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Wenn Sex nicht die Antwort ist, was ist dann die Frage?
ОглавлениеVon Mithu M. Sanyal
Als die Fußball-Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland ausgetragen wurde, erreichten die feministische Zeitschrift, für die ich damals arbeitete, nahezu täglich Meldungen von NGOs: 40 000 Frauen sollten von Menschenhändlern nach Deutschland geschleust werden, um den Fans sexuell zu Diensten zu sein. Wir diskutierten Boykottaufrufe und verfolgten mit angehaltenem Atem die Bordellrazzien, die Opfer von Menschenhandel finden sollten, aber nicht finden konnten. Das Bundeskriminalamt war ebenso alarmiert und ging in seinem Jahresbericht explizit auf die Fälle von Menschenhandel mit Bezug zur WM ein. Und jetzt kommt der Clou: Es gab fünf.1 Das sind fünf zu viel, aber 39 995 weniger als erwartet. Nun wird es mit Sicherheit eine Dunkelziffer geben, trotzdem ist die Differenz von 800 000 Prozent unerklärlich. Ist sie das?
Was wir nicht wussten, war, dass die magische Zahl 40 000 bei allen großen Sportevents, wie beispielsweise der WM in Südafrika vier Jahre später oder den Olympischen Spielen in England 2012, erneut zirkulieren würde. Was wir noch viel weniger wussten, war, dass diese Zahl das Geisteskind des rechtsreligiösen amerikanischen Hunt Alternatives Fund war (einer Tochter der Ölfirma HL Hunt, deren Gründer gleichen Namens die Ansicht vertrat, dass Wahlberechtigung in einem direkten Verhältnis zum persönlichen Vermögen stehen solle). Mit Hilfe der Consultingfirma Abt Associates lanciert der Hunt Alternatives Fund Berichte in den Medien, bei denen es ihm, wie er offen in seinem Bericht »Developing a National Action Plan for Eliminating Sex Trafficking«2 zugibt, nicht um verifizierbare Zahlen geht, sondern darum, öffentlichkeitswirksame Events zu nutzen, um Gesetzesentwürfe gegen Prostitution zu befördern.3
Hunt Alternatives Fund ist nur ein Beispiel für die zahlreichen Organisationen, die sich berufen fühlen, Sexarbeiter_innen zu retten. Die Soziologin Laura María Agustín prägte dafür den Terminus »Rescue Industry«. Wegen ihrer Kritik an dem Geschäft mit der Angst vor dem Menschenhandel zum Zweck der Prostitution wird Agustín häufig als Holocaust-Leugnerin beschimpft, was nichts anderes bedeutet, als dass Prostitution mit der systematischen Vernichtung von Juden, Roma und Homosexuellen gleichgesetzt wird. Hier geht es um mehr als unterschiedliche Ansichten darüber, welche Berufe gut sind und welche schlecht. Hier geht es um Leben und Tod. Und seit Alice Schwarzer im Herbst 2013 ihren »Appell gegen Prostitution« in der deutschen Debatte platzen ließ wie eine Stinkbombe, fliegen auch bei uns (wieder) die Fetzen.
An dieser Stelle setzt Melissa Gira Grant ein. Hure spielen ist das Buch, auf das die Leute, die ich kenne und die sich für Sexworker-Rechte einsetzen, gewartet haben. Nicht nur, weil Gira Grant selbst Sexarbeiterin gewesen ist – sie redet von daher nicht »über« andere Menschen –, sondern weil sie die Debatte vom Kopf auf die Füße stellt. Wenn es um Prostitution geht, richtet sich der forschende Blick in der Regel auf die Prostituierten und ihre Freier. Selten kommen diejenigen ins Blickfeld, die das Leben von Sexarbeiter_innen deutlich mehr formen und kontrollieren: Anti-Prostitutions-Pressure-Groups, Politiker, Polizei und Presse. Melissa Gira Grant nimmt diese ins Visier und stellt die Frage: Was motiviert sie? Was bekommen sie für ihr Engagement? Und worauf basieren ihre Überzeugungen?
