Читать книгу Von Blut & Magie - Melanie Lane - Страница 9

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KAPITEL 4

»Eure Hoheit?«

Alinas zaghafte Stimme drang gedämpft durch die schwere Tür meiner Suite. Seufzend fragte ich mich, ob sie wohl einfach aufgeben und gehen würde, wenn ich sie lange genug ignorierte.

»Hoheit?« Es klopfte erneut, energischer diesmal. »Ich weiß, dass Ihr da drin seid.« Und dann: »Lilly!«

»Jaja«, murmelte ich und schlug die Bettdecke zurück. »Ich komme«, rief ich Alina wenig begeistert entgegen.

Im Schneckentempo stieg ich aus meinem Bett und grub meine Zehen in den flauschigen Teppich. War irgendetwas in dieser Welt nicht bis zum Erbrechen perfekt? Etwas oder jemand anderes als ich? fügte ich in Gedanken sarkastisch hinzu. Nicht mal mein Äußeres schien Minister Meyer, der ausgewählt worden war, um mich über Alliandoan und die Anderswelt zu unterrichten, oder Nick, meinen eigenen Bruder, Herrgott nochmal, komplett zufrieden zu stellen.

Heute war der große Tag, hatte der Minister mich gestern hoch erfreut informiert. Ein ganzes Team aus Anderswelt-Stylisten und Kosmetikern war hier, um mich prinzessinnengerecht aufzuhübschen. Anscheinend konnte man mich außerhalb dieser Wände sonst nicht standesgemäß präsentieren. Schon gar nicht in Arcadia. Bis jetzt war ich immer davon ausgegangen durchaus gute Haut und schöne Haare zu haben. Zusammen mit meinen ungewöhnlichen Augen waren meine weißblonden Haare immer ein Hingucker gewesen. Aber scheinbar war dem nicht so. Adieu Selbstbewusstsein, hallo Anderswelt.

Drei Wochen war es nun her, dass Nick und Lucan mich aus meiner Wohnung entführt hatten und ich Teil dieser Welt geworden war. Vor drei Wochen hatte ich Todd und Marco eine Nachricht per WhatsApp geschrieben und ihnen erklärt, dass Nick sich als mein verschollener Bruder entpuppt hatte und ich spontan mit ihm gehen würde, um den Rest meiner Familie kennenzulernen. Zumindest war ich so nah an der Wahrheit geblieben wie möglich. Verständlicherweise waren beide nicht sonderlich begeistert von meiner überraschenden Nachricht gewesen. Aber was hätte ich ihnen denn sonst sagen sollen? Todd zumindest hatte mir zugesichert, dass ich eine Arbeit hatte, egal wann ich mich dazu entschloss zurückzukommen. Es waren turbulente Wochen gewesen. Intensive Gespräche mit Nick (Nein, er ging nicht davon aus, dass ich bereits vollständig unsterblich war, wann dies der Fall sein würde, würde die Zeit und vor allem meine Magie zeigen) und Alina (Ja, es war völlig normal, dass ich noch nie wirklich krank gewesen war oder meine Periode bekommen hatte) sowie Unterrichtsstunden mit Minister Meyer (und seinem Lieblingssatz: Ihr müsst verstehen, Hoheit …) hatten meinen Kopf beinahe zum Explodieren gebracht. Dank meines neuen, coolen Runensteinzaubers, den der Minister mir schnell und schmerzlos unter die Haut meines linkes Handgelenkes gebrannt hatte, konnte ich zwar rein sprachlich alles verstehen, aber das hieß noch lange nicht, dass ich auch wirklich alles verstand. Vor knapp zwei Wochen hatte ich Nick in seinem Zimmer überfallen. Bewaffnet mit einer Flasche Wein hatte ich Antworten gewollt. Und sie auch bekommen. Unser Gespräch jedoch hatte, wie so ziemlich jedes Gespräch, das ich in der letzten Zeit führte, fast noch mehr Fragen aufgeworfen.

»Warum haben wir keine Flügel?«, hatte ich ihn an diesem Abend gefragt. Eine Frage, die mir seit meinem ersten Abend mit Nick auf der Seele brannte. »Wir haben doch keine, oder?«

Nick hatte lediglich mit den Kopf geschüttelt. »Nein.«

»Warum? Ich meine, wenn wir Engel sind, sollten wir dann nicht Flügel haben?«

Man konnte behaupten, dass ich mich intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt hatte.

