Beide machten dazu jeweils einen höfischen Knicks. Es war ein Theaterstück und machte wirklich Vergnügen. Die jungen Männer knallten gehorsam die Hacken zusammen.

„Und ich bin Olga, im Moment die Herrin des Hauses Romanow, da die Zarin auswärtig beschäftigt ist.“

„Sehr wohl!“, fand der Mutigste unter ihnen seine Stimme wieder. Das war zwar unpassend, aber lustig.

Tatjana ging nun zu einer der in den Kühlern bereit gestellten Flaschen Sekt und goss daraus sechs Gläser voll.

Nervös sah sich der Anführer um.

„Soll ich Ihnen helfen, verehrte …“ Der flotte Bursche stotterte etwas, da er nicht wusste, auf welche Weise ein Offiziersanwärter meine Schwester anreden sollte.

„Nennen Sie mich einfach Tatjana, wir sind ganz unter uns!“

Sie trat an den Burschen heran und reichte ihm ein Glas. Ungläubig sah dieser auf das prickelnde Getränk. „Nur zu!“, ermunterte sie die anderen und wies auf die Gläser. „Oder soll ich euch wirklich bedienen.“

Die beiden jüngeren Offiziere trauten sich trotzdem nicht ihren sicheren Stehplatz zu verlassen.

Maria brachte ihnen darum ihre Gläser.

„Wir wollten heute alle Neuankömmlinge begrüßen!“, stellte ich fest. „Zudem kommt ihr aus Petrograd. Da viel gemunkelt wird, wollten wir aus erster Hand erfahren, wie es da im Moment so ist.“

Die drei machten große Augen und waren vor Schock stumm. Man musste ihnen die Angst nehmen. Verdammt, waren die verkrampft.

„Auf Russland!“, rief ich patriotisch, trank das Glas aus und warf es in bäuerlicher Sitte in weitem Bogen über meinen Rücken. Es zerbrach klirrend. Das sollte Glück bringen.

„Na los!“, befahl ich.

Etwas verlegen grinsend taten sie es ebenso. Jedoch trauten sie sich nicht, die Gläser zu zerschmettern.

Tatjana holte eine neue Flasche als Nachschub für alle und drückte diese, dem Schönsten von den Dreien in die Hand. Er war wohl der Mittlere vom Alter und tat etwas unbeholfen seinen Dienst.

„Zieht doch erst einmal eure Mäntel aus!“, regte ich an, da die Drei trotz der Kälte zu schwitzen begannen. Seit Tagen funktionierte im Palast weder Heizung noch Wasser. Die Wasserwerke streikten und scheinbar auch die Heizer.

Die Kadetten folgten der Aufforderung. Ich sah, wie sie sich fragende Blicke zuwarfen und auch ein erstes verschmitztes Lächeln bei Zweien von ihnen. Nur der vom Alter Mittlere behielt eine eisige Mine. Er war anscheinend besonders schüchtern und brauchte mehr Sekt.

„Auf den Sieg!“, befahl ich das nächste Glas.

„Auf Zarskoje Selo!“, regte Tatjana an.

„Auf den Zaren!“, schloss sich Maria an.

Tatjana lief etwas watschelnd zum Grammofon. Die Schuhe waren für ihre Spreizfüße etwas zu eng. Sie ging darum am liebsten barfuß. Doch das passte hier natürlich nicht.

„Könnt ihr tanzen?“ Sie winkte mit der Hand ab. „Ach was! Das ist ein Befehl, ihr müsst tanzen!“

Sie legte Walzer auf. Die beschwingten Klänge erfüllten den kleinen Saal.

Der Älteste der Drei ließ sich nicht lange bitten, machte vor mir eine galante Verbeugung. „Darf ich bitten!“

„Ja gern!“ Wie lustig war das. Und er konnte tatsächlich gut tanzen und gefiel mir vom Typ ausgesprochen gut. Irgendetwas war an ihm witzig und ich mochte Witzvögel. Zudem war er sportlich und durchaus auch hübsch anzusehen. Er gehörte zu denen, die einem nicht auf den ersten Blick, aber auf den zweiten auffallen und die sich durch ihre offene Art, dann auf den ersten Platz schieben. Ein echter russischer Prachtkerl eben. Das Leben war ernst genug, da war ich für jede Ablenkung dankbar.

Die anderen folgten uns, bildeten aber bei weitem nicht so gute Tanzpaare.

Maria beschwerte sich sogar über ihren tollpatschigen Partner. „Du tanzt wie ein Bauer!“

Tatjana lachte. „So etwas sagt eine Prinzessin nicht.“

Maria grummelte und war unzufrieden. Etwas neidvoll beobachtete sie, wie ich mit meinem Begleiter durch den Saal huschte. Die Welt drehte sich um mich. Das war das wahre Leben.

„Woher kommst du?“, fragte ich beschwingt.