Abgesehen davon, dass mit der Rettungsindustrie eine Menge Geld zu machen ist, setzen sich die meisten Menschen – davon bin ich überzeugt – aus Sorge ein. Wir müssen nicht darüber diskutieren, dass Sexarbeit – meist – ein prekärer Beruf ist. Aber liegt das am Sex oder daran, dass Sexarbeit zwar legalisiert, aber immer noch stigmatisiert ist? Oder an noch einmal ganz anderen Faktoren wie Geld, Herkunft, Gesundheit etc.? Bei der letzten Podiumsdiskussion, an der ich teilgenommen habe, meldete sich eine Frau aus dem Publikum und erklärte: »Ich verbringe viel Zeit mit meinen Kolleginnen und frage die beim Kaffee, was sie brauchen, und die erste Antwort ist immer: bezahlbarer Wohnraum.«
Wenn Sex nicht die Antwort ist, was ist dann die Frage? Für Grant ist es der Aspekt der Arbeit in dem Wort Sexarbeit. Das hört sich simpel an, ist es aber keineswegs, angesichts des anhaltenden Streits darum, ob Prostitution nun ein Beruf ist wie jeder andere auch. Keine Ahnung: Ist Soldat_in ein Beruf wie jeder andere auch? Ist die Arbeit in einem Atomkraftwerk ein Beruf wie jeder andere auch? Ist Balletttänzer_in ein Beruf wie jeder andere auch? Und was ist mit den ganzen Berufen, von denen ich noch nicht einmal eine Ahnung habe, dass sie existieren?
Menschen, die ich sehr schätze und die mich hoffentlich trotz dieses Vorwortes weiterhin schätzen werden, können nicht verstehen, dass ich als Feministin nicht gegen Prostitution bin.4 Wenn irgendwo ein Bordell gebaut werden soll, erklären Zeitungen und Abgeordnete unisono, dass das »natürlich im höchsten Maße frauenfeindlich«5 sei. Warum natürlich?
Die Überzeugung, dass Prostitution die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern nicht nur untermauere, sondern sogar begründe, verliert dadurch ein wenig an Gewicht, dass es genügend Länder gibt, in denen Prostitution bei hohen Strafen verboten, es mit den Rechten der Frauen aber trotzdem nicht sonderlich weit her ist, wie etwa Saudi-Arabien oder Afghanistan. Aber was ist mit der moderateren Vermutung, dass Sexarbeit die Sexarbeiter_innen nachhaltig schädigt?
Melissa Gira Grant fing mit Sexarbeit an, um ihr Schreiben zu finanzieren. Hätte sie sich emanzipierter gefühlt, wenn sie stattdessen Böden geschrubbt hätte? Sie sagt: Nein, aber sie hätte dann deutlich weniger Zeit an ihrem Computer verbringen können. Was geht es mich an, wie sie oder irgend jemand schreiben oder arbeiten möchte, solange sie dabei niemanden verletzt?
Doch das ist genau das Perfide an Argumentationen wie Alice Schwarzers »Prostitution ist Ausbeutung und zugleich Fortschreibung der traditionell gewachsenen Ungleichheit zwischen Männern und Frauen«.6 Denn damit würde Sexarbeit nicht nur zur Ausbeutung der Sexarbeiterin, sondern machte diese gleichsam zur Ausbeuterin anderer Frauen, weil sie das System von Ausbeutung unterstützte. Konjunktiv. Ergo wäre ein Verbot gerechtfertigt. Immer noch Konjunktiv!
Die Setzung, dass Sexarbeit ausschließlich Unterdrückung von Frauen sei, ist historisch so nicht haltbar. Dazu müssen wir nicht einmal bis ins Altertum und zur Tempelprostitution zurückgehen, über die wir schlicht zu wenig wissen. In Amerika hatten Sexarbeiterinnen im späten 19. Jahrhundert mehr Rechte als der Durchschnitt der weiblichen Bevölkerung (plus ein besseres Einkommen und die Möglichkeit, Eigentum zu besitzen). Meine Lieblingsprotagonistin dieser Zeit ist Mary Ellen Pleasant, besser bekannt als die »Mutter der Menschenrechte in Kalifornien«, die nicht nur eine überaus erfolgreiche Bordellbetreiberin war, sondern auch eine berüchtigte Sklavendiebin, die zahllose Schwarze aus dem Süden des Landes schmuggelte und ihnen durch ihre guten Beziehungen Jobs verschaffte. 1866 und 1868 verklagte sie den Staat Kalifornien, weil sie als schwarze Frau nicht die gleichen Sitze wie Weiße in Straßenbahnen benutzen durfte – und gewann!
