Читать книгу Prophezeiung des Wolfskindes - Melanie Häcker - Страница 4
Kapitel 2
ОглавлениеFünf kräftezehrende Tage brauchten sie, bis sie endlich La Tog erreichten. In der Stadt hielten sie sich nur eine Nacht auf, füllten ihre Provianttaschen auf dem Markt auf, ehe sie, entgegen der Warnung der ansässigen Händler weiter nach Salla ritten.
Die kahlen, knorrigen Äste der Bäume gaben nur einen bescheidenen Schutz gegen die Schneemassen, die vom Himmel herab segelten.
Die Flocken stachen ihr wie feine Nadeln in die von Kälte gepeinigte Haut, was ihre Stimmung zum Tiefpunkt sinken ließ.
Erstaunlich wir hartnäckig der Winter das Land in seinem Griff hält. Wir hätten die Warnung ernst nehmen sollen.
Doch für diese Erkenntnis war es mittlerweile zu spät.
Naya flüchtete sich so oft wie nur möglich in ihren Wolf. Doch auch dessen Grenzen waren mit dieser extremen Eiseskälte bald erreicht, weswegen es keinen Unterschied mehr macht, in welcher Form sie umher wandelte.
Das dichte Schneegestöber verringerte enorm ihre Sicht. Der Wind, der damit einherging, drang durch jede Ritze ihrer Kleidung.
Mittlerweile kribbelten ihre Finger nicht mehr, sondern waren fast steifgefroren, ebenso ihre Zehe und Beine. Nur noch mühsam hielt sie sich im Sattel, denn die Eiseskälte entzog ihr sämtliche Kräfte. Immer mehr schwarze Sterne tanzen vor ihren Augen, vereinten sich und bildeten eine zunehmende Dunkelheit.
Mit aller Willenskraft, die sie aufbieten konnte, verdrängte sie die kommende Ohnmacht. Sie waren schon viel zu nahe bei Salla, als das sie sich jetzt einen Moment der Schwäche eingestand.
Doch ihr Körper sah das anders. Kapitulierte gegen die Naturgewalten, die um sie herum tobten.
Naya nahm wahr, wie die Welt anfing zu kippen, ehe sie von einer bodenlosen Dunkelheit empfangen wurde.
~~~
Valdis
Ein dumpfer Laut erklang hinter ihm. Hastig wendete er sich im Sattel um und stieß einen derben Fluch aus.
Naya lag mit dem Gesicht voran im Schnee.
Soweit es seine steifen Glieder zuließen, kletterte er aus dem Sattel, eilte zu ihr und drehte sie um, damit sie Atmen konnte. Ihre Lippen besaßen bereit eine gefährliche blaue Färbung. Zugleich bemerkte er durch den Stoff hindurch, dass ihr Leib kaum noch Wärme ausstrahlte.
Ungeschickt, da er selbst kaum noch Gefühl in den Fingerkuppen hatte, hievte er sie auf die Arme. Er trug sie zu einer Gruppierung von Büschen, wo sie vorerst windgeschützt waren.
Er musste zusehen, dass sie aus der Ohnmacht wieder erwachte, bevor der eisige Tod ihr Herz zum Stillstand zwang.
Ausgiebig rubbelte er ihre Arme, ihre Beine, um so Wärme in sie zu bekommen, denn mit seinen klammen Fingern war es undenkbar in kürzester Zeit ein Feuer hinzubekommen.
Doch die Bemühungen waren umsonst. Nur schwächlich zeichnete sich ihre Atmung als Wölkchen vor ihrem Mund ab, die zudem sehr unregelmäßig auftauchten. Angst schnürte ihm die Kehle zu. Hektisch suchte er nach einer Möglichkeit, wie er sich, aber auch auf die Pferde bekam.
Eine umgestürzte Eiche brachte ihn auf eine Idee – eine waghalsige – aber er musste alles nutzen, was machbar war.
Ohne lange darüber nachzudenken, trat er zu den Pferden, packte Kejells Zügel, band ihn am Sattel seines Hengstes fest, um dann die Leinen seines Tieres in die Hand zu nehmen. Er führte ihn zu dem umgefallenen Baum und drückte den Hengst ruppig dicht an das Holz, was dieser mit einem unwilligen Schnauben kommentierte.
„Das du mir ja so stehen bleibst“, schnauzte er den Braunen an, ehe er zu Naya hastete. Valdis schulterte den leblosen Körper, der ihm viel zu leicht vorkam, ehe er unbeholfen auf den verschneiten Stamm kletterte. Behutsam, immer darauf bedacht, wohin er den nächsten Schritt setzte, balancierte er sich zu seinem Pferd, das zum Glück so stehen geblieben war, wie er es hinterlassen hatte.