»Wir sind Engel, Lilly. Im Geiste sowie in unserer Magie. Wir sind ebenso eine Spezies der Anderswelt wie Formwandler oder Ghoule. Wir brauchen keine Flügel, um zu wissen wer oder was wir sind. Aber«, hatte er hinzugefügt, »wir hatten einst Flügel. Unglaubliche sogar.«

In diesem Moment hatte ich mir ein mentales High Five gegeben. Hatte ich‘s doch gewusst!

»Was ist passiert?«

»Der Clash«, hatte Nick geantwortet. Immer lief es auf diesen verdammten Clash hinaus.

»Ich glaube …«, Nick hatte mich aus intensiv glühenden, grünen Augen angeschaut, »ich glaube, dass die Balance uns die Flügel nahm. Als Strafe. Oder aber, dass sie eine Art Bezahlung waren. Dafür, dass die Balance unserem Vater geholfen hat, während des Clash

»Aber das sind nur Theorien?«

»Nur Theorien«, hatte er bestätigt. »In Alliandoan reden wir nicht gerne darüber. Für jene, die sich an eine Zeit mit Flügeln erinnern, ist es zu schmerzhaft. So auch für Olli und Malik. Ich habe ein paar Mal versucht, mit ihnen darüber zu reden, aber meistens blocken sie ab.«

Malik, der General unserer königlichen Garde. Ich hatte den adretten Engel in Uniform bisher nur kurz gesehen, aber er hatte einen sehr netten und kompetenten Eindruck gemacht.

»Erzähl mir, wie er so war, unser Vater.«

»Furchtlos«, hatte Nick geantwortet. »Stur und ziemlich, hm, du würdest es wahrscheinlich als altmodisch bezeichnen. Aber er war ein guter Mann, Lilly. Ein guter Herrscher. Er hatte es nicht einfach.«

Nicks Miene hatte sich bei seinen Worten drastisch verdüstert, also hatte ich versucht, ihn auf andere Gedanken zu bringen.

»Also … Zombies?« Wie erwartet hatte Nick angebissen und unser Spiel, das ich von da an zu einem abendlichen Ritual gemacht hatte, mitgespielt.

»Nein.«

»Geister?«

»Nicht direkt.« Hmm.

»Vampire?« Daraufhin hatte er genickt.

»Ernsthaft? Vampire?«

»In früheren Zeiten, ja. Früher hat es eine Menge verschiedener Welten und Spezies gegeben, Lilly. Vampyre«, er betonte das y als wäre es ein ü und ich grinste innerlich – Vampüre – »Furien, Dämonen, die nicht aus Abbadon stammten, verschiedene Unseelie Spezies, wie die Dunkelblüter oder die Elementarfeen. Die Anderswelt war ein aufstrebendes Universum und durch die Vereinigung von Gefährten entstanden wiederum neue Spezies.«

»Aber jetzt nicht mehr.« Es war keine Frage gewesen, sondern eine Feststellung.

»Jetzt nicht mehr.« Ein absolut trauriger Gedanke, der mich auch jetzt, Tage nach unserem Gespräch, noch immer beschäftigte. Der Unterricht des Ministers hingegen fiel wesentlich trockener aus als meine Gespräche mit Nick oder Alina.

Der Minister war ein kleiner, leicht rundlicher Mann mit einem nagetierartigen Gesicht und sehr wenig Geduld. Zumindest was mich betraf. Man konnte getrost behaupten, dass der Minister mich nicht sonderlich mochte. Ich lernte nicht schnell genug, ich konnte mir Dinge nicht gut genug merken, ich war nicht Engel genug, nicht königlich genug. All das stand ihm bei unseren täglichen Treffen ins Gesicht geschrieben. Am Anfang hatte ich seine Haltung akzeptiert, konnte sie sogar nachvollziehen, bedachte man, dass ich diese Welt bis vor wenigen Wochen nicht einmal gekannt hatte und sie eines Tages regieren sollte. Aber die Haltung des Ministers veränderte sich nicht. Im Gegenteil, ich hatte das dumpfe Gefühl, dass der Minister mich von Tag zu Tag weniger mochte. Egal wie viel Mühe ich mir gab.

