Читать книгу Von Blut & Magie - Melanie Lane - Страница 7
ОглавлениеKAPITEL 2
Diesmal wachte ich nicht langsam oder sanft auf. Ruckartig schoss ich nach oben in eine sitzende Position und erinnerte mich glasklar daran, was passiert war, bevor ich ohnmächtig geworden war. An das, was ich gesehen und gespürt hatte. Willkommen zu Hause, Schwester. Oh mein Gott. Aufgewühlt sah ich mich um und entdeckte Nick, der in einem Sessel mir gegenüber saß und mich beobachtete. Unter seinem eindringlichen Blick zuckte ich leicht zusammen. Noch nicht bereit mich dem zu stellen, was passiert war, verschaffte ich mir ein wenig Zeit und sah mich weiter um. Wir befanden uns in einer Bibliothek, und mein Herz begann schneller zu schlagen, als ich die deckenhohen Regale voller antik aussehender Bücher erblickte. Ich selbst lag auf einem riesigen Sofa, das direkt vor einem prasselnden Kamin stand. Der Raum war atemberaubend. So schön, dass es mir kurz die Sprache verschlug.
»Wunderschön, nicht wahr?«
Nervös nickte ich. »Ja, ich … ich liebe Bücher.«
»Ich weiß«, antwortete Nick und ich hörte das Lächeln in seiner Stimme.
Natürlich wusste er das. Immerhin arbeitete ich in einem Buchcafé und er hatte mich offensichtlich lange genug beobachtet, um zu wissen, wie viel mir nicht nur der Job, sondern auch Bücher an sich bedeuteten. Ich liebte die Geschichten, die sie beinhalteten, und die gedankliche Flucht, die sie mir ermöglichten.
»Ich dachte, dass du dich hier vielleicht am wohlsten fühlst, wenn du aufwachst.«
Das war … nett. Ein wirklich aufmerksamer Gedanke.
»Kannst du mich ansehen? Bitte?«, fügte er hinzu, als ich unbewusst den Kopf schüttelte.
Ich war mir nicht sicher, ob ich das wollte. Irgendwie würde es die Situation zu echt machen. Und dann musste ich mich damit auseinandersetzen, dass dies hier wirklich alles geschah. So wie ich in Erwägung ziehen musste, dass das, was sie mir erzählt hatten, der Wahrheit entsprach. Was den Mann mir gegenüber zu meinem Halbbruder machen würde.
»Bruder«, unterbrach er meine Gedanken. »Das Halb kannst du weglassen. Das unsterbliche Gen ist immer das dominante.«
»Das unsterbliche Gen«, flüsterte ich fassungslos.
»Ich weiß, es ist eine Menge zu verarbeiten, Lilly. Aber dafür bin ich hier. Um deine Fragen zu beantworten.«
»Kannst du Gedanken lesen?«
Nick lachte und seine Reaktion sorgte dafür, dass meine verspannten Schultern sich ein wenig lockerten.
»Nein, aber deine Gedanken stehen dir regelrecht ins Gesicht geschrieben. Als dein Bruder kann ich gewisse … Schwingungen auffangen«, gab er zu und langsam hob ich den Blick. Grasgrüne Augen bohrten sich in meine. Augen, die die gleiche eher ungewöhnliche Form wie meine hatten. Wieso war mir das vorher nicht aufgefallen? Immerhin hatte ich ihn fast zwei Wochen lang jeden Tag gesehen.
»Die Menschen sehen nur das, was sie sehen wollen«, beantwortete er meine stumme Frage.
»Ich kann gewisse Schwingungen auffangen, da wir ab sofort durch unser Blut und unsere Magie verbunden sind. Je länger wir uns kennen und je mehr Zeit wir miteinander verbringen, desto eindeutiger werden wir unsere Gefühle deuten können.« Er grinste mich jungenhaft an. »So ist das bei Engeln.«
Engel. Engel.
Ungläubig ließ ich meinen Kopf in beide Hände fallen und gönnte mir ein paar tiefe Atemzüge. Dann sah ich erneut auf.
»Engel«, wiederholte Nick, als hätte ich ihn beim ersten Mal nicht richtig verstanden.
»Du willst mir weismachen, dass wir Engel sind?«
»Ich will es dir nicht weismachen, Lilly, es ist eine Tatsache. Du hast es mit eigenen Augen gesehen. Das Erwachen deiner Magie.«
Das war es, was ich gesehen und gespürt hatte? Dieses gleichzeitig faszinierende und angsteinflößende Gefühl in meinen Adern sollte Magie gewesen sein? Nicht bereit seinen Worten einfach so mir nichts dir nichts zu glauben, musterte ich Nick skeptisch.
»Wieso habe ich es in den letzten sechsundzwanzig Jahren nie gespürt?«
Offensichtlich zufrieden mit meiner Frage nickte er.
»Du brauchtest einen Trigger. Jemanden, der die unsterbliche Seite in dir hervorholt.«
Nick setzte sich auf und stützte seine Unterarme lässig auf den Oberschenkeln ab. Seine entspannte Haltung übertrug sich auch auf mich und ich erlaubte mir, es mir auf dem großen Sofa ein wenig gemütlicher zu machen. Ich hatte Antworten gewollt und jetzt würde ich sie bekommen. Auch, wenn dieses Gespräch bis jetzt etwas anders verlief, als erwartet, hatte ich nach wie vor nicht das Gefühl, mich in unmittelbarer Gefahr zu befinden.
»Ich bin in der Anderswelt aufgewachsen. In Arcadia, um genau zu sein, der Hauptstadt von Alliandoan. Umgeben von Magie, werden wir frühzeitig darauf trainiert, sie zu kontrollieren und zu nutzen. Dir hat das niemand beibringen können«, fügte er leise hinzu, »bis vor ein paar Jahren wussten wir nicht einmal von deiner Existenz. Ohne die Aktivierung deiner Magie stellte die Suche nach dir eine, sagen wir mal, Herausforderung dar.«
Das erklärte, warum mein angeblicher Bruder erst vor zwei Wochen aus dem Nichts aufgetaucht war.