Nun aber sah er sich einem anderen Problem gegenüber. Auch wenn Naya ein Fliegengewicht war, war es ein heikles Unterfangen, mit ihr zusammen auf den Rücken des Hengstes zu klettern.
Doch er musste es versuchen, um dann so rasch er konnte, nach Salla zu gelangen.
Er stellte ein Bein in den Steigbügel, sie weiter eisern festhebend, schwang in dem Moment sein anderes Bein über die Kuppe, als sein Pferd einen Schritt zur Seite trat. Erschrocken hielt er die Luft an. Im letzten Augenblick beugte er sich nach vorne, plumpste förmlich in den Sattel, ehe er bemerkte, wie Naya ihm von der Schulter rutschte.
Fluchend packte er ihren Mantel, schlang seinen Arm ruppig um sie und fing sie gerade so noch auf, bevor sie ein zweites Mal im Schnee landete. Hastig fasste er nach, hangelte umständlich ihre Beine über den Rücken des Hengstes, um sie vor sich zu setzten. Erst jetzt erlaubte er sich, wieder Luft zu holen, zugleich spürte er, dass keinerlei Spannung in ihrem Körper vorhanden war, was in ihm eine leichte Panik schürte.
Er hielt seine Wange an ihren Mund, dabei setzte sein Herz fast aus, bis ein ganz feiner Hauch über seine Härchen strich.
„Bei Agin, ich muss mich beeilen.“ Er hieb die Fersen in die Rippen des Pferdes und zwang ihn, so schnell es möglich war mit dem hohen Schnee, nach Salla.
~~~
Er kannte nur noch eine Richtung. Ein Ziel, das endlich vor ihm auftauchte.
Wie er es geschafft hatte, Naya in den zwei Tagen, die ihm wie eine Ewigkeit vorgekommen waren, am Leben zu erhalten wusste er nicht mehr. Ihm war es auch egal, was für Beschimpfungen die Leute in den Straßen ihm an den Kopf warfen, während er die Hengste gnadenlos vorwärtsdrängte.
Das Einzige, worauf er sein Augenmerk richtete, war der immer kälter werdende Körper in seinen Armen. Die Gewissheit, dass ihre Atmung kaum noch zu fühlen, geschweige denn als kleine Wolken vor ihrem Mund zu sehen war. Die Angst, mit einer Toten bei König Bijan anzukommen, durchzog jede Faser seines Körpers.
Vor dem massigen Haupttor zügelte er dicht an einem der Flügel sein Pferd. Er hieb mit der Faust gegen das Holz, woraufhin Wellen des Schmerzes die Hand durchfuhr, doch er ignorierte sie. Stattdessen schlug er weiter dagegen. Gleichzeitig brüllte er aus voller Kehle: „Kommandant Drengur! Öffnet sofort das Tor!“
Nichts rührte sich. Er hämmerte ununterbrochen gegen das Holz, nahm kaum das Brennen wahr, dass seine Hand durchzog. Er schrie, so laut es seine brennende Kehle wiedergab: „Kommandant Drengur! Es geht um Leben oder Tod!“
Endlich klackte die Verriegelung. Ein irritiert dreinschauender Soldat sah heraus, runzelte die Stirn und brummte: „Was brüllt Ihr so. Ihr seht ziemlich lebendig aus. Zudem wieso verlangt Ihr nach dem Kommandanten?“
Valdis schob den Umhang zur Seite, um dem Recken einen Blick auf Naya zu gewähren, woraufhin dieser erbleichte und hastig den Torflügel aufschob.
„Rasch rein mit Euch. Ich gebe dem Kommandanten Bescheid.“ Gleich darauf eilte der Soldat davon, während ein anderer hinter Valdis das Tor verschloss. Valdis hingegen steuerte den Stall an, den er jedoch nicht erreicht.
Ein Mann rannte auf ihn zu, packte Valdis Hengst an den Zügeln, ehe nussbraune Augen angsterfüllt zu ihm aufsahen.
„Wo ist sie?“
Valdis schob zum zweiten Mal den Umhang zur Seite, gleich darauf streckten sich ihm zwei Arme entgegen.
„Gib sie mir. Ich bring sie sofort rein.“
Er sah Bjarkar an, zögerte, doch dann übergab er Nayas leblosen Körper ihrem besten Freund und sah zu, wie er mit ihr in die Burg verschwand.