Nick hatte mir erklärt, dass Minister Meyer zum heiligen Rat Alliandoans gehörte. Nur Mitglieder des Adels, wirklich, wirklich alte Mitglieder des Adels, waren Teil des aus Ministern bestehenden Rates. Da der Minister äußerlich in seinen Vierzigern zu sein schien, war er entweder sehr spät zu seiner Magie gekommen oder aber er war mehrere Jahrhunderte alt. Alle anderen Unsterblichen, die ich bis jetzt getroffen hatte, waren jung, attraktiv und in der Blüte ihres Lebens. Ich fragte mich, wie der Rest des Rates oder meines sogenannten Adels mich empfangen würde, wenn Minister Meyer, den Nick als Verbündeten bezeichnete, mir bereits so abwertend gegenüberstand.

In den letzten Tagen hatte ich gehofft, etwas über die Anderswelt und die Engel zu lernen, was mich davon überzeugen würde, dass ich die richtige Entscheidung getroffen hatte. Leider war dem nicht so. Der Clash, die Welten, die Engel … ich verstand viele Zusammenhänge zwar deutlich besser, dennoch schienen die Engel oder eher der Engelsadel ein ignorantes, selbstverliebtes Volk zu sein, das sich einen feuchten Dreck um die Probleme der weniger Begünstigten kümmerte. Insofern hielt sich meine Freude in Grenzen, wenn ich an die heutige Initiation in Arcadia dachte.

Ich war aufgeregt, ja, immerhin würde ich das erste Mal durch ein magisches Portal in eine andere Welt reisen. Aber ich hatte auch Angst, Bedenken und Zweifel. Nach allem, was ich bis jetzt gelernt hatte, war es gut möglich, dass mich ein wütender Mob mich auf der anderen Seite erwartete. Bereit, mich gegen jemand wesentlich qualifizierteren auszutauschen. Muttermal hin oder her. Es war also keine Untertreibung, zu behaupten, dass ich jetzt schon genervt war. Wenn ich eines hasste, dann waren es fremde Menschen oder eher Unsterbliche, die ungefragt an mir herumzupften und in meinen persönlichen Bereich eindrangen. Grimmig riss ich die Tür auf, lediglich mit meinem kurzen Flanell Pyjama bekleidet, und starrte einer irritierten Alina entgegen. Eine ihrer elegant geschwungenen Augenbrauen hob sich kunstvoll an, als sie mein wenig schmeichelhaftes Outfit inspizierte.

Oh, wie sehr ich sie um diese Geste beneidete. Aber vielleicht brauchte man ebenso perfekt zurechtgezupfte Brauen wie sie, um die richtige Wirkung zu erzielen.

»Eure Hoheit«, verneigte sie sich leicht. »Ihr seid noch nicht angekleidet.«

»Wozu«, gab ich achselzuckend zurück, »dafür, dass ein Haufen Fremder mich gleich wieder auszieht, um an mir herumzuwerkeln?«

Ich ließ Alina in der offenen Tür stehen und schlurfte zurück in Richtung Bett.

»Eure Hoheit«, erwiderte Alina bemüht geduldig. »Bitte … Ihr müsst Euch fertig machen.«

Händeringend baute sie sich vor mir auf. Ihr Gesichtsausdruck zeigte eine Mischung aus Verzweiflung, Gereiztheit und einem Hauch von sorgfältig unterdrückter Wut.

Diese Wut war es, die etwas in mir ansprach. Etwas, das mich dazu verleitete, in mein Ankleidezimmer zu gehen und mir eine bequeme Yogahose und einen übergroßen roten Pullover zu holen. Wenn sie mich schon quälten, dann wollte ich wenigstens bequeme Klamotten anhaben. Ohne Scham schlüpfte ich aus meinem Pyjama und in frische Unterwäsche.

»Hoheit, ich …«, Alina räusperte sich. »Lasst mich Euch helfen.«

»Ich kann mich durchaus alleine anziehen. Aber«, fügte ich hinzu, »du kannst mir erzählen, was und wer genau mich gleich erwarten wird.«

»Hoheit, ich …«

»Alina.« Seufzend hielt ich inne. »Ich brauche keine Dienerin oder Kammerzofe«, erklärte ich ihr, »das haben wir doch schon geklärt. Wir sind Freundinnen und wenn ich etwas gebrauchen kann, dann eine Verbündete in diesem Wahnsinn hier. Jemanden, dem ich trauen kann«, fügte ich leise hinzu.

»Ihr … du hast recht«, erwiderte sie schließlich.

»Gut.« Nickend drehte ich mich um. »Kannst du mir mit einem Zopf helfen?«

»Natürlich, Hoheit.« Eifrig kam sie auf mich zu.