»Wie alt bist du?«
Nick schenkte mir ein schelmisches Grinsen. »Knappe fünfzig.« Das konnte nicht sein. Er sah nicht älter aus als ich. »Das ist unmöglich«, beharrte ich.
»Nicht in unserer Welt.«
»Wie?«
»Wir werden unsterblich geboren«, erklärte er mir, »aber unsere wahre Unsterblichkeit, den Punkt, an dem wir wirklich und wahrhaftig resistent gegenüber Krankheiten werden, unser Alterungsprozess weitestgehend stoppt und wir verdammt schwer zu töten sind, ist jener, wenn wir am stärksten sind und unsere Magie vollkommen kontrollieren können.«
»Wie alt warst du?«, fragte ich ihn, gegen meinen Willen fasziniert von seinen Worten.
»Einunddreißig.«
»Dann bist du fünf Jahre älter als ich, also ich meine … eigentlich ja über fünfundzwanzig Jahre, aber …«
Lachend unterbrach er mich. »Ich weiß, was du meinst.«
Ich hatte einen großen Bruder. Wow. So irre das alles hier auch klang … wow. Ein zaghaftes Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus und fast gequält sah Nick mich an.
»Ich werde eine harte Zeit damit haben, deine Ehre zu verteidigen, Schwesterherz.«
Ich brauchte niemanden, der meine Ehre verteidigte. Was ich brauchte, waren Antworten und kein Möchtegern Macho-Gehabe.
»Wenn du der Ältere von uns bist, wieso bin ich dann angeblich die Thronerbin?«
Allein es auszusprechen, fühlte sich an, als wäre ich in einem Traum gefangen. Nick seufzte und fuhr sich mit einer Hand durch die bereits zerzausten Haare.
»Das ist kompliziert. Und eine etwas längere Geschichte.« Entschlossen stand er auf. »Wie wäre es, wenn wir in der Küche weiterreden, wo wir etwas essen und trinken können?«
Ich hatte keinen Hunger, aber ich wollte, dass Nick weitersprach, also erhob ich mich ebenfalls. Einen Kaffee könnte ich sicherlich vertragen. Oder einen Schnaps.
Auf noch immer leicht zittrigen Beinen folgte ich Nick, als er die Bibliothek verließ und schnellen Schrittes die große Eingangshalle durchquerte. Vor der gewaltigen Eingangstür bog er rechts ab und stieß eine weitere unscheinbare Tür mit der Schulter auf.
»Willkommen in meinem Lieblingsraum.«
Einladend breitete er die Arme aus und aufmerksam betrat ich die großzügige Küche. Ein großer Tresen trennte den Kochbereich von einem massiven Echtholztisch. Um den Tisch herum standen mindesten zehn Stühle und hinter der Fensterfront konnte ich einen mittlerweile dunklen Wald erkennen.
»Alles sieht so … normal aus«, gab ich zu, als ich die einladenden Holztöne und modernen Accessoires der Küche bewunderte. Jemand hatte sich bei der Einrichtung dieses Anwesens viel Mühe gegeben.
»Weil wir nicht in Arcadia sind«, erklärte Nick mir und holte zwei Weingläser aus einem der Hängeschränke. Ich setzte mich auf einen der Barhocker am Tresen und beobachtete ihn.
»Rot?«
Nickend sah ich ihm dabei zu, wie er eine teuer wirkende Flasche Wein vom Tresen nahm und sie öffnete. »Wir sind noch immer in der Welt der Menschen. Etwa zwei Stunden von deiner Wohnung entfernt.«
»Ich verstehe nicht …«
»Als unser Vater von deiner Existenz erfuhr, hat er dieses Anwesen gekauft und umbauen lassen. Er wollte einen Wohnsitz außerhalb Alliandoans, damit er besser nach dir suchen kann.«
Ich hatte einen Vater? Wie albern … Natürlich hatte ich einen Vater, aber Annabelle hatte nie über ihn gesprochen und ich … ich hatte stets angenommen, er wäre längst tot.
»Das ist er.«
Nicks heisere Stimme riss mich aus meinen Gedanken und erschrocken sah ich auf. Über sein mittlerweile volles Weinglas hinweg sah er mich an. Diverse Emotionen zeichneten sich auf seinem Gesicht ab. Allen voran Schmerz.
»Unser Vater ist tot, Lilly.«
»Wie lange schon?«
»Seit etwa fünf Jahren.«
»Ich …« Tja, was sollte ich sagen? Natürlich war ich traurig. Ich hätte ihn gern kennengelernt, aber ich hatte Jahre gehabt, um mich an den Gedanken zu gewöhnen. Den Schmerz, den Nick allerdings verspürte, kannte ich nur zu gut. Mitfühlend legte ich meine Hand auf seine und wir beide sahen auf, als es regelrecht zwischen uns funkte. Daran würde ich mich wohl noch gewöhnen müssen, dachte ich und ergriff das Glas, das Nick mir hinhielt.
»Ich kenne das Gefühl von Trauer und Schmerz«, sagte ich daher nur und trank einen Schluck Wein, um meine aufgedrehten Nerven zu beruhigen.
»Deine Mutter, nicht wahr?«
»Annabelle, ja. Sie starb vor zwei Jahren. Ein betrunkener Autofahrer hat sie auf dem Rückweg vom Flughafen erwischt.« Was er sicherlich schon wusste, dennoch tat es gut, die Tatsache auszusprechen. Es gehörte zum Heilungsprozess, die Wunde ab und an wieder aufzureißen, damit sie gleichmäßiger zusammenwachsen konnte.
»Ich nehme nicht an, dass sie wusste, wer dein … wer unser Vater wirklich war«, gab ich zu bedenken.
Nick schüttelte den Kopf und lehnte sich lässig an den Tresen.