Valdis selbst glitt stöhnend aus dem Sattel. Er schlurfte weiter zu den Stallungen, wo er anfing, die Pferde abzusatteln. Ein Diener, vom Kommandanten geschickt, übernahm die Arbeit, woraufhin Valdis in die Burg eilte, so schnell ihn die müden Beine trugen.
Drinnen angelangt, empfing ihn wohltuende Wärme wie eine Umarmung. Sie legte eine bleierne Müdigkeit über seinen Geist, die er vehement abschüttelte. Er durfte sich jetzt keine Pause leisten, denn er musste sich davon überzeugen, dass sie noch lebte. Er brauchte die Gewissheit, dass er nicht Schuld an ihrem Tod war.
Nur vage wusste er, wo ihr Gemach lag. Seine Füße trugen ihn fast wie von selbst dorthin.
Als er ankam, herrschte in dem Zimmer ein reges Treiben. Dienerinnen heizten den Kamin ein, kochten Wasser ab, während andere Unmengen an Decken hereinbrachten. Naya indes lag auf ihrem Bett. Zur einen Seite König Bijan, aschfahl im Gesicht und neben ihm Bjarkar, dessen Züge aus Stein gemeißelt waren.
Auf der anderen weilte ein älterer Mann, der in diesem Moment ein Ohr auf Nayas entblößte Brust legte.
Valdis stockte der Atem. Sein Herz setzte aus, weswegen er wie angewurzelt stehen blieb.
~~~
Bjarkar
Eine Bewegung im Augenwinkel erweckte seine Aufmerksamkeit. Er sah zu dem Ashakischen Baron, der abrupt stehen blieb.
Bjarkar erkannte pures Entsetzten in dessen Augen, was er gut verstand. Auch ihm war das Herz nach unten gerutscht, als er Nayas kalten Körper in die Arme genommen hatte. Er hoffte inständig, dass der Medikus sie rettete. Dass es überhaupt noch Rettung gab.
Die Dienerinnen legten unzählige Decken über Nayas Leib, nachdem der Medikus sie eingehend untersucht hatte. Der indes packte seinen Utensilien zusammen, wandt sich an Bijan, der wie Bjarkar nicht einen Moment sein Augenmerk von Naya nahm.
„Eure Hoheit, wir können von nun an nur hoffen. Sie ist stark unterkühlt. Ich habe meine Bedenken, dass sie die nächsten Tage überlebt. Ihr Herz schlägt zu unregelmäßig, ihre Atmung ist viel zu flach. Zudem sehen ihre Finger und Zehen unschön aus.“
Bjarkar beobachtete, wie sein Vater die Schultern hängenließ. Er trat an ihn heran und flüsterte: „Wir geben sie nicht auf. Ich werde Tag und Nacht bei ihr bleiben, dass Feuer schüren und zusehen, dass sie es warm hat.“
Lediglich zu einem kaum merklichen Nicken war sein Vater imstande, bevor er mit einem letzten Blick auf Naya den Raum verließ. Beim Rausgehen legte er dem Ashaker die Hand auf die Schulter, um ihn mit hinauszugeleiten, was dieser widerstandslos zuließ.
Bjarkar hingegen trat zu dem Bett, schmiegte eine Hand an ihre kühle Stirn und wisperte: „Bitte komm wieder zurück.“ Daraufhin kroch er zu ihr unter die Decken, drückte sich dicht an sie, um ihren Leib mit seinem zu wärmen.
Regelmäßig stand er auf. Legte neues Holz in den Kamin, schürte das Feuer, bis die Flamen hochschlugen. Er tat alles, damit sie nicht weiter auskühlte, doch ihr Zustand blieb unverändert.
Auch nach vier Tagen zeigte sich keine Besserung, während der Medikus der Ansicht war, dass sie nicht mehr auf der Schwelle des Todes weilte, was ein kleiner Trost war.
Valdis sah er nur zeitweise. Von seinem Vater erfuhr er, dass der Ashaker sich in Selbstschuld suhlte, weil er nicht eher bemerkt hatte, wie es um sie stand.
Bjarkar hingegen hegte Hoffnung, dass sich ihre Verfassung bald schon besserte.
Wie so oft in den letzten Tagen, sah er in ihre erschlafften Züge, die langsam eine rosige Färbung annahmen. Ihre Lippen waren nicht mehr blau, hatten aber noch nicht diesen Rotton, den er von ihnen kannte.
Ihm rann seid einer geraumen Weile der Schweiß von der Stirn, weswegen er zu einem der Fenster trat, um eines davon zu öffnen. Eisige Luft strich über seine erhitzte Haut, ließ ihn frösteln, aber es war eine Wohltat.