Eine andere Frau, die ich bewundere und die Sexarbeiterin war, ist Maya Angelou. Am 28.4.2014 starb die Schriftstellerin, Professorin und Bürgerrechtlerin, und ihre Nachrufschreiber_innen erwähnten beschämt, dass sie als junge Frau Prostituierte (oder hämisch: Zuhälterin) gewesen war. Die einzige Person, die sich nie geschämt hatte, war Maya Angelou. »Was hätte es für unser Selbstwertgefühl bedeutet, wenn ihr wunderbares Mitgefühl für Sexarbeiter_innen besser bekannt gewesen wäre?«, fragt die Bloggerin Peechington Marie. »Maya Angelou hat Sexarbeiter nie abgewertet und ließ sich von übergriffigen und unverschämten Fragen über ihre Vergangenheit niemals einschüchtern. Wie sähe die Sexarbeiter_innen-Community aus, wenn über diese Arbeit genauso gesprochen würde wie über ihr Tanzen mit James Baldwin7 oder ihre beeindruckende Größe von über einem Meter achtzig?«8
Sexarbeit muss nicht degradierend sein, Hure genannt zu werden, ist es in der Regel aber durchaus, erklärt Melissa Gira Grant, weshalb sie dem Hurenstigma ein eigenes Kapitel in diesem Buch widmet. Doch durchdringt das Hurenstigma auch alle anderen Kapitel und Auseinandersetzungen wie ein besonders hartnäckiger Schimmel. Um Redundanzen zu vermeiden, hier nur ein Beispiel: Heute morgen – also nicht heute, wenn Sie dieses Buch lesen, aber leider noch immer aktuell – bekam ich eine E-Mail von der Filmemacherin Ulrike Zimmermann: »Wir haben gerade in Kochel bei einem Seminar Sexarbeit und Medien gedreht – Teilnehmer eines Parallelseminars hatten Probleme, am selben Tisch wie wir zu essen …« Na dann guten Appetit.9
Warum dürfen wir alles Mögliche – Eiscreme, Autos, Waffen – mit Hilfe von Sex(appeal) verkaufen? Aber bloß keinen Sex?
Nun stimme ich dem zu, dass mit unserem auf Geld basierenden Tauschhandel etwas nicht ganz koscher ist. Doch warum wird ausgerechnet Sex von allen anderen Tauschwaren ausgenommen?
Dem schließt sich die berechtigte Frage an: Wer bin ich? Habe ich Erfahrungen aus erster Hand mit Sexarbeit oder warum spreche ich so emphatisch über Dinge, von denen ich keine Ahnung habe? (Womit ich in dieser Debatte natürlich in bester Gesellschaft wäre.) Die Antwort lautet: Ich weiß es nicht. Denn Sexarbeit ist keine Berufsbeschreibung, was spätestens dann auffällt, wenn man sich beim Arbeitsamt nach Ausbildungsmöglichkeiten und Arbeitsrechten erkundigt. Ich habe mein Studium durch Aktphotos finanziert. Zählt das? Wahrscheinlich nicht, da bereits unsere Vorstellungen von Prostitution heteronormativ sind: Ein Mann bezahlt eine Frau, um seinen Penis in eine ihrer Körperöffnungen stecken zu dürfen. Penetration hört sich ja schon so ähnlich an wie Prostitution.
2012 kam The Sessions in die Kinos. Der Film basiert auf der wahren Geschichte des Autors Mark O’Brien, der vom Hals abwärts gelähmt war und von einer Zeitung den Auftrag erhielt, über Surrogatpartner zu schreiben, also Sexualtherapeut_innen, die mit ihren Klienten Sex haben. Seine Schilderungen, wie er zum ersten Mal vor einem Menschen nackt ist, der kein Arzt oder Pfleger ist – zum ersten Mal körperliche Intimität erfährt –, und wie das sein Leben verändert, sind herzzerreißend. Wollen wir das direkt mitverbieten? Oder ist Sex auf Krankenschein (wobei Krankenkassen in Deutschland diese Leistung nicht übernehmen, im Gegensatz zu den Niederlanden und Dänemark) plötzlich nicht mehr schädlich für die Anbieter_innen? Weil das nicht in das Schema passt, dass Männer sexuell Macht über Frauen haben?
Niemand kann haargenau sagen, wo Sexarbeit anfängt und wo sie aufhört – genauso wenig, wie wir sagen können, wo Sex anfängt und wo er aufhört.