»Nein. Vor ein paar Jahren erzählte er mir von ihr, als klar wurde, dass ich nicht der Thronerbe war, den er gerne in mir sehen wollte.«
»Hm.« Ich gab ein unbestimmtes Geräusch von mir. Das klang nicht gut. Es klang eher nach einer Menge unverarbeitetem Ballast. Aber wer war ich zu urteilen?
»Er erzählte mir von einer wunderschönen Frau, einer Sterblichen, die ihn in der Welt der Menschen verzaubert hatte mit ihrer charismatischen, starken Art.«
Oh ja, das klang nach meiner Mutter.
»Ich glaube, er hätte sich gewünscht, dass sie unsterblich gewesen wäre.«
»Und deine Mutter?« Ein Schatten legte sich über Nicks Gesicht.
»Sie starb bei meiner Geburt.« Ah, verdammt.
»Das tut mir sehr leid, Nick.« Das machte uns zu Waisen, dachte ich. Unsterblichkeit hin oder her, sowohl seine als auch meine Eltern waren tot. Aber ich hatte einen Bruder, so fantastisch das auch klang.
»Hast du … ich meine, haben wir noch mehr lebende Verwandte?« Nick schüttelte den Kopf.
»Nein. Es gibt nur noch dich und mich.«
Gedankenverloren ließ er sein Weinglas kreisen und beobachtete die dunkelrote Flüssigkeit darin. »Wir hatten eine Tante, vor weit über zweihundert Jahren …«
Zweihundert Jahre? Ich würde nicht ausflippen!
»… aber ich habe sie nie kennengelernt und der Rest unserer Familie starb noch vor ihr.«
Welch deprimierender Gedanke. Von einer anscheinend mächtigen, unsterblichen Familie waren nur noch er und ich übrig.
»Wie sind sie gestorben?«, fragte ich neugierig. »Ich meine mit der Unsterblichkeit und so …«
Nick seufzte leise und hörte auf, mit seinem Weinglas zu spielen.
»Die meisten von ihnen wurden Opfer von Anschlägen. Den Namen Callahan zu tragen, macht uns automatisch zur Zielscheibe. In den Augen der falschen Leute«, fügte er rasch hinzu.
Als hätte ich verstanden, was er mir da soeben erzählt hatte, nickte ich und lehnte mich auf meinem Hocker zurück.
»Erklär mir das mit den Engeln«, bat ich leise.
Ich begann zu akzeptieren, dass der Mann vor mir mein Bruder war. Es klang verrückt ja, aber ich fühlte es in der tiefe meines Herzens. Was auch immer diese kleinen Flammen ausgelöst hatten, sie hatten Nick und mich miteinander verbunden. Und dieses Gefühl konnte ich nicht einfach ignorieren.
»Unsere Welt, unser Universum, wenn du so willst, heißt in der modernen Sprache der Menschen grob übersetzt sowas wie ›Anderswelt‹«, begann er. »Der Name wurde zunächst von den jüngeren Unsterblichen benutzt und hat sich in den letzten Jahrzehnten etabliert.« Er zuckte lässig mit den Schultern. »Ist auch einfacher, bei all den verschiedenen Sprachen und Dialekten. Innerhalb dieses Universums existieren verschiedene Welten, erreichbar und verbunden durch magische Portale. Unsere Heimat heißt Alliandoan, die Welt der Engel.«
Okay, wow … das war … wow. Das waren zu viele Informationen auf einmal, also konzentrierte ich mich zunächst auf ein Thema. »Wie könnt ihr euch dann verständigen, bei all den Sprachen?«
Nick zuckte lässig mit den Schultern. »Magie«, erwiderte er schlicht. »Die meisten der älteren Unsterblichen haben die verschiedenen Sprachen erlernt, aber die jüngeren Unsterblichen benutzen Runensteine zum Übersetzen. Entweder trägt man sie bei sich oder man bekommt sie wie ich, hm …«, er überlegte kurz, »implantiert wäre wohl das treffendste Wort.«
»Dir hat jemand einen Stein unter die Haut gesetzt?«
»Einen Zauber, keinen Stein.« Ah, ja. Okay.
»Aber auch das kann ich dir zu gegebener Zeit näher erklären. Arcadia«, fuhr er fort, »ist die Hauptstadt von Alliandoan. Dort wohnen wir. Oder zumindest steht dort unser Palast.«
»Unser Palast?« Mein Kopf rauchte schon jetzt, dabei vermutete ich, dass Nick noch nicht mal richtig angefangen hatte.
»Der Callahan Palast«, bestätigte er und trank einen Schluck Wein.
»Jede Welt hat eine Hauptstadt und einen Regenten, ähnlich zu dieser Welt nehme ich an. Die einzelnen Welten werden seit jeher aristokratisch geführt. In unserem Universum sind Prinzessinnen und Prinzen oder gar Königinnen oder Könige nichts Ungewöhnliches, Lilly. Aber damals … da waren die Monarchien eher repräsentativ. Sie waren beschränkt. Es gab Gerichte, Verfassungen, Gesetze … vieles davon existiert so heute nicht mehr. Nach dem, was wir in unserer Welt als den Clash bezeichnen, haben sich die Regeln geändert. Und unser Vater hat sich als alleiniger Herrscher der Anderswelt etabliert. Die Engel sind, hm, die regierende Spezies, wenn du so willst. Wir genießen das höchste Ansehen und wir haben das letzte Wort.«
Irgendwann also, vor langer Zeit, waren diese fremden Welten demokratisch gewesen und unser Vater hatte eine absolute Monarchie daraus gemacht? Ich wusste nicht, wie ich das finden sollte.