„Fenrir“, drang es wispernd an seine Ohren. Er drehte sich rasch zu ihr um, doch sie lag unverändert unter den unzähligen Decken.
Fenrir. Das ist doch der Kerl, für den Naya was empfindet.
Grüblerisch trat er zurück an das Bett, setzte sich auf die Kante und strich ihr sachte über die Haare.
Ein Rascheln hinter ihm, ließ ihn herumfahren. Ein Rabe saß plötzlich auf der Fensterbank und äugte zu ihnen. Unter dem Blick dieses Vogels fühlte sich Bjarkar zunehmend unwohler, dennoch sah er zurück zu Naya.
„Du wirst es schaffen“, murmelte er.
„Was ist passiert?“ Beim Klang der tiefen, vor Sorge zitternden Stimme zuckte Bjarkar erschrocken zusammen. Er drehte sich ruckartig um, um sich unverhofft einem Kerl gegenüber zu sehen.
„Wer bist du?“, konterte er mit einer Gegenfrage, woraufhin der Hüne stehen blieb.
„Wer ich bin, ist erst mal unwichtig. Was ist mit Naya passiert?“
Bjarkar zögerte. Er ließ den Kerl keinen Moment aus den Augen, während er erwiderte: „Auf dem Weg zu uns wäre sie fast dem Kältetod erlegen. Valdis brachte sie völlig unterkühlt hierher. Einen Tag später und Naya ... “, er sprach es nicht aus, doch der Hüne verstand, was er meinte.
Bedächtig umrundete der Mann das Bett, sank daneben auf die Knie, um Naya sanft mit der Hand über die Wange zu streichen.
„Fenrir“, hauchte sie dieser Berührung.
~~~
Fenrir
Sie so zu sehen, schnürte ihm die Kehle zu.
Wieso nur war er nicht in ihrer Nähe geblieben, sondern hatte unnütze Botengänge für seinen Mentor erledigt. Er hätte sie niemals mit dem Ashaker allein lassen dürfen. Doch dieser Erkenntnis kam nun zu spät.
„Ihr seid Fenrir, hab ich recht?“
Er sah zu dem Mann, der ihn seinerseits stirnrunzelnd musterte.
„Wie kommt Ihr zu dieser Vermutung?“, grummelte Fenrir, denn er war sich sicher, dass der Kerl Nayas Geflüster nicht gehört hatte, weswegen er sein Augenmerk wieder auf Naya richtete. Er sah in ihre erschlaffte, fahle Züge, während sein Finger sanft die Kontur ihrer herausstehenden Wangenknochen entlangfuhr.
„Ihr seid das zweite Wolfskind. Naya hat mir im Vertrauen von Euch erzählt.“
Aus dem Augenwinkel belauerte er den Kerl, bevor er knurrte: „Wie soll ich das verstehen?“
„He, ganz ruhig. Naya und ich sind sehr gute Freunde. Sie vertraute sich mir an wie eine kleinere Schwester. Daher weiß ich auch, dass sie für Euch Gefühle hegt und ...“
„Fenrir.“ Kaum hörbar wisperte Naya erneut seinen Namen, auf das hin er, ungeachtet des Mannes neben sich, seine Stirn an ihre lehnte.
„Ich bin hier“, murmelte er ihre Mundwinkel küssend.
Die Matratze bewegte sich, aber nicht von ihr, sondern von dem anderen, der aufgestanden war.
„Ich weiß das Naya bei dir in guten Händen ist. Ich werde derweil mal nach Valdis sehen, denn er macht sich wegen ihr große Vorwürfe.“
Fenrir schnaubte wütend: „Zurecht. Er war auch derjenige, der ihr half, von der Insel zu fliehen, nachdem sie sich mit ihrem Vater gestritten hat.“
„Wie? Sie hat sich mit ihrem Vater gestritten. Wieso?“
Fenrir sah zu Nayas Freund, der ihn überrascht anstarrte.
„Weil der Großkönig seine Tochter verheiraten will. Wenn nicht an Valdis, dann an einen Israter.“
Grüblerisch richtete der Kerl den Blick auf Naya, während sich ein Schatten über seine Züge legte.
„Ich glaube, ich habe ein ernstes Wörtchen mit Valdis zu reden. Passt bitte so lange auf Naya auf.“
Fenrir nickte, gleich darauf war er mit ihr allein.
Seine Finger strichen sachte über ihre lauwarme Wange, ehe er sich kurzerhand neben sie unter die Decken kuschelte. Er erschrak, als er fühlte, wie kühl sie trotz der Wärme in dem Zimmer war, weswegen er sich wandelte. Fenrir schmiegte seinen massigen Wolfskörper an ihren, bevor er die Schnauze gegen ihren Hals lehnte.