»Lilly«, verbesserte ich sie automatisch.

»Lilly.«

Als ihre sanften Hände gleichmäßig durch meine langen Haare fuhren, begann ich mich zu entspannten. Meinen Namen aus ihrem Mund zu hören, klang noch immer ein wenig fremd, ganz so, als teste sie den Klang des Wortes und die Bedeutung dahinter. Mein Titel und meine Stellung standen dabei wie eine riesige Mauer zwischen uns.

»Lilly«, wiederholte sie, fester diesmal, ehe sie mir mit flinken Fingern einen hübschen Fischgrätenzopf flocht.

»Ich mag wie sich das anhört«, sagte ich und sah ihr über meine Schulter direkt in die Augen.

Alina nickte lächelnd. »Ich auch.«

Und ich mochte auch, was ich in ihren Augen sah. Freundschaft, Loyalität und das Versprechen, für mich da zu sein. In diesem Moment wurden wir von Prinzessin und Kammerzofe zu normalen Frauen. Zu Freundinnen, die sich auf Augenhöhe begegneten.

»Es wird Zeit.«

»Muss ich wirklich? «

»Ich fürchte ja.«

Seufzend schlüpfte ich in meine schwarzen Birkenstock Sandalen. Eine meiner Bedingungen hier einzuziehen, war das Abholen einiger persönlicher Gegenstände und Klamotten gewesen.

Umgeben von meinen eigenen Sachen hatte ich mich direkt ein wenig wohler gefühlt.

»Ich freue mich nicht gerade darauf, ein komplettes Make-Over zu bekommen«, gestand ich.

»Es gibt sowieso nicht viel, was sie verändern oder verbessern können.« Alina zuckte lässig mit einer Schulter, als sie mich zur Tür führte. »Du bist wunderschön.«

Normalerweise hätte ich protestiert, denn ich mochte es nicht, auf mein Äußeres reduziert zu werden, aber Alinas Worte waren freundlich und aufrichtig. Sie versuchte nicht, mir zu schmeicheln, sie stellte lediglich fest.

»Ich glaube, ich brauche einen Drink, um das durchzustehen.« Fragend sah ich meine neue Freundin an. »Würdest du bleiben?« Für einen Moment herrschte Stille, ehe sie mich erfreut angrinste.

»Es wäre mir eine Freude.«

»Cool! Das wird ein Spaß! «

Es klopfte an der Tür und noch immer grinsend öffnete ich sie schwungvoll. Nick und Lucan standen vor mir, bereit mich zur Schlachtbank zu führen. Nick musterte mich wie immer freundlich, während Lucan mir seinen üblichen Blick aus Langeweile und milder Herablassung schenkte. »Warum grinst du so?«

»Es ist nichts«, erwiderte ich und tauschte einen geheimen Blick mit Alina. Die kicherte leise, während sie begann, meinen Pyjama zu falten und mein Bett auszuschütteln.

»Lass das!« Ich drehte mich um und packte sie kurzerhand am Arm. »Ohne dich mache ich das hier nicht.«

Nach kurzem Zögern ließ sie meine Bettdecke achtlos fallen und wandte sich uns zu. »Ich soll direkt mitkommen?«

»Natürlich!«, rief ich, während die beiden Männer uns aufmerksam beobachteten.

»Glaub ja nicht, dass ich diesen Mist alleine über mich ergehen lasse.«

Nicks Augenbrauen schossen in die Höhe und Lucans Blick wurde wacher, intensiver. Neugierig musterte mich der AssassinenKönig.

»Was meinst du damit?«

Ich ignorierte meinen Bruder. »Glaubst du, du kannst uns etwas Champagner besorgen?« Einer der Vorteile, wenn man steinreich war … Das Wort Champagner ging mir so leicht über die Lippen, als hätte ich um eine Flasche stilles Wasser gebeten.

»Du könntest Olli danach fragen.«

»Guter Gedanke«, lobte ich sie grinsend.

»Moment Mal«, mischte Nick sich ein. »Du klingst nicht sonderlich glücklich darüber, dass ein ganzes Team von Spezialisten hier ist, um sich um dich zu kümmern.«

Autsch. Es brauchte also ein ganzes Team, um mich herzurichten.

Wirklich, Nick?

