Читать книгу Auf seidenen Schwingen - Melanie Weber-Tilse - Страница 6
Kapitel 2
ОглавлениеSie spürte, wie er sich mit ihr verband. Spürte seine unbändige Wut, seine Kälte und noch etwas anderes, das sie nicht bestimmen konnte.
Die Krallen, die ihr die Haut aufritzten, spürte sie dagegen fast gar nicht mehr. Und dann hörten alle es. Ein Brüllen und ein Lichtschein schossen vom Himmel herab, direkt auf sie zu.
Melody öffnete mühsam die Augen, sah ihn vor sich landen, hörte, wie er sich brüllend über ihre Angreifer hermachte, wie er einen nach dem anderen blitzschnell tötet. Das höhnische Lachen der Höllenengel war einem panischen Kreischen gewichen.
Dann herrschte Stille. Nur ihr eigener rasselnder Atem war zu hören. Ihr wurde immer kälter und doch hatte ihr Körper noch nicht einmal mehr die Kraft, zu zittern.
Ihre Sicht verschwamm wieder und die Geräusche wurden leiser. Sie spürte noch, wie sie hochgehoben wurde und ihre Flügel über den Boden strichen. Ein unbändiger Schmerz schoss durch ihren Körper, ein letztes Mal bäumte er sich auf und ein leiser Schrei entfuhr ihr, bevor sie in die Dunkelheit abtauchte.
Es zerrte an ihr, zerrte sie an die Oberfläche. Dabei tat ihr alles weh. Die Schmerzen fegten durch ihren Körper und nahmen ihr immer noch die Luft zum Atmen.
Doch da war etwas, das sie rief, was sie hervorholte. Sie konnte es nur noch nicht einordnen. Mühsam quälte sie sich zur Oberfläche hoch und öffnete die Augen. Das Licht tat weh und doch schrie alles in ihr, dass sie aufwachen sollte. Nur warum?
Je mehr sie ins Hier und Jetzt zurückkehrte, umso klarer wurden ihre Gedanken, desto besser arbeitete ihr Verstand.
Mit einem Ruck fuhr sie hoch. Er rief nach ihr. Er brauchte ihre Hilfe. Sie setzte sich auf, ignorierte, dass sich alles drehte, und schwang die Beine aus dem Bett. Diese gaben sofort nach, als sie aufstand und sie knallte auf die Knie. Sie zog sich an dem nächsten Bett wieder hoch und wankte zur Tür.
„Oh mein Gott, wo willst du hin? Bleib hier.“ Jemand versuchte, sie aufzuhalten, doch der Drang, sofort zu ihm zu kommen, war übermächtig. Sie stieß den fremden kleinen Mann von sich weg und riss die Tür auf.
Sie schwankte auf den Rand des Himmelreichs zu und ließ sich fallen. Die Flügel breiteten sich aus und ein Ruck ging durch ihre Schulterblätter. Sie hatte nicht wirklich die Kraft, um zu fliegen, und so schoss sie fast ungebremst zur Erde.
Kurz bevor sie auf den Boden aufschlug, konnte sie sich noch ein wenig abfangen, knallte dann aber doch sehr unsanft auf und überschlug sich mehrmals.
Dann kroch sie auf allen vieren zu ihm. Er lag vor dem Haus und man hatte ihn zum Sterben dort liegen lassen.
„Grandpa“, krächzte Melody, als sie den alten Mann erreicht hatte. Sie spürte, wie das Leben aus ihm herausfloss, wie sein Atem flach ging und sein Herzschlag kaum noch vorhanden war.
Seine Lider flatterten und er sah sie noch einmal an. Dann huschte ein Lächeln über die alten Züge.
„Nun gehe ich zu meiner Marta. Danke für die Zeit, mein Kind“, flüsterte Graham, dann hauchte er den letzten Atem aus und seine Brust senkte sich herab.