Lange lag er so bei ihr, wärmte sie, hoffte, dass wieder mehr Leben in sie zurückkam, als er bemerkte, wie sie sich bewegte. Sie drehte sich zu ihm, grub ihre Hände in sein Fell und drückte ihr Gesicht an ihn.
Naya?
Er erhielt keine Antwort, was er auch nicht erwartet hatte. Aber rein die Tatsache, dass ihr Lebenswille nicht erloschen war, baute ihn auf. Gab ihm Hoffnung. Doch es minderte nicht das Durcheinander in seinem Kopf.
Die Gefühle, die er für sie empfand. Aber auch die Gewissheit, dass noch alles offen war, wie sich die Prophezeiung entwickelte.
Wie nur konnte er laut der Schrift ihr Feind, zugleich aber auch ihr Gefährte sein. Was bezweckte die Prophezeiung damit? Sollten die Zeilen ihn nur in die Irre führen? War es vielleicht wirklich so, dass sie nie an seiner Seite sein durfte? Aber sie liebte ihn und er ... Bitte komm zu mir zurück, Naya. Ich liebe dich.
Sachte leckte er über ihre Wange. Einen Wimpernschlag später lag die schwarze Wölfin neben ihm. Ihr Anblick schnürte ihm die Kehle zu. Der sonst so athletische Leib war viel zu dünn. Man sah jede einzelne Rippe. Die Hüftknochen stachen deutlich hervor. Das Fell struppig, an manchen Stellen völlig verfilzt, woraufhin er mit Hingabe anfing es ihr glatt zu lecken.
~~~
Naya
Sie spürte eine Zunge, die über ihr Fell leckte. Nahm wahr, wie dadurch mehr Wärme ihren Leib durchströmte. Nur langsam, leicht verschwommen erinnerte sie sich daran, was geschehen war.
Dass sie einen unschönen Abgang in den Schnee gemacht hatte, aber von da ab ... nichts mehr. Unter sich bemerkte sie eine Matratze, neben sich einen wohltuend wärmenden Körper.
Fenrir?
Das Lecken hielt inne, gleich darauf grub sich eine Schnauze in ihrem Halsfell.
Ja, ich bin hier. Du bist in Sicherheit.
Mühsam öffnete sie ihre Lider, sah in das Antlitz des imposanten Wolfes. Angst, Sorge aber auch Erleichterung war in seinen himmelblauen Augen zu sehen.
Wo bin ich? Was ist passiert? Valdis! Fiel es ihr siedeheiß ein. Sie sprang auf, doch ihre Beine versagten ihr den Dienst, weswegen sie wimmernd zurück auf das Bett sank.
Er ist auch hier, grummelte Fenrir. Sofort erkannte sie, dass er nicht davon begeistert war, dass sie nach dem Ashaker suchte.
Er hat dich, an der Schwelle zum Kältetod hierher nach Salla gebracht. Es war unheimlich schwer, deine Fährte wiederzufinden, um dich dann so vorzufinden. Ein Kerl war bei dir. Er nannte dich kleine Schwester.
Bjarkar. Wir sind zwar keine leiblichen Geschwister, aber wir empfinden so füreinander. Das heißt, ich bin in Salla?
Fenrir nickte, bevor er fortfuhr ihr struppiges Fell zu glätten.
Ich hätte dich nicht aus den Augen lassen sollen. Valdis hätte ...
Fenrir. Hör auf, dir Vorwürfe zu machen. Ich habe die Entscheidung zu flüchten selbst beschlossen. Valdis ging nur mit, weil er sich als ein Teil der alten Schrift sieht und neben mir die Aufgabe erledigen will.
Das mürrische Knurren von Fenrir vibrierte in ihren Muskeln wieder.
Er ist nur mitgegangen in der Hoffnung, dass du dich umentscheidest. Du dich doch der Prophezeiung ergibst und ihn heiratest, nur um nicht verheiratet zu werden.
Sie sah Fenrir tadelnd an, legte geschwächt den Kopf auf das Bett und murmelte: Bist du dir so unsicher, was meine Gefühle für dich angehen? Traust du mir wirklich zu, ich lass mich verheiraten?
Naya, ich ... die Prophezeiung ist so verworren. Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll. Wem ich glauben soll. Ich traue nicht einmal mehr mir selbst. Das Einzige was ich mit Sicherheit sagen kann, ist, dass ich noch nie für jemanden so empfunden habe, wie für dich.
Er vergrub seine Schnauze tief in ihrem Halsfell, bis sie die bleierne Müdigkeit übermannte.