»Erklär mir das genauer«, bat ich Nick daher. »Der Clash«, fuhr er fort, »war ein Kampf der Welten. Die Unseelie, aus ihrer eigenen Welt verstoßene, bösartige Feenwesen kämpften gegen uns und ein paar der anderen Welten. Sie hatten ihre Angriffe Jahrzehnte vorbereitet und sich Hilfe aus Abbadon geholt, um uns alle gleichzeitig angreifen zu können. Der Kampf selbst dauerte Jahrzehnte und löschte große Teile der Anderswelt aus. Die Engel, unser Vater, um genau zu sein, beendeten das Abschlachten, bevor die letzten unangetasteten Welten auch noch fallen konnten.«
»Genießen die Engel daher so ein hohes Ansehen?«
Eine kleine Ader an Nicks linkem Auge zuckte bei dem Wort Ansehen verdächtig. »Wir werden respektiert, ja.«
Respektiert zu werden, war bei Weitem nicht dasselbe, wie gemocht zu werden.
»Wie viele Welten gibt es?«
»Früher?« Nick seufzte. »Wahrscheinlich unendlich viele, bedenkt man noch unbekannte oder in Ruhe gelassene Parallelwelten. In den Überlieferungen ist von mindestens dreißig bekannten Welten die Rede, aber die Zahlen schwanken. Heutzutage gibt es sieben, deren Grenzen und Portale in Takt sind und deren Völker in Frieden leben.«
Sieben nur noch. Beunruhigt schaute ich zu ihm auf. »Alle anderen Welten sind … tot? Und die Menschen, ich meine Wesen …?« Nick lächelte mich an. »Wir selbst bezeichnen uns als Unsterbliche. Einige der Unsterblichen aus den verlorenen Welten suchten Zuflucht in anderen Welten.«
»Und sie wurden aufgenommen?«
»Mehr oder weniger«, murmelte er leise und ich bekam das Gefühl, dass mehr an der Geschichte dran war, als er aktuell preisgeben wollte.
»Okay«, nickte ich, »das habe ich soweit verstanden. Erzähl mir mehr von den Welten.«
»Einer der Minister aus Arcadia könnte dir dabei sicherlich besser weiterhelfen, aber ich gebe mein Bestes.«
Er trat um den Tresen herum und setzte sich auf einen der Hocker neben mir. Mittlerweile war es dunkel geworden und die Küche wurde nur noch von ein paar wenigen Kerzen erhellt. Nick, der meinen Blick schon wieder richtig gedeutet hatte, wedelte nonchalant mit seiner freien Hand und entzündete damit die restlichen Kerzen auf dem Fenstersims.
»Whoa!«
Lachend stieß er mit seinem Glas gegen meins. »Das wirst du auch noch lernen. Vorausgesetzt du bleibst.«
Hatte ich denn eine Wahl? Fast hätte ich die Worte laut ausgesprochen, aber es war zu früh, um mir ein Bild von alledem machen oder gar Entscheidungen treffen zu können.
»Erzähl weiter«, bat ich Nick daher nur.
Für einen Moment schwieg er. Ein Ausdruck von Enttäuschung huschte über sein Gesicht. Dann jedoch schien er sich zu fangen und mit einem leisen Räuspern sprach er weiter. »Die anderen Welten, mal überlegen.« Er hob eine Hand und begann mit seiner Aufzählung. »Vesteria ist unser stärkster Verbündeter. Die Welt der Formwandler«, erklärte er mir und meine Augen wurden kugelrund.
»Werwölfe?«
»Nicht ganz. Ein Formwandler ist zu wesentlich mehr in der Lage, als sich in einen übergroßen Wolf zu verwandeln. Drake Careus ist ihr Herrscher. Nach deiner Initiation in Arcadia wird dies unser erster Stopp sein. Drake ist ein Charmeur, Lilly. Er wird dir mit Sicherheit alles über die Magie seines Volkes erzählen. Dann gibt es noch Dhanikans, die Welt der Zauberer und Hexen. Ein Land voll unglaublicher Magie und beeindruckender Berglandschaften. Die Zauberer betreiben Handel mit den restlichen Welten und verkaufen ihre Magie, hauptsächlich durch Runensteine. Besonders hilfreich bei Portalreisen«, fügte er zwinkernd hinzu.
Bevor ich auch nur ein Wort richtig verarbeiten konnte, erzählte Nick weiter.
»Fenodeere liegt dicht an Vesteria. Nur wenige Welten sind heutzutage noch so einfach zu erreichen oder haben durch Portale verbundene, direkte Grenzübergänge. Fenodeere ist einer unserer wichtigsten Handelspartner. Die Zwerge und Kobolde des Bergvolkes sind die besten Waffenschmiede, die man sich vorstellen kann. Ihre Körperkraft ist enorm. Magie besitzen sie jedoch meist keine. Fenodeere arbeitet daher oft mit den Zauberern Dhanikans‘ zusammen. Crinaee ist die Welt der Wasserwesen. Najaden, Nymphen und Sirenen«, erklärte Nick und grinste mich feixend an.
»Besonders beliebt bei den … hm … ledigen Unsterblichen.«
Zu sagen mir schwirrte der Kopf, war die Untertreibung des Jahrhunderts. Zauberer? Zwerge und Najaden? Was kam als nächstes, Vampire und Zombies?
»Dann gibt es noch Thaumas, die Welt der Harpyien. Ganze Städte existieren dort oben in den Wolken. Du wirst es lieben! Ich habe früher ein paar Sommer in Thaumas verbracht und gelernt, die Sturmwinde zu reiten.«
»Sturmwinde?«
»So nennen die Krieger ihre geflügelten Biester. Thaumas ist eine Welt des Krieges, Lilly. Die Krieger sind hauptsächlich weibliche Harpyien, da sie die Gabe besitzen, sich mit ihrem Sturmwind zu synchronisieren. Ihre Magie erkennt und ergänzt sich und macht sie so noch stärker. Und vor allem noch gefährlicher.«
»Womit betreibt Thaumas Handel«, fragte ich, »wenn die Welt fast nur aus Kriegern besteht?«
Nick seufzte. »Genau damit. Mit Krieg. Viele von ihnen verkaufen sich als Söldner oder Personenschützer.«
Das klang … brutal. Und unmenschlich. Aber genau das war es auch, dachte ich. Alles, was Nick mir erzählte, war unmenschlich, weil es zu einer ganz anderen Welt gehörte. Einer Welt voller Magie und unsterblicher Kriegerinnen und Krieger. Wo sollte ich in diese Gleichung passen? Eine einfache Kellnerin?