Der Schmerz überrollte Melody, und sie warf sich auf seine Brust. Sie hatte ihn im Stich gelassen. Wegen ihr hatte er sterben müssen. Sie weinte bitterliche Tränen, bis ein großer Schatten auf sie fiel. Eine Hand legte sich auf ihren Rücken.
„Steh auf“, befahl Cole mit ruhiger Stimme.
Auch wenn sich alles in ihr gegen ihn wehrte, so stand sie auf, um dann auf unsicheren Beinen neben Cole zu stehen. Er war riesig und sie fühlte sich trotz ihrer Größe, total winzig neben ihm.
„Seine Zeit wäre sowieso bald gekommen.“ Immer noch hörte man keine Emotionen aus seiner Stimme heraus.
„Aber er ist wegen mir gestorben. Die Höllenengel haben ihn wegen mir aufgesucht. Und ich habe ihm nicht helfen können. Ich wäre es ihm schuldig gewesen.“ Heiße Tränen liefen ihr über die Wange.
„Du bist also der Meinung, er hätte noch leben sollen?“
„Ja, verdammt“, fauchte sie ihn jetzt an. Als sie schwankte, hielt er sie mit stahlhartem Griff fest.
„Er ist ein Mensch.“
Melody schüttelte den Kopf. Es hatte keinen Sinn mit ihm zu diskutieren. Er würde es nicht verstehen. In den Augen der Engel waren sie die höheren Wesen und etwas Besseres. Die meisten dort oben waren arrogant und die Menschen interessierten sie nicht.
Doch Melody hatte die Menschen kennen und lieben gelernt. Vor allen Dingen Graham, der sie aufgenommen hatte und selbstlos gepflegt hatte. Obwohl er frisch seine Frau verloren hatte, hatte er seinen Schmerz nach hinten geschoben, um für Melody da sein zu können.
„Schaffst du es, alleine zu stehen, oder kippst du um, wenn ich dich loslasse?“
Was für ein arroganter Arsch. „Es wird schon gehen.“
Melody beobachtete, wie Cole sich neben Graham hockte. Dann streckte er eine Hand aus und ein zarter Lichtstrahl erschien. Fassungslos sah sie ihm zu. Er heilte die Wunden und kurz danach konnte sie dessen Herz wieder schlagen hören.
Graham tat einen tiefen Atemzug und öffnete die Augen.
Cole stand auf und wandte sich an sie. „Wie müssen los.“
Graham war mühsam aufgestanden und sah beide an. „Pass gut auf mein Mädchen auf.“
„Sie ist nicht mehr dein Mädchen. Sie gehört mir“, erwiderte Cole kalt.
Melody keuchte auf, doch Graham ließ sich nicht beirren. „Ihr Vertrauen musst du dir erst erarbeiten, dann wird sie dir auch gehören. Denk an meine Worte, Sohn.“
Ein Knurren war die einzige Antwort von Cole, dann nahm er Melody abrupt auf den Arm, breitete seine Flügel aus und mit kräftigen Schlägen stiegen sie schnell auf. Seine weißen Flügel leuchteten im Sonnenlicht.
Sie war die Einzige mit silbernen Flügeln. Erschöpft sackte ihr Kopf an seine Schulter und der Geruch seiner Männlichkeit stieg ihr in die Nase.
„Danke“, konnte sie gerade noch sagen, dann sackte sie wieder weg..
Als sie das nächste Mal wach wurde, war sie ans Bett fixiert. Ihre Hände steckten in breiten Ledergurten und Melody bekam kurz Panik, bis eine Stimme sie aus dem Kampf mit den Gurten riss.
„Ich musste dich auf Geheiß hin fesseln.“
Ihr Blick wanderte hoch und neben dem Bett stand der Mann, den sie beim ersten Mal einfach zur Seite geschubst hatte.