»Glücklich über ein ganzes Team von Spezialisten, die an mir rumzupfen werden, weil ich nicht gut genug für Arcadia bin? Nicht hübsch genug? Nicht unsterblich genug?« Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Wie kommst du bloß darauf?«

Nick trat bei meinen Worten einen kleinen Schritt zurück und sah mich mit großen Augen an. Er schien verletzt über meine Antwort. Alina schnaubte neben mir wenig damenhaft. Und Lucan? Der sah mich an, als würde er mich zum ersten Mal sehen.

»Lilly«, begann Nick eindringlich, »ich würde nie … du, du bist wunderhübsch! Wir dachten, es würde dir gefallen, ein wenig … umsorgt zu werden.«

Wir? Damit konnte Nick eigentlich nur die Minister meinen.

Interessant. Wollten sie mir also tatsächlich etwas Gutes tun oder mir vorab schon einmal das Gefühl geben, nicht gut genug zu sein?

»Und ich dachte, dass ich nicht euren Erwartungen entspreche.«

»Das ist auf keinen Fall so!«

»Dann wäre es schön«, gab ich leise zu bedenken, »wenn man mich aufgrund meines Charakters bewertet und nicht aufgrund meiner perfekt geschwungenen Augenbrauen.«

Überrascht erwiderte Nick meinen Blick und ich fragte mich, wie oft ich solche Diskussionen wohl noch würde führen müssen. Was das anging, waren sie alle gleich, egal ob Mensch oder Unsterblicher.

»Es ist okay«, beruhigte ich Nick lächelnd. Er fühlte sich sichtlich unwohl in seiner Haut. Obwohl wir uns in den letzten Wochen nähergekommen waren, waren wir uns in vielen Dingen noch immer fremd.

»Alina«, wandte ich mich an meine Freundin, »lass uns einen Beauty-Tag daraus machen. Was meinst du?«

»Klingt gut«, erwiderte sie erstaunlich gelassen. Es war merkwürdig, aber ich hatte fast den Eindruck, dass sie Nicks Unwohlsein zu genießen schien.

»Also gut. Wo sind denn jetzt diese tollen Spezialisten?«

»Unten im Spa.« Natürlich, ich hatte ja ein Spa. Und einen Pool, zwei, um genau zu sein.

Und so machten wir uns auf den Weg. Nick stakste voraus und Alina und ich folgten ihm flüsternd, während Lucan das Schlusslicht bildete und uns schweigend begleitete. Obwohl der Assassine keinen Mucks von sich gab, spürte ich, wie sich seine schwarzen Augen in meinen Hinterkopf bohrten. Was hatte dieser Mann bloß an sich, das mich so aus der Fassung brachte? Und damit meinte ich nicht die Tatsache, dass er der Anführer einer elitären Killertruppe war.

Nachdem die Männer uns im Spa abgeliefert hatten, entwickelte sich der Tag zu meiner großen Freude doch noch ziemlich gut. Keinen der sogenannten Spezialisten schien es aus der Ruhe zu bringen, dass wir zu zweit waren. Sie alle waren höflich, aber distanziert und behandelten sowohl mich als auch Alina mit Respekt.

Und nach knapp vier Stunden musste ich zugeben, dass ich mich nicht nur köstlich amüsiert hatte, sondern auch fantastisch aussah. Nicht nur meine Augenbrauen hatten jetzt den besagten perfekten Schwung, sondern ich fühlte mich ausgeruht, entspannt sogar, und meine Nägel glänzten in einem hübschen, zarten Rosa. Ich selbst hätte mich zwar für einen etwas kräftigeren Ton entschieden, aber Alina hatte sanft mit dem Kopf geschüttelt. Das Kleid für meine Initiation war weiß, die Farbe der Königsfamilie, meine Farbe. Außer mir war es nur Nick gestattet, ein sehr helles Grau, zu besonderen Anlässen auch mal Weiß, zu tragen. Allen anderen Engeln der Adelsfamilien sowie den Ministern standen je nach Rang diverse Grautöne zur Verfügung. Je höher der Rang, desto heller die Farbe. Malik würde als General meiner Königsgarde eine cremefarbene Uniform tragen. Also war rosa die Farbe der Stunde.

