Читать книгу Completely - Auf immer und ewig - Mej Dark - Страница 8
Der Gewinn
ОглавлениеEs war früher Nachmittag. Der melodische Gong der Klingel ertönte. Jemand stand an der Haustür und der kurze, gekringelte Schwanz von Blair, unserem schwarzen Mops, wedelte in Vorfreude auf die zu erwartende Abwechslung.
Meine kleine Schwester Fiona, die ich bereits tief ins Herz geschlossen hatte, lief geschwind in den Flur, obwohl sie die Tür nicht öffnen durfte. Mama hatte es ihr verboten, weil sich in den Nachrichten die Meldungen über Verbrecher und Terroristen häuften. Fiona tat es trotzdem.
Eine freundliche Stimme drang durch das Haus bis zu mir. Mein gutes Gehör ließ mich alles ausgezeichnet verstehen. Die Fremde entpuppte sich als Bellas Mutter. Sie war noch nie da gewesen, seit ich hier wohnte. Interessiert belauschte ich das Gespräch.
„Ist denn auch dein Bruder da?“, hörte ich die Besucherin fragen.
Ich legte die Stirn nachdenklich in Falten. Was wollte sie von mir? War etwas Gutes zu erwarten oder war besser Vorsicht angesagt?
Inzwischen war auch meine Mutter zu den beiden getreten. Sie betrachtete mich ohne jeden Zweifel als ihren Sohn.
„Wie geht es euch so?“, fragte sie den Gast höflich. Die ungewisse Zukunft der Nachbarsfamilie besorgte sie und natürlich war sie neugierig, wie alles endete. Alle in der Umgebung wussten, dass Bellas Familie seit dem schweren Unfall ihres Vaters mit finanziellen Problemen kämpfte. Durch eine dumme Verwechslung im Krankenhaus hatte er sein linkes Bein verloren und bisher keine Entschädigung erhalten. Sein Arbeitgeber, der Auftraggeber und das Krankenhaus, das den Fehler verzapft hatte, stritten seit Jahren darüber, wer verantwortlich wäre. Jeder wies die Schuld zurück und erklärte die andere Seite für zuständig. Die Gerichte ließen sich Zeit und die Rechtsanwälte freuten sich über steigende Honorare. Für sie war es ein juristisches Tauziehen, für die Betroffenen ging es um die Existenz. Nächste Woche sollte das Haus von Bellas Eltern zwangsversteigert werden, da seit Monaten die Kreditraten nicht mehr bezahlt wurden. Die Familie war bankrott. Wohin würde Bella dann ziehen? Ich hoffte, dass sie in der Nähe eine Unterkunft fand. Mein Herz fürchtete sich vor den Folgen dieser Veränderung.
„Man kann es kaum glauben, aber wir sind in letzter Sekunde gerettet worden! Es ist ein Wunder, danke Gott!“, plapperte die Nachbarin aufgeregt. Ihre Stimme überschlug sich geradezu. „Holen Sie doch bitte Ihren Sohn, dann erzähle ich die Neuigkeit gleich für alle!“
Meine Mutter und Fiona riefen gleichzeitig nach mir. Scheinbar arglos, als hätte ich bisher nichts gehört, trat ich aus dem Zimmer. Meine Bleibe mündete in den Flur, der wiederum zum beengten Vorflur des kleinen behaglichen Hauses führte. Die Eingangstür stand noch immer offen. Eiskalte Luft wehte ins Innere.
„Kommen Sie doch herein“, bot meine Mutter der Nachbarin höflich an. Diese fröstelte schon, da sie keinen Mantel trug.
„Nein, ich gehe gleich wieder und wollte nur ihren Sohn holen“, wiegelte Bellas Mutter ab und drehte den Kopf zu mir. „Lex, ich lade dich herzlich ein! Mein Mann will sich bei dir bedanken!“
„Bedanken?“ Mama und Fiona machten verblüffte Gesichter. Ich ahnte jedoch etwas.
„Wir können es selbst nicht glauben!“ Bellas Mutter sprudelte nur so vor Aufregung. In diesem Rausch hörte man ihren indianischen Akzent besonders deutlich und ich witterte einen süßen Geruch. Das musste Wein sein.