„Er hat es mir aufgetragen. Nicht, dass du wieder flüchtest, hat er gemeint.“
„Flüchten“, schnaubte Melody, „ich bin nicht geflüchtet.“
„Sondern was?“, hörte sie eine Stimme von der Tür her. „Danke Cheap, du kannst gehen.“
Besagter Cheap machte sich blitzschnell aus dem Staub. Man merkte ihm an, dass er nicht gerne in der Nähe von Cole war. Man konnte es ihm kaum verdenken.
Cole trat an ihr Bett und musterte sie. „Du hast meine Frage nicht beantwortet.“
„Wenn du mir auch eine Frage beantwortest.“ Eigentlich fühlte sie sich gar nicht so mutig, obwohl ihre Worte fest herausgekommen waren.
„Du bist nicht in der Position, um Forderungen zu stellen. Also Melody, beantworte mir meine Frage.“
Wenn sie gekonnt hätte, dann hätte sie jetzt bockig die Arme vor der Brust verschränkt, was aber wegen der Fesseln nicht ging. Daher schob sie nur ihre Unterlippe vor und schwieg beharrlich.
Schwer legte sich seine Hand auf ihren Hals und ihre Augen wurden groß. Er würde ihr doch nicht wehtun?
„Sprich endlich, oder muss ich zu anderen Mitteln greifen?“ Er blickte sie aus finsteren Augen an.
„Ich wollte nicht fliehen“, keuchte sie auf. Er lockerte den Griff, damit sie wieder besser Luft bekam. „Ich wusste doch gar nicht, wo ich war. Aber der Zwang, dass mich jemand rief, war überwältigend. Ich musste dorthin.“
Er ließ sie schlagartig los. „Er hat dich gerufen?“
„Erst war es nur ein Zwang, dass irgendetwas wollte, dass ich wach wurde. Immer stärke zerrte es an mir, dass ich irgendwohin sollte. Dann realisierte ich, dass mein Grandpa nach mir rief, dass er meine Hilfe benötigte.“
„Er ist ein Mensch. Du kannst mit keinem Menschen verbunden sein. Und er ist nicht dein Großvater.“ Seine Stimme war eisig geworden.
„Ja, er ist ein Mensch. Und doch habe ich ihn gehört, als er mich brauchte“, brauste sie jetzt wieder auf. „Und auch wenn ich weiß, dass er nicht wirklich mein Großvater ist, so war er es für mich die letzten 50 Jahre.“
Ohne ein weiteres Wort zu sagen, drehte Cole sich um und wollte gehen.
„Hey, Moment mal. Wo willst du hin?“
Mist, das war ihr jetzt nicht gerade rausgerutscht. Er blieb starr stehen. Seine Haltung sprach für unterdrückte Wut und seine Stimme ließ keinen Zweifel aufkommen, dass dem auch so war. „Das geht dich nichts an.“
Oh ja, das fühlte sich jetzt wie ein Schlag ins Gesicht an. Cole rauschte aus dem Raum und direkt danach öffnete sich wieder die Tür und Cheap betrat den Raum.
„Wunderbar, du lebst noch und hast auch keine weiteren Verletzungen davon getragen. Dann wollen wir dich mal losbinden. Er hat es mir dann doch erlaubt.“
Er trat an das Bett und löste die Ledergurte um ihre Handgelenke. Eigentlich hätte sie diese einfach durchreißen können, aber es hatte nicht funktioniert.
„Das ist kein Leder, wie du es von der Erde her kennst.“ Anscheinend hatte der Engel geahnt, was sie gedacht hatte. „Ich bin übrigens Cheap, der Himmelsarzt. Eigentlich tragen Engel keine großen Verletzungen davon, jetzt wo kein Krieg mehr herrscht, schon gar nicht mehr, aber da ich früher als Arzt tätig war, wurde ich zu dir gerufen. Deine Vergiftung ist äußerst selten. Zum Glück hatte ich noch ein Gegenmittel da“, erzählte nun Cheap munter drauf los.