»Wer herrscht in Thaumas?«
»Odile und ihr Gefährte Aello«, antwortete er. »Aello ist Anführer der Bodentruppen und seine Gefährtin Odile ist die Herrscherin der Lüfte. Sie ist die Königin. Die Harpyien folgen ihr blind, ebenso die Sturmwinde. Ihr Biest ist der Alpha des Rudels.«
Das wiederum klang ziemlich interessant. Eine weibliche Herrscherin mit so viel Einfluss könnte in all dem Irrsinn vielleicht zu einer Verbündeten werden. Vorausgesetzt natürlich, ich blieb.
»Es fehlen zwei Welten.«
Nick griff nach seinem Glas und exte seinen Wein in einem Zug. Anscheinend war er es, der jetzt nervös wurde. Mein Kopf jedenfalls fühlte sich an, als würde er über den Wolken schweben. Das alles war völlig … fantastisch. Obwohl ich jeden Tag während der Arbeit und in meinem eigenen Zuhause von Fantasybüchern umgeben war, hätte ich mir solch eine Story in meinen kühnsten Träumen nicht ausdenken können. So furchteinflößend das alles aber auch klang, es war faszinierend. Formwandler, Zauberer und Frauen, die auf Sturmwinden durch die Wolken flogen?
»Zählt man Abbadon hinzu fehlen sogar drei, aber die Welt der Dämonen lassen wir für heute außen vor.«
»Dämonen«, hauchte ich. Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Es gab also wirklich Dämonen.
»Es gibt sie«, bestätigte er, »in vielen verschiedenen Formen. Und sie sind seit jeher unsere Feinde. Aber Abbadon ist ein sehr komplexes, eigenes Thema, Lilly.«
»Okay. Dann erzähl mir von den beiden fehlenden Welten«, bat ich ihn und speicherte meine Fragen über Abbadon und die Dämonen für später.
»Anak und Permata.« Die Stimme meines Bruders, Nicks Stimme, verbesserte ich mich schnell, klang düster. Ich brachte das Wort Bruder noch nicht einmal in Gedanken über die Lippen. Sein Tonfall hatte sich drastisch geändert und neugierig geworden, musterte ich ihn.
»Was ist mit diesen Welten? Warum wirst du auf einmal so abweisend?«
»Nicht alles in unserem Universum läuft perfekt oder überhaupt gut, Lilly. Das wirst du früh genug erfahren. Mit viel Macht kommt auch große Verantwortung und leider funktioniert das System nicht immer optimal. Unser Vater hatte es nach dem Clash nicht einfach. Unsere gesamte Welt lag in Schutt und Asche, nicht nur Alliandoan, und er hat versucht, wiederaufzubauen oder zu retten, was zu retten war. Dafür mussten Opfer gebracht werden.«
»Was genau versuchst du mir hier zu sagen, Nick?«
»Anak ist die Welt der Nephilim«, begann er.
»Halb Engel, halb Mensch?«
»Nicht ganz«, korrigierte er mich sanft. »Ein Nephilim ist ein halber Engel. Egal welche unsterblichen Gene sich mit denen eines Engels mischen, die Engels-Gene sind immer die dominanten.«
»Dann ist Anak eine Welt voller Engel?« Warum hatten sie dann überhaupt eine eigene Welt? Scheinbar blieben Unsterbliche gern unter sich. Aber sollten die Engel nicht in Alliandoan sein?
»Nach dem Clash wurden unsere Welten härter, zum Teil auch grausamer. Alle waren nur noch auf ihren eigenen Vorteil und ihr Überleben aus. So wurden die Schwächeren unter uns vergessen…
Und ausgegrenzt. Die Engel, also wir … erkennen die Nephilim nicht an. Ihr Blut ist nicht rein und ihre Magie nicht so mächtig wie unsere. Meist haben sie gar keine Magie. Daher ist ihnen der Zutritt nach Alliandoan untersagt. Außer sie kommen, um zu arbeiten.«
»Das ist nicht dein Ernst!«
Nick fuhr sich mit beiden Händen durch die blonden Haare, ehe er mich leicht gequält ansah.
»Ich fürchte ja.«
»Und das ist okay für dich?«, brauste ich auf und starrte ihn fassungslos an. Wenn ich in der Welt der Menschen eins gelernt hatte, dann, dass es nie gut ausging, wenn jemand über Rasse oder reines Blut sprach. Nie!
»Aber sie sind Engel!«
»Das sind sie eben nicht.« Nick sah mich seufzend an. »Hör mal, Lilly, ich weiß, das ist alles verdammt viel auf einmal. Unser System ist ganz anders als alles, was du kennst. Aber bevor du unsere Welten verurteilst, lerne sie erst einmal kennen, okay?«
Tief in Gedanken schwieg ich für einen Moment. »Dir ist bewusst, dass wenn alles, was du mir erzählt hast, wahr ist, ich eigentlich nach Anak gehöre, nicht wahr?«
»Niemals!« Nicks Augen verdunkelten sich gefährlich.
»Das ist heuchlerisch, Nick. Ich bin zur Hälfte Mensch, was mich zu einer Nephilim macht.«
»In der Theorie, ja«, erwiderte er zähneknirschend, »in der Praxis jedoch sprach ich von anderen unsterblichen Genen, die sich mit unseren Genen mischen. Wenn unsterbliche Gene sich vermischen dann harmonieren sie entweder miteinander oder sie kämpfen. Neue Spezies können entstehen. Im Falle der Engel ist dies … kompliziert. Deine andere Hälfte ist nicht unsterblich, sondern menschlich. Die Gene der Menschen sind sterblich und schwach. Sobald deine Magie komplett aktiviert ist, werden nur noch die dominanten Gene übrigbleiben und das macht dich unsterblich und zu einem Engel. Mit Magie.«
»Das heißt, meine menschliche Seite … stirbt?« Ein gleichzeitig gruseliger wie faszinierender Gedanke.