„Das war eine Rettung in letzter Minute!“, frohlockte sie und blickte selig zum Himmel. Anschließend richtete sie ihren Blick mit der gleichen Frömmigkeit auf mich. „Wir haben gestern im Lotto gewonnen! Alle Zahlen waren richtig, sogar die Zusatzzahl!“
Meine Mutter wurde blass. „Wirklich?“, flüsterte sie.
Da ich menschliche Reaktionen mittlerweile sehr gut deuten konnte, bemerkte ich eine Spur von Neid in ihrem Gesicht.
„Ja, wir haben es wieder und wieder überprüft, ob alles seine Richtigkeit hat und extra auch noch einen Tag gewartet. Schlafen konnten wir zwar nicht, aber inzwischen steht sogar schon die Höhe des Gewinns fest. Bitte erzählen Sie aber niemandem davon!“, bat sie.
„Juhu!“, rief Fiona und jubelte kindlich. „Jetzt muss Bella nicht fortziehen und kann für immer mit Lex zusammen sein. Er liebt sie doch!“
Ich wurde puterrot. Diese Kinder! Sie sprach die Wahrheit derart naiv und direkt aus, dass die Mütter sich schelmisch anlächelten. Scheinbar hatte meine Mama nichts gegen eine wohlhabende Freundin ihres Sohnes.
„Na, so was“, murmelte ich. Meine Überraschung beruhte allerdings mehr darauf, dass ich durch die Ereignisse der letzten Tage nicht an die Lottoziehung gedacht hatte. Andererseits hatte ich gehofft, dass meine Berechnungen sich als wahr herausstellen würden. Ich war schließlich ein mathematisches Genie mit einem fotografischen Gedächtnis. So etwas gab es selten.
„Komm gleich rüber!“, lud Bellas Mutter mich nochmals ein. „Es gibt Kuchen und Kaffee, alle warten auf dich. Ein Nein kann ich nicht akzeptieren.“
Ich freute mich, da ich endlich die Chance hatte, Bella wieder richtig nahe zu sein. Sie hatte sich die letzten Tage irgendwie rar gemacht und Wert auf Abgrenzung gelegt.
„Was hat Lex damit zu tun?“, wollte meine Mutter wissen.
„Ihr Sohn hat doch meinem Mann bei der Berechnung der Zahlen geholfen! Ich habe das alle nicht ernst genommen, nur mein geliebter Gatte ihm vertraut. Er hat genau diese Zahlen gespielt und gewonnen!“
„So was geht?“ Meiner Mutter blieb der Mund offen. Gleichzeitig musterte sie mich seltsam. Vermutlich träumte sie schon von ihrem eigenen Gewinn und sah in mir den neuen Familienernährer. Ihr Freund, besser Bettgefährte, also der Onkel Schlachter, konnte ihr ja kein großzügiges Leben bieten. Seine Qualitäten lagen auf einem anderen Gebiet.
„Da komme ich doch gern vorbei!“, unterbrach ich ihre Überlegungen und warf die Jacke über, um zu Bella zu gehen.
„Bring mir unbedingt ein Stück Kuchen mit!“, bat Fiona.
„Na klar, ich gebe deinem Bruder extra ein ganz großes!“, bestätigte Bellas Mutter, bevor ich etwas versprechen konnte. „Und für Sie natürlich auch!“, erklärte sie der meinigen.
Es waren bloß wenige Schritte bis zum anderen Haus. Wir waren ja Nachbarn.
Schon als wir die Tür öffneten, wehte uns der süßlich bittere Duft von Kaffee, Kuchen und Sekt entgegen. Da ich erst vor Kurzem hier gewesen war, kam mir alles vertraut vor. Der Vater empfing uns mit dem Tuten einer sich ausrollenden Papierpfeife, die Kinder an Geburtstagen benutzten. Sein ganzes Gesicht strahlte. Er benahm sich wie ein aufgeregter Junge, der ein unerwartetes Geschenk erhalten hatte. Auch Bella lächelte mich herzlich an, als wäre alles zwischen uns klar wie das Wasser unseres Bergbaches. Was war das für ein schöner Augenblick!
„Da ist ja unser Supergenie!“, rief der Hausherr begeistert und humpelte mit seinem beschuhten Holzbein auf mich zu. Der Champagner war ihm bereits zu Kopf gestiegen, das sah man an den leicht glasigen Augen und der roten Nase.