Zurück in meiner Suite war Alina dabei, mir in die, extra für mich in Arcadia angefertigte, Robe zu helfen, als die Nervosität mit voller Wucht zuschlug. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Ich betrachtete mich im Spiegel. Das weiße Kleid war aus einem schweren, seidenen Stoff und raschelte sanft bei jeder meiner Bewegungen. Es war exquisit, aber für meinen Geschmack ein wenig zu hochgeschlossen. Nicht zum ersten Mal fummelte ich an dem hohen Kragen herum und wünschte mir einen etwas luftigeren Ausschnitt. Alina hatte meine Haare zu einem hübschen Zopf im Nacken geflochten und mir dabei geholfen, ein zartes Make-Up aufzulegen. Die Krönung, im wahrsten Sinne des Wortes, war jedoch das diamantbesetzte Diadem, das meine Freundin soeben auf meinem Kopf platzierte. Das Schmuckstück war schwer und im ersten Moment sackte mein Kopf wegen des Gewichts ein wenig nach vorne. Als ich den Kopf hob und mich erneut im Spiegel betrachtete, erkannte ich die Form des Diadems als zwei ineinander verschlungene Flügel. Die Form meines Muttermales.

»Du sieht bezaubernd aus, Lilly.«

Dank unseres gemeinsamen Tages hatte Alina ihre Zurückhaltung mir gegenüber endgültig abgelegt. Insofern schuldete ich Nick meinen Dank. Für dieses Kleid jedoch würde ich mich nicht bedanken. Auch wenn ich nie zu den Mädchen gehört hatte, die selbstbewusst genug für Miniröcke oder Flatterkleider waren, so konnte ich mir durchaus etwas Schmeichelhafteres vorstellen als das brave, fließende Kleid, in das man mich hier gesteckt hatte. Aber gut, dies war ihre Welt und ich musste darauf vertrauen, dass Nick und Minister Meyer wussten, was sie taten.

»Findest du es nicht ein wenig … viel?«

»Es ist das, was in Arcadia von dir erwartet wird«, gab Alina kryptisch zurück.

»Hm.«

»Mach dir keine Sorgen, du siehst wundervoll aus, Lilly. Deine Haare und die Augen … sie lassen dich beinahe ätherisch erscheinen.«

Das machte die Sache nicht unbedingt besser, dachte ich, als Alina mir in ein Paar flache Pumps half.

»Bist du bereit?«, fragte sie mich lächelnd. War ich? Keine Ahnung. »Ja.«

»Dann los.«

Gemeinsam machten wir uns auf den Weg in die große Halle und ich versuchte, mein wildschlagendes Herz unter Kontrolle zu halten. Dies war er also, der Tag, an dem man mich nicht nur den Ministern in Arcadia, sondern dem gesamten Volk Alliandoans präsentieren würde. Als Prinzessin und zukünftige Königin und, glaubte man den Erzählungen von Nick und Minister Meyer bezüglich der Balance, dann auch als Retterin. Als neue Hoffnung. Dieser Gedanke ließ mich stets erschaudern. Ich war niemandes Rettung oder gar Hoffnung und ich hatte mehr als nur ein wenig Bedenken, dass ich die Rolle, die man mir auferlegte, nicht erfüllen konnte. Was, wenn die Balance mich nicht erkannte? Was, wenn mein Volk mich auslachte? Am Fuße der Treppe erwartete man uns bereits. Nick, Minister Meyer und Malik sahen mir erwartungsvoll entgegen.

»Lilly, du siehst atemberaubend aus.«

»Danke.« Ich ergriff die ausgestreckte Hand meines Bruders und nickte dem Minister kurz zu. Malik erhielt ein strahlendes Lächeln, das er, wie auch bei unserer letzten Begegnung, zurückhaltend erwiderte. Von der ersten Sekunde an hatte ich den General meiner königlichen Garde gemocht. Malik Umgab eine Aura von Integrität und Loyalität. Von Nick wusste ich, dass er schon seit mehreren Jahrhunderten im Dienst unserer Familie stand. So langsam gewöhnte ich mich an den Gedanken, dass einige Anwesende hier älter als Oscar Wilde oder gar Shakespeare waren. Der Mann vor mir sah jedenfalls nicht älter aus als Mitte Dreißig. In seiner cremefarbenen, adretten Uniform mit Goldapplikationen an den Schultern und der Brust sowie dem massiven Schwert an der Hüfte, sah er kompetent und beinahe königlicher als ich aus.

Wie er damals mit Flügeln wohl ausgesehen hatte, fragte ich mich. Höchstwahrscheinlich noch beeindruckender, als er ohnehin schon aussah. Maliks Arme waren hinter dem Rücken verschränkt und seine Haltung gerade und stolz.