Melody musterte ihn verstohlen. Er sah nicht wie die klassischen Engel aus. Die männlichen Engel waren meist groß, bemuskelt und gutaussehend. Selten fiel da mal einer außer der Reihe. Cheap dagegen war klein, etwas dicklich und auch die arrogante Ader fehlte ihm.
Die Frauen bei den Engeln dagegen waren hochgewachsen, dünn, hübsch und übertrafen teilweise noch die Arroganz der Männer.
Melody hatte die große Statur von ihnen, auch die Schönheit war nicht an ihr vorbeigegangen. Allerdings hatte sie silberne Flügel und war auch schon früher nicht so eiskalt oder arrogant wie die anderen gewesen. Wahrscheinlich war deswegen das Arrangement mit ihr und Cole zustande gekommen.
Er, der eiskalte Krieger, der unter Erzengel Michael diente und vor dem jeder erzitterte, wenn man nur seinen Namen hörte und sie, die sanfte Frau, die ihm sicher wundervolle Kinder schenken würde.
Wobei das mit dem Kinderbekommen eine Sache für sich war. Es hatte schon lange keine Kinder mehr gegeben. Egal was die Engel versucht hatten, keine der Frauen war in den letzten 150 Jahren schwanger geworden.
Melody war eins der letzten Kinder und man versprach sich anscheinend viel von ihr.
„Danke Cheap. Ich bin Melody.“
„Ich weiß, wer du bist. Ich weiß alles über dich.“ Er grinste sie breit an.
„Alles?“
„Natürlich. Ich bin hier der Arzt. Ich kenne die Beschaffenheit deines Blutes, deine psychische Verfassung und deine Jungfräulichkeit. Hey, du brauchst nicht rot zu werden. Ich bin doch der Arzt. Außerdem falle ich voll aus der Rolle. Ich stehe nämlich nicht auf Frauen. Aber sag das keinem, sonst darf ich hier nicht weiter arbeiten.“
Damit er nicht weiter über ihre Jungfräulichkeit sprach und auch nicht über seine sexuelle Ausrichtung, lenkte sie ihn lieber schnell ab. „Was war das für ein Gift?“
„Wie du sicher weißt, können Höllenengel den Himmelsengel nichts anhaben. Im Krieg hatten sie jedoch ein Gift entdeckt, das einen himmlischen Engel schwächte und man ihn so besiegen konnte. Als wir das damals mitbekamen, wurde sofort ein Gegenmittel von mir hergestellt. Jeder Engel hatte das immer bei sich. Irgendwann war der Krieg vorbei und keiner brauchte mehr das Zeug und es geriet in Vergessenheit. Bis zu deinem Fall. Das wird gerade vor dem großen Rat besprochen. Wie es sein kann, dass sich Höllenengel an einem von uns vergreifen. Das ist gegen den Vertrag … bla, bla, bla. Politik halt. Mich interessiert das nicht. Ich finde die Frage, warum du silberne Flügel hast und ob du vielleicht Kinder bekommen kannst, da weit faszinierender.“
Bevor er aber jetzt noch weiter ausholen konnte und Melody wieder in Verlegenheit geriet, wurde die Tür aufgerissen und Cole stand wie der personifizierte Racheengel im Rahmen.
„Ist sie wieder gesund?“
„Äh ja, ich denke schon.“
Cole blickte von Cheap zu ihr. „Dann steh auf, du kommst mit mir.“
Jetzt hätte sie liebend gerne über Jungfräulichkeit, Kinder bekommen und silberne Flügel gesprochen, als mit Cole mitzugehen.
Blass und zittrig stand sie auf und wart sich bewusst, dass sie nur ein weißes Leinenhemd, welches ihr bis zu den Oberschenkeln reichte, trug.
„Beeil dich, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit“, bellte er ihr da schon entgegen.