Kaum hatte ich einen Fuß über die Türschwelle gesetzt, drückte er mir einen dicken Schmatzer auf die Wange. Dabei traf er fast meinen Mund. Selbst Bella musste ausgiebig lachen. Dabei schwappte etwas Sekt aus ihrem Glas.
„Wir – haben – gewonnen!“, jubilierte der Vater. „Es war eine deiner Zahlenkombinationen!“ Er drückte mich und begann vor Freude zu weinen. Tränen der Rührung kullerten aus seinen Augen auf meine Jacke. Mir war das unangenehm.
„Papa!“, wisperte Bella pikiert. „Meinst du nicht, du bist ein bisschen zu alt dafür? Du benimmst dich wie ein kleines Kind“, tadelte sie sein überschwängliches Benehmen.
„Ich bin auch nur ein Mensch!“, wies der Glückspilz sie zurecht. „Selbst Männer weinen manchmal. Es ist doch alles außergewöhnlich.“
Bald fand der Lottogewinner aber in seine Beamtenhaltung zurück. Er winkte mir zu und ging schnurstracks zu einem alten Schrank im Wohnzimmer vor. Dort öffnete er mit einem Schlüssel eine große Schublade.
„Das ist unser Heiligtum!“, verkündete er.
„Erzähl keine Märchen!“, beschied Bellas Mutter ihn. „Wir bewahren darin nur unsere Bilderalben auf …“
„Und die Post unserer Verwandten!“, unterbrach der Gatte ihren Einwand und holte eine uralte Karte hervor. „Man sollte zu seinen Wurzeln stehen.“
Ich trat hinzu. In dem Schubfach lagen drei ordentlich übereinander gestapelte Alben, daneben zwei offene Kartons und ein verschlossener. In den offenen Kistchen entdeckte ich mit einem Bindfaden zusammengehaltene Bündel von Briefen. Bellas Vater hob den Deckel von dem dritten. Mehrere mit Banderolen umwickelte Packen neuen Geldes waren darin. Der Vater nahm den gesamten Karton heraus.
„Die Hälfte des Gewinns gehört natürlich dir! Das hier ist ein symbolischer Vorschuss! Auf den Rest muss ich noch ein paar Tage warten.“
Die Mutter und auch Bella nickten gewichtig. Das Teilen des hohen Gewinnes stand offenbar für alle fest und war im großen Familienrat beschlossen worden.
Ich freute mich sehr, dass es so schnell und vor allem noch rechtzeitig geklappt hatte. Zwar war die Wahrscheinlichkeit für die errechnete Zahlenreihe groß gewesen, doch es gab immer kleine Unwägbarkeiten, die vielleicht nur zu einem Sechser ohne Zusatzzahl geführt hätten. Auch die gesamte Theorie konnte auf fehlerhaften Annahmen beruhen. Ich hatte mich sehr angestrengt, damit Bella meine Nachbarin blieb – und hoffentlich noch viel mehr für mich wurde.
Mein Plan schien aufgegangen zu sein. Bella sah mich mit liebevollen Augen an, ich war erneut ihr Retter. Mein Blut rauschte schneller, das wild klopfende Herz drohte meine Brust zu sprengen und die Rippen zu zerstören. Vorsichtig schielte ich nach unten, ob man das sehen konnte. Da war nichts Ungewöhnliches. Beruhigt blickte ich wieder hoch.
Allerdings plagten mich nun andere Zwistigkeiten. Entschieden trat ich von den Geldscheinen zurück.
„Nein, das geht nicht“, lehnte ich ab. „Sie brauchen das Geld viel dringender. Ich bin nur ein Schüler und habe weder Schulden noch eine Familie zu unterhalten.“
Meine Bescheidenheit machte die drei sprachlos. Eine eigenartige Stille breitete sich aus. War es vielleicht unhöflich gewesen?