»Ihr seid eine Vision, Hoheit.« Da war ich mir nicht so sicher, dennoch nickte ich Malik dankbar zu. Für die hier anwesenden Unsterblichen schien mein Outfit tatsächlich perfekt zu sein. Also würde ich mich entspannen und dem Plan wie besprochen folgen. In den letzten zwei Tagen waren wir diesen Tag immer und immer wieder durchgegangen. Die Assassinen würden uns nach Arcadia begleiten, ein Portal wartete bereits auf uns. Vor Ort würden Maliks Männer uns auf der Terrasse des Palasts in Empfang nehmen und uns zum See der Balance führen, wo die Magiequelle dieser Welt angeblich bereits auf mich wartete.

»Wo sind die anderen?«

»Warten am Portal auf uns.«

»Ist es wirklich notwendig, dass diese Barbaren uns begleiten?«

»Diese Barbaren, wie Ihr sie nennt, sind zum Schutz der Prinzessin hier.« Malik schenkte dem Minister einen strengen Blick.

»Und wir sind uns wohl alle einig, dass der Schutz von Prinzessin Lillianna unser aller Priorität ist, nicht wahr?«

»Selbstredend, General. Selbstredend.«

Nick hatte mir gesteckt, dass auch Malik kein allzu großer Fan der Assassinen war, daher wusste ich seine Worte umso mehr zu schätzen. Nick blieb während dieser kleinen Auseinandersetzung auffällig still. Nicht zum ersten Mal hätte ich nicht nur Minister Meyer, sondern auch meinem Bruder zu gern meine Meinung gesagt, hielt mich jedoch zurück. Dies war weder der richtige Zeitpunkt noch der richtige Ort. Und ganz sicher würde ich die Leute, die kurz davor waren, mich durch ein magisches Portal zu geleiten, nicht verärgern. Der Minister hatte mich zumindest gut auf diesen Tag vorbereitet und dafür musste ich ihm dankbar sein. Ohne seine Hilfe und Hartnäckigkeit hätte ich die Anderswelt und ihre Komplexität wohl nicht so rasch verstanden.

»Wir sollten uns auf den Weg machen«, sagte Alina neben mir und sah in ihrem hellblauen Leinenkleid so bezaubernd aus wie am ersten Tag unserer Begegnung. War es wirklich erst wenige Wochen her? Seit dem Tag, an dem Nick und ich im Trainingszentrum auf Lucan und seine Männer gestoßen waren, hatte ich die Assassinen kaum zu Gesicht bekommen. Die Männer blieben unter sich und Lucan machte einen großen Bogen um mich. Es hatte mich schon überrascht, ihn heute Morgen vor meiner Tür stehen zu sehen. Bei dem Gedanken den Assassinen-König in wenigen Minuten wiederzusehen, begann das Blut in meinen Adern ein wenig schneller zu rauschen und ich atmete tief durch. Lucan Vale war nur eins der vielen Geheimnisse und Mysterien, die ich in den nächsten Wochen zu lösen gedachte. Mehr nicht.

»Mehr nicht«, murmelte ich kaum hörbar.

»Eure Hoheit?«, der Minister wandte sich fragend an mich, während wir die große Halle durchquerten und durch die Küche nach draußen in die Gärten traten.

Ich winkte ab und konzentrierte mich auf die Aufgabe, die vor mir lag. Die Sonne stand noch immer hoch am Himmel und es war ein angenehm warmer Tag. Wir spazierten zum angrenzenden Waldrand und ich erspähte Lucan und seine Männer in der Ferne. Drei seiner Männer würden uns begleiten: Duncan, King und Alex. Die Assassinen waren in für sie traditionelles Schwarz gekleidet und damit das genaue Gegenteil von mir und dem Rest unserer kleinen Gruppe. Als wir nähertraten, spürte ich, wie sich alle Augenpaare auf mich richteten und ich fragte mich, was die Männer sahen. Wie sie mich sahen. Lucan zumindest schien wie immer nicht sonderlich begeistert. Regungslos musterte er erst mein Kleid und dann das Diadem auf meinem Kopf.

»‘Nabend, Prinzessin.« Kings weiße Zähne blitzten auf und ich schenkte den Männern ein schnelles Lächeln.

»Verschwenden wir keine Zeit.« Begleitet von Lucan und seinen Männern sowie Malik und Nick, traten der Minister, Alina und ich vor. Meine erste Portalreise, aber wo zur Hölle war das Ding? Nick, der meine Verwirrung zu spüren schien, drehte sich zu uns um.