»Könnte man so sagen, ja.« Hm.
Anscheinend hatte er eine Weile über dieses Thema nachgedacht. So plausibel es jedoch auch klang, nach allem, was er mir gerade erzählt hatte, bezweifelte ich stark, dass alle in Alliandoan oder der Anderswelt dieser Logik folgen würden. Wenn die Engel wirklich so diskriminierend waren, dass sie ihre eigenen Leute nach einer weltverändernden Krise abgeschoben hatten, dann konnte ich mir nicht vorstellen, dass sie mich als Thronerbin akzeptieren würden.
»Und Permata?«
»Die Welt der Ghoule«, nahm er den Faden wieder auf. Offensichtlich erleichtert, dass wir das Engelsthema für den Moment hinter uns ließen. »Auch hier gibt es mit Sicherheit … Verbesserungsbedarf.«
»Werden sie auch geächtet?« Meine Stimme troff vor Sarkasmus und ich erkannte mich selbst kaum wieder. Natürlich klang das, was er mir erzählte, nicht gut, aber ich kannte diese Welten wie lange? Fünf Minuten. Wer war ich, mir da einbilden zu können, ich würde sie verstehen. »Entschuldige«, fügte ich daher kleinlaut hinzu.
»Ist schon gut. Es ist viel, ich weiß. Permata ist hauptsächlich eine Welt der Bauern und Sklaven, Lilly. Seit den Tagen des Clash arbeiten die Ghoule meist als Haushaltshilfen oder Erntehelfer in den anderen Welten. Aber auch davor hatten sie es nicht immer leicht. Seit jeher wird versucht, sie möglichst klein zu halten. Ihre Magie ist … eigen. Sie können Gefühle und Verbindungen spüren und sehen. Ein Ghoul hätte beispielsweise sofort gesehen, wer du bist. Nämlich meine Schwester.«
»Also sehen sie Liebe, Hass oder auch Intrigen …«
»Ganz genau«, bestätigte Nick. »Und das wiederum macht sie …«
»Gefährlich für jeden in einer Machtposition«, beendete ich seinen Satz seufzend.
Nick warf mir einen anerkennenden Blick zu.
»Ich lese viel«, gab ich zu und zuckte lässig mit den Schultern. Vielleicht kam mir das jahrelange Lesen von Fantasyromanen und Krimis jetzt einmal zugute. Trotzdem war es wirklich viel zu verarbeiten. Außerdem sprach Nick die ganze Zeit davon, dass ich hierbleiben sollte. Erwartete man von mir, dass ich einfach so Teil dieser Welt wurde? Ich hatte ein eigenes Leben! Einen Job, eine Wohnung. Ich war mir nicht sicher, ob ich all das so einfach hinter mir lassen konnte. Auf der anderen Seite hatte ich mir gewünscht, eine Familie zu haben und dazuzugehören. Und jetzt saß ich meinem Bruder gegenüber, der mir von einem magischen, verborgenen Universum erzählte, dessen Thronerbin ich war. War ich es mir selbst nicht schuldig, herauszufinden, wo die Reise hinging?
»Ich möchte, dass du bleibst«, sagte Nick schließlich und sah mich ernst an. »Du bist die rechtmäßige Thronerbin der Anderswelt, Lilly.«
Mittlerweile umklammerte ich mein Glas beinahe fieberhaft.
»Du siehst aus, als würdest du gleich wieder umkippen«, bemerkte Nick trocken.
Vielleicht. Aber was erwartete er denn von mir.
»Natürlich tue ich das!« Mein Glas landete ein wenig zu schwungvoll auf dem Tresen vor mir. »Nicht nur, dass ich entführt wurde, nein, jetzt sagst du mir auch noch, dass ich deine Schwester bin und eine verdammte Prinzessin. Eine Prinzessin, die nicht nur ein Königreich regieren soll, sondern acht. Acht, Nick.«
Ich holte tief Luft, um meine plötzlich mehr als nervös flatternden Nerven zu beruhigen.
»Wer würde da nicht ausflippen, hm?«
»Okay, wenn du es so sagst, dann kann ich es verstehen.« Er zwinkerte mir zu. »Ein wenig. Aber, Lilly, du hast es gespürt, nicht wahr? Das Erwachen deiner Magie? Unser Geschwisterband? Du hast das alles gespürt! Die Magie zwischen uns.«
Zögerlich nickte ich. Ich hatte es gespürt, ja. Magie, dachte ich, echte Magie. So sehr ich es jedoch auch gespürt hatte und noch immer spürte, diese Verbindung zu Nick, so sehr hatte mein logisch denkender Menschenverstand Probleme, diese neuen Informationen zu verarbeiten.
»Bei uns ist dein Platz«, sagte er. »Bei mir.«
»Woher bist du so sicher, dass ich die Richtige bin?« Wenn unser Vater in der Welt der Menschen unterwegs gewesen war, hatte er vielleicht mehr als eine Frau geschwängert und zurückgelassen? Kein sehr schmeichelhafter Gedanke, aber durchaus möglich.
»Du meinst, wie ich sicher sein kann, außer der Tatsache, dass es zwischen uns funkt?«
»Ja.«
»Du hast ein Muttermal, nicht wahr?«
Mein Kopf ruckte hoch und verwirrt erwiderte ich Nicks wissenden Blick.
»Auf deinem linken Oberschenkel.«
»Ein … ein Geburtsmal, ja.«
»In der Form zweier Flügel.«
So hätte ich es jetzt nicht ausgedrückt, aber mit viel Fantasie konnte man die längliche, leicht ausgefranste Form durchaus als Flügel bezeichnen.