„Aber dann stehen wir für immer in deiner Schuld!“, stammelte der Vater. „Und vielleicht kommen einmal Zeiten, da werden du oder deine Enkel sie einfordern und wir werden sie zu dem Zeitpunkt aus irgendeinem Grund nicht begleichen können.“
„Mir reicht es vollkommen, wenn Sie mich alle als Freund der Familie betrachten“, beschwichtigte ich ihn. Das war so ein Satz aus irgendeinem der Bücher, die ich gelesen hatte, um mich über die Bewohner dieser Welt zu informieren. Durch mein besonderes Gedächtnis hatte ich Zugriff auf eine Vielzahl passender Redewendungen. Leider wirkten diese für die heutigen Menschen zuweilen etwas gekünstelt. Ich musste da Maß halten.
Obwohl, vielleicht sollte ich etwas anderes fordern. Die hiesigen Schriftsteller hatten mehrere Märchen geschrieben, in denen ein Held als Belohnung für seine Ruhmestat um die Hand einer Königstochter anhielt. War meine Tat großartig genug, um Bella als meine Frau zu wünschen?
Schleunigst verwarf ich diesen Gedanken. Die Zeiten hatten sich leider verändert. Es wäre auch zu einfach gewesen. Bellas Gesicht wirkte schon jetzt steif, als dächte sie über die tiefere Bedeutung und die Konsequenzen meiner Worte nach. Und ihre Mutter schloss sich ihrem Blick an. Da sollte ich nicht noch kräftiger auftragen, wie man hierzulande sagte.
Der Vater griff sich von irgendwoher Gläser, die er mir und seiner Frau in die Hand drückte. Es waren alte geschliffene Kristallstücke. Sie funkelten. Prickelnder Sekt ergoss sich in diese.
„Freund!“ Der Hausherr versuchte der Formulierung eine besondere Bedeutung zu verleihen, indem er jedem Mitglied seiner Familie lächelnd zuprostete.
„Freund!“, stimmte die Mutter zu und ließ ihr Glas an meines klingen.
„Freund der Familie!“ Bella stieß ebenfalls an.
Auch ich trank auf die Freundschaft, durchdachte jedoch den von Bella hinzugefügten Anhang: Freund der Familie. Die Kurzform wäre mir lieber gewesen. Vielleicht interpretierte ich zu viel hinein. Intelligenz erschafft so manches Problem, welches Dummköpfe nicht haben.
Andererseits wirkte meine Angebetete genauso offen wie bei meinem letzten Besuch. Wahrscheinlich hatte ich mir nur eingebildet, dass sie mir aus dem Weg ging.
Gemeinsam setzten wir uns an den gedeckten Tisch. Eine weiße Decke veredelte ihn und Kaffeegeschirr aus vergoldetem Porzellan versuchte uns zu entzücken. Mehrere Kuchen und Torten schimmerten in der Mitte des kleinen Kreises. Wir konnten diese niemals allein essen. Die Familie hatte gehörig übertrieben.
Raven, der schwarze Kater, der sich zu Halloween in Ravenhort verwandelt hatte, sprang währenddessen von einem Sessel auf das nebenstehende Sideboard. Dabei warf er den Bilderrahmen um, welcher dort stand. Dieser umschloss jenes Foto, das mir beim letzten Besuch auf den Boden gefallen war. Der Kater stierte mich fast schon menschlich an und maunzte unentwegt, als wollte er mich auf etwas hinweisen. Verstand Ravenhort uns auch in seiner Katzengestalt?
Seufzend erhob sich Bellas Mutter. Sie stippte Raven zur Seite und richtete den Rahmen wieder auf. Interessiert fixierte ich das alte Foto, das Bellas Urgroßtante Gaya zeigte.
Eine merkwürdige Erinnerung wollte sich in mir hocharbeiten. Schweiß brach auf meiner Stirn aus. Mein Kopf schwitzte dermaßen, dass ein Tropfen meinen Nacken herunter rann. Warum bewegte der Anblick mich so sehr? Ich tat äußerlich, als wäre alles ganz normal und rührte mich nicht. Einzig Bella analysierte mein paralysiertes Gesicht.