Als sie erneut erwachte, war der Wolf neben ihr weg. Stattdessen saß Bjarkar auf der Bettkante. Er sah besorgt zu ihr herunter.
Sie erkannte, dass sie noch in Wolfsform war, woraufhin sie sich wandelte, wenn auch sehr mühsam und unter Schmerzen.
„Wo ist Fenrir?“, krächzte sie, auf das hin Bjarkar aufstand, um ihr einen Becher Wasser zu reichen.
„Als ich zurückkam, sah ich nur noch einen Raben aus dem Fenster fliegen. Wie geht es dir?“
Sachte setzte sie sich auf, nahm den Becher entgegen und hielt ihn mit beiden Händen fest, da ihre Finger heftig zitterten.
„Besser. Er hat mir geholfen wieder warm zu werden und ... wo ist Valdis?“
„Bei Vater. Sie lesen gemeinsam die Prophezeiung durch, in der Hoffnung irgendwelche Hinweise zu finden, was für eine Aufgabe euch noch bevorsteht.“
Naya starrte zu dem geschlossenen Fenster.
Warum ist er nur wieder so still und heimlich verschwunden. Was bezweckt er damit? So langsam regen sich in mir Zweifel an den Gefühlen für ihn.
„Könntest du mir die Schrift bringen? Ich möchte auch gerne ein paar Dinge nachlesen.“
Bjarkar nickte, strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht und sagte lächelnd: „Aber erst, wenn du wieder völlig genesen bist. Du siehst immer noch aus wie eine wandelnde Tote.“
„Danke für das Kompliment“, murrte sie, auf das hin sie beide lachten.
~~~
Sie beobachtete das Schneegestöber, das vor dem Fenster tanzte und zog sich die Decken fester um den Körper. Seit Fenrirs Verschwinden waren drei Tage vergangen. Naya hatte sich in ihre Grübeleien zurückgezogen.
Noch war sie zu schwach, um aufzustehen, weswegen Bjarkar sie umsorgte wie eine Glucke ihre Küken.
Auch hatte sich Valdis zwischendurch blicken lassen, verhielt sich ihr gegenüber aber sehr zurückhaltend. Dennoch hatte sie deutlich den Kummer in seinen Augen gesehen.
Schon eine Weile saß er heute neben ihr auf der Bettkante, während er, wie sie den tanzenden Flocken zusah.
Ein Klopfen an der Tür holte sie aus ihren Gedanken heraus, wobei es Valdis war, der: „Herein“, sagte.
Das Türblatt schwang auf und Naya erstarrte augenblicklich.
„Wie kann man nur so leichtsinnig sein“, schnarrte eine weibliche Stimme entrüstet durch den Raum, woraufhin auch Valdis sich zu dieser wendete und merklich zusammenzuckte.
„Großmutter“, wisperte Naya.
„Ich hatte wirklich gehofft, ihr wartet in La Mare, bis der Winter nachlässt, aber nein, stattdessen spielt ihr mit dem Leben.“
Valdis stand hastig auf, öffnete den Mund, um was zu erwidern, doch ihre Großmutter schnitt ihm mit einer harschen Handbewegung das Wort ab.
„Keinen Ton. Du hast ihr geholfen. Hast sie bestärkt in ihrem Tun, also bist du genauso dafür verantwortlich.“
Er blieb ruckartig stehen, schloss den Mund, während Naya stoisch ihrer Großmutter entgegensah, die kurz vor ihr am Bett verharrte.
„Dein Vater hat von deiner Flucht erfahren, nicht von mir. Woher er es weiß, habe ich nicht aus ihm herausbekommen. Aber was klar ist! Er ist nicht gerade erfreut über dein Verhalten, junge Dame.“
„Soll er doch. Kaum lernt er mich kennen, will er mein Leben bestimmen, wie das meiner kleinen Schwester. Aber ich will mich nicht verheiraten lassen. Ich will selbst in meinem Leben Entscheidungen treffen.“
Ihre Großmutter verschränkte die Arme vor der Brust, maß sie murrend mit einem nicht zu deutenden Blick.
„Ich bin nur die Vorhut. Nachdem der Sturm nachgelassen hatte, sah ich zu, dass ich dich finde, was nicht so einfach war. Ich war etwas überrascht, dass du zurück nach Salla gegangen bist. Was erhoffst du hier zu finden?“
„Antworten, wenn ich die Zeilen der Prophezeiung sehr genau lese. Es gibt zu viele Unstimmigkeiten, die keinen Sinn ergeben.“
Langsam entspannte sich die Haltung ihrer Großmutter, ehe sie neben ihr auf die Bettkante sank.