»Es ist das Mal der Callahans. Jeder Thronerbe hat es von Geburt an.«
»Aber du bist älter als ich!« Die Worte waren raus, ehe ich darüber nachdenken konnte.
»Das Mal weist dich als vom Schicksal auserwählt aus«, erklärte er mir ruhig. »Du wurdest damit geboren. Nicht ich.« Hinter dieser Aussage versteckte sich definitiv eine interessante, aber wenn ich den Ausdruck auf Nicks Gesicht und das plötzliche Glänzen seiner Augen richtig deutete, auch traurige Geschichte. Möglichst unauffällig schielte ich ihn von der Seite an.
»Das muss schwer gewesen sein«, begann ich vorsichtig, »so aufzuwachsen …«
»Das«, unterbrach er mich, »ist eine Geschichte für einen anderen Abend.« Lässig stand er auf und hielt mir seine ausgestreckte Hand entgegen.
»Für morgen. Wenn du bleibst.«
Ich zögerte einen Moment. »Nick, wer ist Lucan Vale?«
Und warum beunruhigte mich meine Reaktion auf diesen Mann fast mehr als die Tatsache, dass ich heute als Prinzessin einer magischen Welt aufgewacht war?
»Das ist definitiv eine Geschichte für einen anderen Abend«, entgegnete Nick und warf damit mehr Fragen auf, als er beantwortet hatte. Nach allem, was er mir gerade erzählt hatte, schien ihn der Gedanke an Lucan am meisten zu stressen.
»Du magst ihn nicht.«
»Das ist es nicht.« Langsam ließ er seine Hand sinken. »Aber ein gesteigertes Interesse für die Vale Familie bringt sogar Unsterbliche ins Grab. Schlag ihn dir am besten direkt aus dem Kopf.«
»Ich wollte nicht, ich meine …«, verlegen brach ich ab.
»Wir sollten jetzt schlafen gehen«, unterbrach Nick mein Gestammel und ich wurde das Gefühl nicht los, dass ich ihn verärgert hatte. Enttäuscht sogar. Sofort bereute ich meine Frage. Immerhin wollte ich mich nicht direkt am ersten Abend mit meinem neuen Bruder streiten.
»Nick«, hielt ich ihn auf, »ich bin nur neugierig, okay? Ich verstehe das alles hier nicht. Aber«, fügte ich hinzu, als er etwas erwidern wollte, »ich freue mich, einen Bruder zu haben. Wirklich. Und ich werde über Nacht bleiben.«
Nicks Gesichtszüge entspannten sich sichtbar und jetzt wieder liebevoll sah er auf mich herab.
»Wir haben Zeit, Lilly.«
Wenn ich wirklich Teil dieser Welt war, eine Unsterbliche, dann war Zeit das, wovon ich am meisten hatte. Mit unverfänglichem Smalltalk brachte Nick mich zurück zu meiner Suite. Noch vor ein paar Stunden hatte ich dieses Zimmer als Gefängnis empfunden, jetzt jedoch schien es mein sicherer Hafen zu sein. Erleichtert betrat ich die mir vertrauten vier Wände und drehte mich noch einmal zu Nick um.
»Hier.« Er hielt mir einen kleinen, handbeschriebenen Zettel entgegen.
»Was ist das?« Neugierig musterte ich den Zettel. »Ein Zauber?«
»Das W-Lan Passwort.«
»W-Lan?« Was sollte ich denn mit dem W-Lan Passwort, wenn ich nicht mal mein Handy griffbereit hatte? Aber eventuell konnte ich Nick ja dazu überreden, ein paar meiner Sachen zu holen, während ich überlegte, ob es wirklich klug war, zu bleiben.
»Wir sind keine Wilden, Lilly.« Nick grinste mich an. Er nickte in Richtung des Zettels, den ich fest umklammert hielt. »Zumindest nicht hier. Moderne Technik funktioniert in der Anderswelt nicht.«
Oh. Darüber hatte ich bis jetzt noch nicht nachgedacht. Aber wahrscheinlich brauchte man die moderne Technik und ihre Annehmlichkeiten überhaupt nicht, wenn man Magie besaß.
»Willkommen zu Hause, Prinzessin.«
Formvollendet verbeugte Nick sich vor mir, ehe er lächelnd die Tür zuzog. Alleine mit mir selbst und meinen Gedanken legte ich den kleinen Zettel auf den Nachttisch und ließ mich erschöpft auf das große Bett fallen. Jemand hatte es während meiner Abwesenheit wieder hergerichtet und mein Tipp fiel dabei auf Alina. Zumindest vermutete ich, dass es das war, was Kammerzofen taten. Mir war nicht wohl bei dem Gedanken, dass die junge Frau hinter mir herräumte. Aber ich konnte eine Verbündete gut gebrauchen. Eine Freundin. Emotional ausgelaugt rollte ich mich auf die Seite und ließ meine Gedanken wandern. Eine magische Welt, dachte ich fasziniert. Mehrere Welten. Und ich war offensichtlich ihre Prinzessin. Thronerbin, ermahnte ich mich selbst. Das hieß, dass ich eines Tages Königin sein würde. Wie konnten sie jemanden wie mich auf dem Thron wollen? Ich war nicht gut mit Menschen, wie sollte ich da ein ganzes Königreich regieren? Ein zaghaftes Klopfen riss mich aus meinen Gedanken.
»Eure Hoheit?« Alinas sanfte Stimme drang gedämpft durch die Tür. »Kann ich reinkommen?«
»Ja«, nuschelte ich, das Gesicht in den Kissen vergraben.
»Hoheit, was … was tut Ihr da?« Sichtlich verwirrt starrte die junge Frau auf mich herab.