„Das ist meine uralte Großtante in jungen Jahren. War sie nicht schön? Na du weißt ja von ihr. Soweit wir wissen, lebt Großtante Gaya noch immer“, plauderte ihre Mutter. „Dabei ist sie weit über hundert Jahre alt!“
„Zweimal wurde sie bereits begraben und ist angeblich jedes Mal von den Toten zurückgekommen! Beim letzten Mal waren wir sogar dort“, mischte sich der Vater ein und lachte schallend. „Indianische Mythen eben. Diese kennen viele Geschichten über Geister und Dämonen, Flüche, Werwölfe, Vampire und Hexen. Bellas Urgroßtante wartet angeblich noch immer auf ihren Liebsten und will deswegen nicht sterben.“
„Ach je, was für eine große Liebe muss das gewesen sein!“, schwärmte Bellas Mutter und faltete andächtig die Hände. „In ihrer Jugend sollen alle sie für ihre Schönheit bewundert haben. Wie doch die Zeit vergeht …“
Ich lauschte noch interessierter. Stand diese Urtante in irgendeiner Beziehung zu mir und dem, was ich jetzt erlebte? Nach den Erlebnissen in der Halloweennacht war ich offen für Déjà-vus und Zufälle aller Art. Überdies wusste ich nach wie vor nicht, woher ich nun wirklich kam.
„Es heißt, sie warte noch immer auf ihren Verlobten“, erzählte die Mutter verzückt weiter. „Leider ist er seit ihrer Jugend verschwunden. Die Ärmste …“
Bella drehte nervös an ihrem alten Ring.
„Der Ring, den Bella trägt, soll ein Geschenk von ihm sein!“
„Das wusste ich gar nicht!“ Bella schaute das Stück erstaunt an. „Wieso juckt mich das Ding immer? Ich werde ihn zurückgeben! Es war ohnehin ein Versehen, dass ich ihn mitgenommen habe.“
„Vielleicht hat er magische Kräfte und will zur Großtante zurück. Man weiß das nie bei unserer Großtante. Manche sagen ja, sie hätte Zauberkräfte. Ich dachte ja, sie wäre tot, als ich ihn dir gab“, entschuldigte sich die Mutter.
„Wieso erfahre ich das erst jetzt?“ Bella sah heimlich zu mir.
„Familiengeheimnisse eben. Wer erzählt schon gern von einer Hexe und einem Blutsauger in der Familie?“, spöttelte ihr Mann. „Was für ein ungewöhnliches Paar!“ Er drückte seiner Frau einen Kuss auf die Wange. „Manchmal geht das auch gut.“
„Verhöhne kein Mitglied unserer Familie!“, wies sie ihn zurecht. „Wir wollen alle in Ehre halten!“
Der Vater plauderte trotzdem weiter und schmückte die Geschichte weiter aus. Er war nicht zu bremsen.
Das Gehörte versetzte mich in Unruhe. Mein Blut geriet in besondere Wallung und ich linste erneut zu dem Bild. Gern hätte ich es in die Hand genommen und genauer untersucht, was sich jedoch nicht ziemte. Dafür stupste Raven das Foto abermals an und stierte mich geradezu menschlich an. Es drohte vom Board zu fallen.
Bella sprang hinzu, um das Bild vor den Attacken des Katers zu retten.
„Und jetzt runter mit dir!“ Sie setzte den Kater auf den Boden ab, der widerspenstig mit den Krallen nach ihr kratzte. Missgelaunt verzog er sich.
Bellas kurzer Rock hatte sich beim Bücken ein wenig hoch verschoben. Ich konnte nicht anders und musste auf das Höschen sehen, das leicht hervorlugte. Wer würde einem solchen Anblick widerstehen?
Leider bemerkte Bellas Mutter diesen Blick. Ich tat, als wäre es bloß Zufall, wohin ich schaute. Runzelte sie die Stirn?
„Da hat unser Tantchen aber keine guten Chancen!“, griff der Vater das unterbrochene Gespräch wieder auf. „Irgendwann muss auch sie vor dem Willen der Natur aufgeben und sterben. Nicht jede Liebe endet mit einem Happy End.“ Er blickte versöhnlich zu seiner Frau hinüber und sie schenkte ihm sogar ein Lächeln. Wer konnte sich nach so einem Glücksfall auch streiten? Die beiden liebten sich trotz aller Schwierigkeiten. Würden Bella und ich uns eines Tages genauso anlächeln?
Wieder wollte der Vater ein Märchen über die Tante erzählen. Die Mutter lenkte jedoch vom Thema ab, indem sie endlich den Kuchen servierte. Ihr war die Geschichte etwas peinlich. Sie hatte genug davon.