»Wir haben den Portalzauber, als wir dieses Haus kauften direkt aus Dhanikans herbringen lassen«, erklärte er mir. »Der Zauber ist stark und daher so gut wie unsichtbar. Normalerweise würdest du eine Art silbrige Energiequelle sehen können. Fast wie ein Spiegel. Dieses Portal jedoch ist fest installiert und steht uns damit rund um die Uhr zur Verfügung. Man braucht lediglich die magischen Worte zu sprechen und es öffnet sich.«

»Ist das nicht gefährlich?« Wenn wir da durchkamen, kamen vielleicht auch andere Wesen zu uns.

Nick schüttelte den Kopf. »Nein. Midas selbst, der höchste Zauberer Dhanikans‘, hat den Zauber angefertigt und ihn geschützt. Nur wir können das Portal benutzen und es führt lediglich nach Arcadia. Für andere Portalreisen brauchen wir Runensteine, so wie alle anderen auch.«

Okay, das klang einleuchtend.

»Warum hier draußen und nicht im Haus?«

»Weil die Energie hier draußen reiner ist. Magie lebt von Schwingungen, Energien, wenn du so willst und diese sind nirgends so präsent oder stark wie in der Natur. Wir sind mit unserem Umfeld auf elementarster Ebene verbunden, Lilly.«

»Die Sterblichen haben es verlernt, die Natur wertzuschätzen und sie zu nutzen«, mischte Lucan sich in unser Gespräch ein. Überrascht sah ich auf. Aber Lucans Aufmerksamkeit lag auf dem Portal, nicht auf mir. Fast durchsichtig schimmerte es leicht.

»Duncan, King und Alex, ihr zuerst«, befahl er seinen Männern.

»Alles klar, Boss.« Duncan schenkte mir ein schnelles Grinsen und erstaunt sah ich dabei zu, wie die Männer zwischen den Bäumen im Wald verschwanden. Der Minister und Nick folgten. Blieben nur noch Malik, Alina, Lucan und ich übrig.

»Bereit?«, fragte Lucan und es dauerte eine Weile, bis ich bemerkte, dass die Frage tatsächlich an mich gerichtet war.

Ob ich bereit war? Nein, absolut nicht. Mein Bruder und die anderen waren gerade durch ein unsichtbares Nichts verschwunden. All die Tage mit dem Minister, Nick und Alina, all die Gespräche und Unterrichtsstunden hatten mich nicht darauf vorbereitet, durch ein magisches Portal in eine andere Welt zu reisen. Und ehrlich gesagt, flippte ich innerlich gerade ein wenig aus. Hier stand ich nun in diesem scheußlichen Kleid, ein Diadem auf dem Kopf. Die verlorene Engelsprinzessin. Aber wer war ich wirklich?

»Ich, ah … ja.« Ein Schatten huschte über das Gesicht des Assassinen und ich spürte es schon wieder. Dieses merkwürdige Gefühl von … ich wusste nicht, was es war oder was genau ich fühlte. Verwirrung. Unerklärliche Wut. Körperliche Anziehung. Was es jedoch auch war, es gefiel mir nicht.

»Es ist okay, nervös zu sein.« Alina hakte sich vertraut bei mir ein und ich schenkte meiner Freundin ein dankbares Lächeln.

»Dein Leben wird sich für immer verändern, Prinzessin«, murmelte Lucan und ein düsterer Unterton schwang in seinen Worten mit. Ich war jedoch zu nervös, um mir auch noch darüber Gedanken machen zu können. »Aber das hier, diese Welt hinter dem Portal, das ist dein Zuhause.«

»Es wird alles gut, Lilly.« Und dann fügte sie leise hinzu: »Dir wird schlecht werden, das ist bei den ersten Malen immer so. Atme möglichst flach und halt die Luft an, wenn du durch das Portal gehst.«

Na wunderbar. Ich wurde also nicht nur von hunderten von Unsterblichen erwartet, die alle darauf brannten, ein Urteil über mich zu fällen, sondern mir würde dabei auch noch speiübel sein. Beste Voraussetzungen, dachte ich seufzend und folgte den anderen auf leicht zittrigen Beinen durch das unsichtbare Portal, wobei mich der Gedanke nicht losließ, dass ich dabei war, meine Welt und damit mein altes Leben endgültig hinter mir zu lassen.

Von Blut & Magie

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