„Es ist normal, das Prophezeiungen verworren und geheimnisvoll geschrieben sind. Was ist dir denn unklar?“
„Einiges. Zu vieles, Großmutter. Schon allein, dass es ein zweites Wolfskind gibt. Was genau ist seine Rolle? Ist er wirklich unser Feind?“
Ein grüblerischer Ausdruck zeigte sich in den faltigen Zügen, bis ihre Großmutter Naya eine Hand auf den Unterarm legte. „Werde wieder ganz gesund, dann lesen wir gemeinsam die Prophezeiung durch.“
Naya holte tief Luft, nickte, woraufhin ihre Großmutter aufstand. Aber nicht, ohne Valdis kritisch anzuschauen.
„Und Ihr“, donnerte sie. „Kommt mit mir. Ich habe ein ernstes Wörtchen mit Euch zu bereden.“
Naya sah Valdis zu deutlich an, wie unwohl er sich fühlte, eine Rüge von der mächtigsten Frau des Reiches zu erhalten. Wie ein geprügelter Hund schritt er hinter ihr her, woraufhin Naya allein in ihrem Zimmer war.
Nur das Knistern des Feuers war zu hören, lullte sie ein, bis sie einschlief.
~~~
Ihre Großmutter behielt sie stets im Auge, weswegen es für Naya keine weitere Gelegenheit gab, sich still und heimlich davonzustehlen. Ein Grund, weswegen sie sich regelmäßig in Bijans Bibliothek verschanzte. Sie lass die Prophezeiung immer und immer wieder durch, so wie auch heute.
Bei Agin, es muss doch irgendeinen Hinweis geben.
Sie trat an eine Landkarte heran, beäugte akribisch die Westküste zum gefühlt Hundertsten mal.
„Zu einen noch die Inseln sind, die da liegen im westlichen Meer. Nun, Son und Sill liegen mehr südwestlich und das hier“, ihr Finger verharrte auf unzählig abgebildeten Inseln, wobei ihr Blick weiter nach oben glitt.
„Charo“, murmelte sie vor sich hin. „Wo habe ich diesen Namen schon einmal gehört?“
Über den Namen sinnierend trat sie wieder an den Tisch.
„Stimmt. Als wir in Ulso waren, hatten meine Großeltern diese Stadt erwähnt. Sie muss mein Ziel sein, was die Prophezeiung betrifft. Aber wo könnte ich nur Fenrir finden.“
Mit einem schweren Seufzer sank sie in den ihr am nächsten stehenden Sessel.
„Bist du ein bisschen weiter gekommen?“, drang eine tiefe Stimme an ihre Ohren. Sie brauchte nicht hinzusehen, um zu wissen, wer eingetreten war.
„Ich habe einen Hinweis gefunden, Bjarkar, aber was die andere Sache betrifft“, sie zuckte mit den Schultern.
Bjarkar kam zu ihr, sah auf die Schriftrolle, bevor er murmelte: „Das Schicksal hier den Weg beschreitet. Dieser Satz ist es, der dir so viel Kopfzerbrechen bereitet, habe ich recht?“
„Ja. Fenrir behauptet stets, ich bin das Schicksal. Dass es an mir liegt, wie sich die Prophezeiung erfüllt.“
Er sah auf, skeptisch die Stirn runzelnd.
„Das ist eine immense Bürde, die du da tragen sollst. Ist er sich dessen wirklich sicher?“
Naya stand auf, trat neben ihn und fing an, das Pergament zusammenzurollen.
„Er ja. Ich, nicht wirklich. Wenn ich nur wüsste, wo er immer wieder hin verschwindet.“
„Wer wohin verschwindet?“
Sie, wie auch Bjarkar erstarrten mitten in der Bewegung beim Klang der tiefen weiblichen Stimme. Naya kannte diese nicht und sah zur Tür, wo eine Frau in den besten Jahren weilte.
„Wer seid ihr?“, hinterfragte Naya, wobei sie weiter die Fremde eingehend musterte.
Sie hat ähnliche Züge wie Großmutter und fast die gleichen Augen wie Vater.
Ein verhaltenes Lächeln erschien um die Mundwinkel der Frau, bevor sie sagte: „Ich bin Alijana. Deine Tante.“
„Meine Tante?“
Im selbigen Moment, wie sie diese Frage stellte, erklangen eilige Schritte vom Gang her, gefolgt von einem erfreuten Ausruf: „Alijana. Mein Kind.“
Die benannte drehte sich um und fand sich sofort in einer herzlichen Umarmung von Tarija wieder.