Die Gespräche, das seltsame Verhalten des Katers und das Bild der alten Frau hatte jedoch erneut etwas in meinem Unterbewusstsein bewirkt. Mir wurde plötzlich so schwindelig, dass ich die Finger um die Lehnen krampfte.
„Lex, du siehst blass aus“, sagte Bellas Mutter mitfühlend. „Gruseln dich diese alten Märchen? Schon beim letzten Mal hast du so merkwürdig gewirkt, als du das Bild von Großtante Gaya sahst! Man könnte denken, es gibt ein geheimnisvolles Band zwischen euch“, versuchte sie allem eine scherzhafte Wendung zu geben. Bella musterte mich nun offen. Glaubte sie ebenfalls, dass es zwischen mir und dieser Tante eine Verbindung gab?
„Stell die alte Hexe bloß woandershin!“, forderte ihr Mann sie auf. „Bei ihrem Anblick bekommt Alex scheinbar Angst.“
„Bitte sag nicht so was über die liebe Großtante!“, schimpfte die Mutter. „Sonst löst das noch ein Unglück aus!“ Sie bekreuzigte sich und spuckte dreimal symbolisch zur Seite, um Schaden abzuwenden. Selbst Bella machte ein Kreuz nach der christlicher Sitte.
„Ja, das ist gut möglich“, stimmte der Hausherr zu und sah mich an. „Von irgendwoher muss meine Frau ihre besondere Gabe schließlich haben. Sie kann tatsächlich etwas Traumdeuten. Ich hoffe nur, dass Bella nicht auch dergleichen geerbt hat. Sie interessiert sich auffällig viel für Hexerei.“ Diese rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her. Diese Wendung gefiel ihr nicht so gut. „Lass das bitte, Papa! Wer glaubt denn in der heutigen Zeit an so etwas“, lenkte sie geschickt ab.
Raven war inzwischen auf den Sessel gesprungen und wandte uns demonstrativ den Rücken zu. Erst jetzt fielen mir einzelne graue Strähnen in seinem Fell auf. Ravenhort hatte auch solche in seinem langen Haar gehabt.
„Sprich lieber wieder von den Lottozahlen!“, forderte die Gattin ihren Ehemann auf. „Dabei kannst du weniger falsch machen!“
Bellas Vater ließ sich auf diesen Themenwechsel nur zu gern ein. Mit den glänzenden Augen eines Glückspilzes schilderte er uns jedes Detail der Ziehung. Es war erstaunlich, wie facettenreich er die Drehung des Rades beschreiben konnte. Da die Erzählung ungewöhnlich lang war und mich auf meinem Weg zum Glück nicht weiterbrachte, schweiften meine Gedanken zu Bella, die links neben mir saß. Auch sie langweilte der Bericht über die Kugeln, dennoch zeigte sie sich höflich. Nur selten schaute sie in meine Richtung und ein Lächeln musste ich lange suchen, wie Goldmünzen im Wald.
Bellas Mutter bediente uns mit dem Kaffee und einer zweiten Portion der köstlichen Kuchen. Während die Sahnestückchen auf unseren Zungen zerflossen, lauschten wir kauend dem unendlich langen Monolog des Vaters.
In der Luft lag jedoch nicht einzig der Geruch der Speisen. Da Bella direkt neben mir saß, konnte ich jede Nuance ihres wundervollen Odems, einer Mischung aus Parfüm und dem Duft ihrer Haut, genießen. Für einige Herzschläge verlor ich mich in diesem schönen Duftlabyrinth. Die Worte des Vaters nahm ich lediglich wie das Geplätscher eines Flusses wahr, an dessen Ufern man entspannte.
Du musst mehr wagen, schoss es mir durch den Kopf. Sie hatte mir doch bereits den Handkuss gewährt. Nur der Kühne erringt Erfolg.
Meine hübsche Nachbarin hatte ihre rechte Hand müde auf ihr Bein abgelegt. Diesen Augenblick nutzend, griff ich unter dem Tisch und langte ganz zärtlich nach den Fingern – so als berührte ich sie rein zufällig.
Für einen Moment erstarrte Bella. Sie merkte genau, was ich tat und wagte es nicht, den Kopf zu mir zu wenden. Wie hypnotisiert blickte sie auf den Mund ihres Vaters. Lediglich die Wangen färbten sich ein wenig.