Aber wie beim Sex gibt es auch bei der Sexarbeit eine Menge Mythen, angefangen bei:
•Männer brauchen mehr Sex als Frauen
•Männer beuten die Frauen, von denen sie den Sex bekommen, den sie brauchen, aus
•vor allem, wenn sie dafür bezahlen.
(Faszinierenderweise ändert sich an diesem Täter-Opfer-Schema auch dann nichts, wenn Angebot und Nachfrage umgedreht sind:)
•Ein männlicher Sexarbeiter – sprich: Gigolo – nutzt die Bedürftigkeit von Frauen aus.
Wie so viele unserer intimsten Überzeugungen, haben auch diese eine Geschichte. Um den Rahmen eines Vorworts nicht zu sprengen, spare ich mir einen Exkurs über die Konstruktion von männlicher Sexualität als aktiv und weiblicher als passiv von Aristoteles bis Freud und komme direkt auf die Geschlechtsehre: In unserer Kultur wurde die Ehre der Frau traditionell in ihrem Körper verortet, nämlich in ihrer Jungfräulichkeit oder – nachdem sie diese ihrem Ehemann geopfert hatte – in ihrem Status als ehrbarer Ehefrau. Im Gegensatz dazu wurde die Ehre des Mannes im öffentlichen Raum verhandelt, also auf dem Schlachtfeld oder im Beruf. (Entsprechend gab es ehrbare und unehrliche Berufe, was nichts mit ethischen Überlegungen zu tun hatte, sondern mit der gesellschaftlichen Akzeptanz: Schmiede waren ehrbar, Kesselflicker nicht etc.)
Verlor eine Frau ihre Geschlechtsehre – und zwar egal, ob freiwillig oder unfreiwillig –, verlor sie damit ihren Platz in der Gesellschaft, was nicht selten tatsächlich eine Frage von Leben oder Tod war. Während Männerkörper in Kriegen zwar nicht minder ausgebeutet wurden, ihre Ehre allerdings erst dann in Gefahr war, wenn sie sich dem System verweigerten, indem sie beispielsweise desertierten, woraufhin sie ebenfalls – meistens durch Hinrichtung – aus der Gesellschaft ausgeschlossen wurden.
Das ist die gesellschaftliche Tiefengrammatik, mit der in der aktuellen Debatte wieder einmal fröhlich ausgeblendet wird, dass nicht nur Frauen sexuelle Dienstleistungen anbieten – respektive impliziert wird, dass das NUR FÜR FRAUEN ein Problem sei. Das erklärt ebenfalls, warum wir noch immer überzeugt sind, dass Männer ohne Probleme herumvögeln, schließlich haben sie dabei nichts zu verlieren, während Frauen Sex und Liebe nicht auseinanderhalten können – bis auf die irritierenden Sexarbeiterinnen, versteht sich. Kein Wunder, dass Huren lange als gefährliche, die Stabilität der Gesellschaft gefährdende Wesen galten.
Im 19. Jahrhundert wurden Prostituierte als Ansteckungsherde betrachtet, denen die Verbreitung sexuell übertragbarer Krankheiten nahezu im Alleingang zugeschrieben wurde. Frauenrechtlerinnen kämpften gegen die diversen Hygienegesetze10, indem sie die Verantwortung den Männern zuwiesen, die mit Prostituierten Geschlechtsverkehr hatten. So hielt die Prostituierte als Opfer (der männlichen Lüsternheit) Einzug in die Rhetorik. Entsetzt von den dramatischen Arbeitsbedingungen in den Elendsvierteln setzten sich Abolitionist_innen wie beispielsweise Josephine Butler darüber hinaus für die komplette Abschaffung der Prostitution ein.
Der Begriff Abolitionist_in ist nicht zufällig eine Anlehnung an den Abolitionismus – also die Abschaffung der Sklaverei –, mit dem die (amerikanische) Frauenbewegung zu Beginn eng assoziiert war. Doch die gezielte Propaganda, dass schwarze Männer weiße Frauen vergewaltigen würden, womit die Lynchmorde gerechtfertigt wurden11, sorgte dafür, dass ein großer Teil der Abolitionistinnen ihre Energie stattdessen auf die Prostitution richteten und darauf, die Reinheit der (weißen) Frauen zu schützen.12 Mädchenhandel wurde als »white slavery«, also weiße Sklaverei, bezeichnet und mit Bildern händeringender blonder Mädchen illustriert, die von lüsternen schwarzen oder braunen Männern entführt wurden, um in irgendwelchen Harems als Sexsklavinnen zu dienen. Die Angst um die 600 000 Mädchen, die jährlich verkauft würden – eine ähnlich fiktive Zahl wie die 40 000 WM-Menschenhandelsopfer –, führte zur Gründung einer neuen Behörde in den USA, die die Bordelle kontrollierte, um weiße Sexsklavinnen zu finden: das Federal Bureau of Investigation, oder kürzer FBI.