„Aus Minsk!“

„Gefällt dir die Stadt?“

„Oh ja! Sie ist nicht so groß wie Petrograd, aber schon bedeutsam. Nun ist sogar das Oberkommando dort.“

Die anderen beiden Paare hatten nach zwei Walzern das Tanzen eingestellt und sahen uns zu. Tatjana schenkte weiter Sekt nach. Sie schien unzufrieden mit ihrer Wahl. Der Kerl schien stumm wie ein Fisch und wirkte dabei fast grimmig. Obwohl er der Hübscheste von unseren Besuchern war, erschienen mir seine Blicke, mit denen er uns heimlich musterte, etwas verlogen.

Mein Begleiter war dagegen ein typischer Russe. Der aufsteigende Alkohol machte ihn immer mutiger. Ich spürte, wie er sogar kess mit seinen Fingern zärtlichen Druck auf meine Hand und Taille ausübte und sie rein zufällig mal da, mal dorthin verrückte. Er war genau der Richtige für einen solchen Tag.

Wir setzten uns nach zwei weiteren Walzern zu den anderen. Natürlich gab mir Petja, so hieß mein Kadett, einen Handkuss zum Dank. Seine Lippen verweilten etwas zu lang. Nun ja, das gefiel mir. Tatjana nahm es etwas neidvoll zur Kenntnis. Sie hatte den Stockfisch abbekommen. Maria kicherte und hielt ihrem Tanzpartner auch die ihre Hand hin, der sie eifrig mit einem kleinen Küsschen bedachte. Seine Ohren glühten dabei wie Schmiedeeisen. Er hieß Oleg. Die nächste Flasche wurde geöffnet.

„Wie ist es so als Soldat“, fragte Maria recht naiv in die Runde.

Die drei sahen sich an.

„Es geht so“, hörte ich Oleg zum ersten Mal sprechen. „Ich bin froh hier zu sein!“, schüttete er sein junges unschuldiges Herz aus. Der Alkohol lockerte ihm die Stimme.

„In Petrograd weiß man nicht, wo man steht.“

Die beiden anderen warfen ihm bedeutungsvolle Blicke zu. Er sollte schweigen.

„Was heißt das?“, hakte ich gerade deswegen nach.

„Ach nichts!“, lenkte mein Tanzpartner ab. Ihm war das Thema unangenehm. „Wozu muss man sich an einem so schönen Tag Sorgen machen? Wollen die Damen vielleicht abermals tanzen?“

Schon war er aufgesprungen und machte uns zur Belustigung einen wilden russischen Kosakentanz vor. Seine Beine wirbelten, während er kniend hoch und runter sprang.

Ich mochte ihn.

„Ihr tanzt zu schlecht“, wehrte Tatjana ab. „Nein, lasst uns lieber würfeln!“, schlug sie schnippisch vor.

„Was ist der Einsatz?“, fragte Petja frech.

„Na, was wohl!“ Tatjana ließ eine Pause vergehen. „Ein Kuss! Die Gewinner dürfen sich küssen.“

Erstaunt sahen wir uns an. Petjas Gesicht leuchtete auf. Die Wendung war ganz nach seinem Geschmack. Er träumte sich wohl schon in den Armen einer Prinzessin.

„Ist das denn erlaubt?“, fragte er zur Sicherheit dumm nach.

Ich hatte nichts dagegen. Ein Kuss mit ihm könnte mir gefallen. Ein merkwürdig warmes Summen erfasste nicht nur mein Gesicht vor Aufregung.

„Erlaubt?“, spottete ich. „Das ist ein Befehl! Ihr habt den Befehl uns ordentlich zu unterhalten!“

Er salutierte: „Sehr wohl!“

Wir lachten. Nur einer nicht.

„Ich spiele nicht mit!“, druckste er herum und machte eine eiserne Mine. Es war Tatjanas mürrischer Tanzpartner.

Maria verstand nicht, warum er diese Chance nicht nutzen wollte.

„Wieso? Du brauchst keine Angst vor uns zu haben. Wir erzählen auch niemandem davon. Sei nicht so ein miesepetriger Stockfisch.“

„Ich habe keine Angst vor euch!“, schoss es aus ihm heraus. Der Alkohol lockerte auch seine Zunge.

Plötzlich lag eine ganz andere Stimmung, etwas Ernstes in der Luft.

„Was dann?“, hakte ich neugierig aus.

„Ich küsse keine Deutsche!“

Das schlug ein! Stille breitete sich aus. Die Stimmung war dahin. Dieser unverfrorene Kerl. Was erlaubte er sich?

Im gleichen Moment ertönte lautes Glockengeläut. Es war ein Achtungszeichen.

Verdutzt hörten wir alle auf den Klang.

Die Tür wurde aufgerissen. Ein Kadett stürmte in den Raum.

„Kommt sofort mit, man sucht euch schon!“, rief er diesen zu. „Wir werden neu vereidigt!“

Erst jetzt gewahrte er uns drei Romanow-Prinzessinnen.

Er nahm Haltung an.

„Der Zar hat abgedankt!“

Prinzessin der Finsternis. Ein historischer Vampir Roman

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