„Wo warst du? Wir hatten schon Angst, dir wäre etwas zugestoßen.“
„Nein Mutter. Mir geht es gut. Nur die Suche nach diesem zweiten Wolfskind, sie entwickelte sich ziemlich schwierig. Ich will nicht sagen, fast unmöglich, wäre ich nicht über deine Familie gestolpert.“
Nun wurde Naya hellhörig.
Großmutters Familie? Davon hat sie mir nie erzählt.
„Du hast Toan getroffen?“
Ihre angebliche Tante nickte, ehe sie mit einem Kopfnicken auf Naya deutete.
„Die Kleine ist ganz schön groß geworden.“
„Und verdammt eigensinnig“, grummelte ihre Großmutter. Sie trat dabei an Naya heran, um ihr eine Hand auf die Schulter zu legen.
„Darf ich dir deine Tante Alijana vorstellen. Seit dem Mondzyklus, indem du geboren wurdest, ist sie auf der Suche nach dem zweiten Wolfskind, das irgendwann in der Zukunft gegen dich kämpft. Aber sprich Alijana, was hast du herausgefunden.“
Alijana deutete auf die Sessel, woraufhin sie alle platz nahmen.
„Ich reiste durch das ganze Land und wenn ich ganz sage, dann meine ich das auch so. Ich war sogar auf der Insel Navadus, doch nirgends fand ich einen Hinweis. Bis ich vor wenigen Mondzyklen nach Pralat kam. Von Mutter wusste ich, dass in einem Wald etwas von Bila entfernt ihre Familie lebte, weswegen ich mich entschied sie aufzusuchen. Ist gar nicht so einfach, wenn man kein Wolfskind ist und nicht die Gedankensprache beherrscht.“
„Wie hast du dich dann mit ihnen verständigt?“, wollte Naya neugierig wissen, was ein belustigtes Lächeln in Alijanas Mimik zauberte.
„Mutters Bruder ist sehr begabt darin mit den Krallen zu ... sagen wir zeichnen. Es war nicht einfach, seine Bilder zu entschlüsseln, doch sie waren der erste und beste Hinweis, den ich je erhalten habe.“ Sie sah jeden nacheinander an, beugte sich nach vorne, während sie ihre Ellbogen auf den Knien abstützte. „Er sagte mir auf diesem Weg, dass in einem Nachbarrudel ein Wolfspaar nur ein Kind bekommen hatten, was er als nicht normal empfand. Zudem weckte es in ihm die Erinnerungen an Tarija.“
Ihre Großmutter nickte bedächtig. „Ja, das stimmt. Ich hatte keine Geschwister. Toan ist mein Halbbruder. Ist das Kind denn noch bei dem Paar?“
„Nein. Das Paar erlitt das gleiche Schicksal wie du, nur dass die Eltern überlebten, aber das Wolfsjunge war weg. Gestohlen von einem Menschen direkt aus der Höhle heraus. Toan erzählte mir, dass sie dem Rudel geholfen hatten, dass Junge zurückzubekommen. Doch egal wie lange er und einer des anderen Rudel der Spur folgten, sie fanden nichts. An der Küste verlief sich die Fährte, sie fanden keinerlei Hinweis mehr auf das Wolfsjunge, woraufhin sie zurück zu den Rudeln gingen.“
Es wurde sehr still in dem Raum. Naya musste das Gehörte erst mal verdauen, denn es bedeutete, dass Fenrir von einem Menschen entführt worden war. Vielleicht sogar von seinem Mentor höchstpersönlich.
„An der Küste sagst du?“, hinterfragte ihre Großmutter misstrauisch.
„Ja. Ich gehe davon aus, dass der Entführer mit dem Schiff nach Charo weitergesegelt ist. Eine andere Möglichkeit eröffnet sich mir bei dieser Erzählung nicht.“
Grübelnd rieb sich ihre Tarija mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel, während sich darüber eine tiefe Falte bildete.
„Wir sollten alles mit Alkje und Alkijet besprechen, wobei es noch einige Tage dauern wird, bis sie hier ankommen. Aber nun haben wir die Gewissheit, dass die Einigung der zweiten Insel und das Erscheinen des zweiten Wolfskindes zusammenhängen. Jetzt müssen wir nur noch herausfinden, in was für einem Bezug das alles steht.“
Wieder legte sich ein unheimliches Schweigen über sie.
Naya rann ein eiskalter Schauer die Wirbelsäule herunter. Allein der Gedanke, dass Fenrir das zweite Wolfskind war und sie nun wusste, wo er sich aufhielt, war ein entscheidender Schritt in ihrem nächsten Vorhaben.