Ab 1904 gab es internationale Abkommen gegen »weiße Sklaverei« mit dem Ziel, alleinstehende Frauen – am besten gleich in ihren Heimatländern – von der Einwanderung in die USA abzuhalten.13 Darin unterscheidet sich der Mädchenhandelsdiskurs damals kaum von dem Menschenhandelsdiskurs heute, bei dem es ebenfalls um die Regulierung von Migration geht und rassistische Stereotype – wie die ungebildete, migrantische Opfer-Frau versus den kriminellen, migrantischen Täter-Mann – fortgeschrieben werden.14 Für »white slavery« ist inzwischen belegt, dass sie nicht annähernd so verbreitet war wie allgemein vermutet. Historiker_innen bezeichnen sie nicht nur deshalb als »moralische Panik«.15
Die Gleichsetzung von Menschenhandel mit Prostitution ist bedenklich. Menschenhandel betrifft weder ausschließlich noch hauptsächlich Prostitution, doch wird über diejenigen Opfer von Menschenhandel, die auf dem Bau oder in der Landwirtschaft placken, unverhältnismäßig weniger berichtet. Dafür wird über Prostitution zunehmend in einem Atemzug mit Menschenhandel gesprochen. So erklärte die EMMA in ihrem »Appell gegen Prostitution«, dass Deutschland seit der Veränderung des Prostitutionsgesetzes 2002 »zu Europas Drehscheibe für Frauenhandel«16 geworden sei. Dabei gibt es keine Zahlen, die belegen, dass die Legalisierung der Prostitution Menschenhandel begünstigt, wohl aber Studien, die zeigen – soweit man das in diesem deregulierten Bereich überhaupt kann –, dass es in Ländern mit restriktiveren Gesetzen, wie dem gerne als Vorbild hochgehaltenen Schweden, keine signifikanten Unterschiede zu Deutschland gibt (0,8 Opfer von Menschenhandel zum Zweck der Prostitution pro 100 000 Einwohner in beiden Ländern im Jahre 2010).17 Was seit der Gesetzesnovelle jedoch durchaus zugenommen hat, ist die mediale Berichterstattung über Menschenhandel, oder anders ausgedrückt: der gefühlte Menschenhandel.
Das »Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Prostituierten« vom 1.1.2002 ist eines der liberalsten weltweit. Seitdem ist Prostitution bei uns nicht mehr sittenwidrig. Die Schaffung von guten Arbeitsbedingungen und die Ausgabe von Kondomen sind nicht mehr als »Förderung der Prostitution« strafbar. Sexarbeiter_innen können sich kranken- und sozialversichern (Steuern bezahlen mussten sie immer schon, so sittenwidrig war Prostitution dann doch nicht), und sie können klagen, wenn sie ihr Geld nicht bekommen. Verbessert hat sich dadurch die Situation der Sexarbeiter_innen und nicht die derjenigen, die sie ausbeuten. Der Paragraf 180 a besagt explizit, dass »mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft« wird, wer »gewerbsmäßig einen Betrieb unterhält oder leitet«, in dem Prostituierte »in persönlicher oder wirtschaftlicher Abhängigkeit gehalten werden«. Dass bisher trotzdem keine Kommission eingerichtet wurde, um beispielsweise Mindeststandards festzulegen, liegt daran, dass alle Parteien Angst vor diesem heißen Eisen haben.