»Nachdenken«, seufzte ich und drehte mich zurück auf den Rücken. »Das alles hier«, ich wies auf das Bett, die Suite und zuletzt auf Alina selbst, »ist verdammt viel zu verarbeiten.«
Mit einem verständnisvollen Nicken stellte sie ein kleines silbernes Tablett neben dem Bett ab. Der Geruch von heißer Schokolade stieg mir in die Nase und gierig robbte ich dichter an den Nachttisch heran.
»Ist das …?«
»Ollis berühmte heiße Schokolade, Hoheit.«
Ich wusste nicht wer dieser Olli war, aber es roch himmlisch. Vorsichtig griff ich nach der Tasse und sog den kräftig schokoladigen Geruch tief in meine Lungen. Herrlich.
»Eure Hoheit, Ihr …«
»Mein Name ist Lilly«, unterbrach ich Alina und sah sie freundlich an.
»Du musst mich nicht Hoheit oder Prinzessin nennen, Alina. Ich bin Lilly. Und bis vor ein paar Stunden war ich eine einfache Kellnerin, die in einer kleinen Dachgeschosswohnung gewohnt hat.«
Meine Antwort wurde mit einem schnellen Lächeln belohnt.
»Dennoch seid Ihr eine Callahan, Hoheit. Und meine zukünftige Königin. Wir haben lange nach Euch gesucht«, fügte sie leise hinzu.
»Ihr werdet doch bleiben, oder?«
»Soll ich bleiben?«
»Natürlich!« Irritiert sah sie mich an. »Dies ist Euer Zuhause. Arcadia ist Euer Zuhause!«
Noch nicht überzeugt, trank ich einen Schluck Schokolade und schloss überwältigt die Augen. Meine Güte war das gut. Kräftig und mit einem Hauch von Zimt. Vielleicht würde ich allein der Schokolade wegen hierbleiben.
»Ich bin mir nicht sicher, was genau ich empfinde«, gab ich ehrlich zu. »Nick hat mir ein wenig von den verschiedenen Unsterblichen und ihren Welten erzählt. Auch von seinem … unserem Vater, aber alles … es klang alles so …«
»So was?«, hakte Alina leise nach.
»So hart.«
Unsere Blicke trafen sich über dem Rand meiner dampfenden Tasse und in diesem Moment sah ich etwas in Alinas Augen aufblitzen. Etwas, das mir die junge Frau auf Anhieb noch sympathischer werden ließ. Ich sah Feuer. Leidenschaft. Und Kampfgeist. Eigenschaften, die ich stets bewundert hatte.
»Die Anderswelt ist hart«, bestätigte Alina unverblümt. »Sie kann gnadenlos und grausam sein. Das bringen viel Macht und ein langes Leben mit sich. Aber sie ist auch wunderschön. Voller Magie und Wunder und verzauberten Welten, die Ihr Euch nicht mal im Ansatz vorstellen könnt. Wollt Ihr Euch die Chance entgehen lassen mehr über diesen Teil Eurer Herkunft zu erfahren?«, fragte sie mich lächelnd.
»Eine Möglichkeit all das zu sehen, wovon die meisten Sterblichen nur träumen können. Und gleichzeitig die Aussicht das zu verändern, was längst überholt ist?«
Ein wenig verwundert musterte ich die junge Frau vor mir genauer. Oh ja, da war definitiv ein Feuer hinter der sanften, perfekten Fassade.
»Ich brauche keine Kammerzofe«, entfuhr es mir, ohne dass ich weiter darüber nachdachte.
»Aber«, fügte ich rasch hinzu, als das Lächeln aus Alinas Gesicht verschwand, »eine Freundin hätte ich sehr gerne.«
Die junge Frau musterte mich einen Moment lang stumm, und ich hielt den Atem an. Noch nie hatte ich eine andere Frau um ihre Freundschaft gebeten. Mein bereits angeschlagenes Herz würde es nicht verkraften, sollte sie ablehnen. Aber ich wollte ihre Freundschaft, weil sie mich mochte und nicht, weil ich ihre zukünftige Königin war.
»Ich wäre gern Eure Freundin.« Erleichtert atmete ich auf.
»Das freut mich sehr.« Lächelnd musterte ich Alina. »Ich habe so viele Fragen. Was ist Abbadon? Waren die Engel schon immer so ignorant? Wer ist Lucan Vale?«
Lachend sah Alina auf mich herab. »Ich sehe, dass Euer Bruder Euren Wissendurst nicht stillen konnte.«
»Er meinte, ich solle schlafen gehen und wir würden morgen weiterreden«, schmollte ich und erfüllte damit direkt meine neue Rolle als kleine Schwester.
»Es war ein langer, aufregender Tag für uns alle, Hoheit. Ich stimme Nick zu, aber«, sie hob anmutig eine Hand, ehe ich protestieren konnte, »ich werde Euch Eure Fragen beantworten, Hoheit. Morgen.«
»Wirst du mich dann auch bitte Lilly nennen, Alina?«
Dieser ganze formelle Quatsch mit Eurer Hoheit hier und Eure Hoheit da machte mich nervös.
»Bleibt bei uns, Hoheit, und ich ziehe es in Betracht.«
Alina verschwand kurz in dem großen Ankleidezimmer, ehe sie mit einem gemütlich wirkenden, cremefarbenen Pyjama wieder zurückkam. Lächelnd legte sie die Klamotten auf dem Bett ab und sah mich an.
»Ich habe das Gefühl Ihr würdet Euch lieber alleine fertig machen.«
Ich nickte bestätigend und stellte die mittlerweile leere Tasse auf dem Tablett ab.
»Es liegt nicht an dir, das weißt du hoffentlich. Aber ich … ich bin es gewöhnt, für mich alleine zu sorgen. Dennoch werde ich dich brauchen, um mich hier zurechtzufinden.«
Als sie nichts erwiderte, griff ich nach meinen neuen Schlafsachen. »Gute Nacht, Alina.«
Die andere Frau zögerte kurz, ehe sie sich noch einmal zu mir umdrehte. »Gute Nacht … Lilly.«
Überrascht sah ich auf, aber Alina war bereits verschwunden.