Sie entzog sich nicht meiner heimlichen Intimität. Mein Herz füllte sich mit Hoffnung. Überließ sie mir tatsächlich ihre Hand? Ich glaubte sogar ein leichtes Streicheln zu spüren. Sie drückte ihre Finger stärker, jedoch sacht gegen meine. Die besondere Nähe, diese Zärtlichkeit und ihr wundervoller Geruch machten mich innerlich fast manisch. Ich wollte noch mehr von ihr haben, ihr noch näher sein. Selbst der Speichel lief mir im Mund zusammen, sodass ich ihn wiederholt schlucken musste. Bekam ich etwa Lust, ihr süßes Blut zu trinken?
Erschrocken wehrte ich diesen wahnsinnigen Gedanken ab, der mich schon wiederholt ergriffen hatte. Ich wollte gerade ihre Hand loslassen – aber da ergriff sie die meine noch fester. Erst jetzt spürte ich, dass etwas in ihrer Hand lag, das sie mir geben wollte. Die Kühle und die Konsistenz verrieten, dass es sich um einen kleinen zusammengefalteten Zettel handelte. Hatte sie eine Nachricht an mich geschrieben, eine Botschaft, einen Liebesbrief? Natürlich wollte ich ihn gleich lesen. Bedauerlicherweise war das im Augenblick nicht möglich.
„… und dann rollte die letzte Kugel“, hörte ich den Vater mit ungebrochener Begeisterung weitererzählen. „Vor Aufregung konnten wir die Zahl nicht erkennen, weil sie aus zwei Ziffern bestand …“
„Schatz, du beginnst unseren Gast zu langweilen“, versuchte die Mutter zu unterbrechen.
„Freund!“, korrigierte ihr Gatte.
„Dann eben unseren Freund zu langweilen“, murrte seine Frau und servierte mir ein drittes Stück Kuchen.
„Vielen Dank, doch mehr bekommt mir nicht gut!“, wehrte ich ab. „Außerdem habe ich gleich einen wichtigen Termin.“
„Dann packe ich noch ein wenig Kuchen für deine Familie ein“, meinte Bellas Mutter konsterniert.
Ungeduldig wartete ich, während sie mit übertriebener Liebenswürdigkeit ein fettes Päckchen für Fiona schnürte und mit allerlei Schleifchen versah. Endlich war das Paket fertig. Bella begleitete mich zur Tür. Eine Freudenblase stieg in mir hoch – die jedoch schnell platzte. Denn leider ließen es sich die Eltern nicht nehmen, sich uns anzuschließen. So wurde mir ein alleiniger Augenblick mit meiner Liebsten, die mir ihre Hand überlassen hatte, verwehrt. Ich umarmte alle drei zum Abschied. Zuerst den Vater, dann die Mutter, danach meine Holde.
Der wunderbare Moment währte viel zu kurz. Andererseits begehrte ich sie so sehr, dass es besser war zu gehen, bevor ich etwas vollkommen Verrücktes tat.
Kaum war die Tür geschlossen, öffnete ich den Zettel.
Komm um 23 Uhr zur alten Herberge!
Bella wollte sich tatsächlich mit mir treffen. Ich war am Ziel meiner Wünsche und hatte ein Date! Doch im nächsten Atemzug welkte die blaue Blume meiner Fantasie ein Stück. Sie hatte einen eigenwilligen Ort ausgesucht. Die alte Jugendherberge stand seit Jahren leer. So gesehen war es ein guter Ort für ein einsames Date. Gewiss wollte meine liebreizende Fee dafür sorgen, dass wir ungestört blieben.
Eigentlich wäre ein geschmückter Schlosssaal mit leuchtenden silbernen Kandelabern die richtige Kulisse gewesen. Anscheinend hatte Bella einen merkwürdigen Geschmack. Mochte sie den Schauer unheimlicher Gemäuer, in denen man spukende Geister vermutete?
Ich zerstreute alle Bedenken. Diese Nacht wollte ich Bella küssen, auch wenn ihr Kuss alles über mich verriet. Da heute Vollmond war, erschien es mir umso wichtiger, in ihrer Nähe zu sein. Keiner wusste, ob sich die Zwillinge erneut verwandeln würden.