Trotzdem wird mir auf internationalen Konferenzen stets zu der deutschen Gesetzgebung gratuliert, was verblüffend ist, schließlich gehöre ich noch zu der Generation ›Entschuldigung, dass ich aus Deutschland komme‹. Dagegen stimmte das Europaparlament im Februar 2014 zugunsten eines Berichts der britischen Abgeordneten Mary Honneyball, der alle Mitgliedsstaaten auffordert, das schwedische Modell einzuführen. Das auf den ersten Blick schrullig absurd anmutende schwedische Gesetz vom 1.1.1999 verfügt, dass Sex zu verkaufen legal ist, aber Sex zu kaufen illegal.18 Kriminalisiert würden damit nicht die Frauen (sic!), sondern die Freier, erklärt die schwedische Regierung und definiert »Prostitution als Männergewalt gegen Frauen und Kinder«19, vor der sie die Ehre, pardon, die »Integrität der Frau«20 schützen müsse. Ein solches Gesetz kann nur als frauenfreundlich feiern, wer davon ausgeht, dass alle Sexarbeiterinnen zu ihrer Arbeit gezwungen werden, und nur darauf warten, dass ihre Kunden aus Angst vor Bestrafung wegbleiben. Doch erzwungene Prostitution ist auch nach dem deutschen Prostitutionsgesetz illegal, da damit nur die freiwillige Prostitution legalisiert wurde. Und erzwungener Sex – mit oder ohne Bezahlung – ist sowieso keine Prostitution, sondern Vergewaltigung. Worüber wird hier also gesprochen?
Honneyball und ihre »All Party Parliamentary Group on Prostitution and the Global Sex Trade« werden von der homophoben Anti-Abtreibungs-Stiftung »Christian Action Research and Education« (CARE) in Großbritannien finanziert. Die schwedische Regierung hatte sich von einem breiteren Bündnis zu ihrer Gesetzgebung beraten lassen – nur nicht von Sexarbeiter_innen selbst.
Es hat Tradition, Sexarbeiter_innen nicht als autonome Subjekte anzuerkennen, die über ihre eigenen Belange entscheiden können. Ende des 19. / Anfang des 20. Jahrhunderts gingen Eugeniker davon aus, dass ererbte Degeneration und Schwachsinn der Grund dafür sei, dass Frauen sich prostituierten (die Psychopathologie der Prostitution).21 Heute sind sie halt Opfer, die nicht mit ihrer Ratio, sondern mit ihren Körpern kommunizieren à la Alice Schwarzer: »Warum tue ich mir so etwas überhaupt noch an? In einer Runde sitzen mit einer Prostituierten, deren Augen so etwas ganz anderes sagen als ihr Mund.«22 Sobald Sexarbeiter_innen selbst das Wort ergreifen, machen sie sich verdächtig, entweder zur »Prostitutionslobby«23 zu gehören oder – wie Melissa Gira Grant, der stets ihre Universitätsausbildung vorgeworfen wird – keine »echten« Sexarbeiter_innen zu sein. In der Studie »Beyond Gender: An Examination of Exploitation in Sex Work« befragte Suzanne Jenkins von der Keele University in Großbritannien erstmals eine repräsentative Gruppe von 440 Sexarbeiter_innen. Im Gegensatz dazu basieren die Evaluationen des schwedischen Modells auf den Aussagen von sieben aktiven Sexarbeiter_innen und sieben ehemaligen. Die Ergebnisse, zu denen Jenkins kam, waren verblüffend: 35,3 % der Männer und 32,9 % der Frauen, die Sexarbeit machen, hatten Bildungsabschlüsse, mehr als 18 % sogar Hochschulabschlüsse, nur 6,5 % waren ohne Ausbildung.24 Das entspricht ziemlich genau dem gesellschaftlichen Durchschnitt.
Wenn man erst einmal damit anfängt, Sexarbeiter_innen ihre Entscheidungsfähigkeit abzusprechen, was hält einen dann davon ab zu sagen: Frauen wissen einfach nicht, was sie wollen? Vielleicht sollte man ihnen auch andere Wahlmöglichkeiten – zu ihrem eigenen Schutz – vorenthalten, wie beispielsweise das Wahlrecht? Natürlich ist Sexualität kein machtfreier Raum, aber genauso wenig ist es das Gesundheitswesen oder Fernsehgucken oder an der Börse spekulieren. Veränderungen lassen sich nur mit den Menschen erreichen, um die es geht, schließlich sind sie die Expert_innen für ihr eigenes Leben.
Trotz mehrerer Journalist_innenpreise ist die einzige Auszeichnung, die ich mir gerahmt und an die Wand gehängt habe, mein »Aphrodite Award – for sexual service in the community«, geschaffen von der Performancekünstlerin, PostPornKönigin und inzwischen Sexökologin Annie Sprinkle. Ich bin mir sicher, dass Melissa Gira Grant ebenfalls einen Aphrodite Award hat. Aber wenn nicht, nominiere ich sie hiermit für einen!