Читать книгу Hure spielen. Die Arbeit der Sexarbeit - Melissa Gira Grant - Страница 8

1. Die Polizei

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»Eine attraktive blonde Frau betritt ein Hotelzimmer in Fargo.« So fängt es an. »Nach ihr ein Mann mit Schnauzbart und schwarzer Lederjacke. Er fragt, was sie nach Fargo treibt.« Die Blonde mit der tief sitzenden Jeans will sich hinsetzen. Man sieht nur ihre Schulter und den Hinterkopf.

In einem anderen Hotelzimmer schaut ein Mann eine Frau mit langen dunklen Haaren an. Sie sitzt ihm gegenüber und hat sich einen Morgenmantel oder ein Herrenhemd umgelegt, genau kann man es im blendenden Licht der Leselampe nicht erkennen. Er steht auf, zieht seine Boxer-shorts aus und fragt, ob sie ihm auch etwas zeigt. Sie lässt den Morgenmantel oder das Hemd etwas von den Schultern gleiten, dann entschuldigt sie sich: Sie muss sich noch frisch machen.

»Du wirst keinen Grund zur Beschwerde haben«, sagt eine dritte Frau, »das hier ist schließlich mein Job.«

Ein Fernseher ist immer dabei, und es läuft ein Western oder ein klassisches Hollywood-Musical, in dem Männer im Frack tanzen. Vor dem Flachbildschirm sitzen zwei Frauen in Handschellen. Er hat ihnen befohlen, sich zum Verhör zu setzen.

Während er nach den Handgelenken der einen Frau greift, sagt der Mann in der Polizeiuniform: »Wir schließen die Handschellen lieber ab, damit sie dir nicht zu eng werden.« Sie fragt: »Dürfte ich erfahren, was ich Verbotenes getan habe?«

»Ganz ehrlich«, schreibt ein Kommentator bei YouTube unter eines der Videos, »ich hab mir darauf einen runtergeholt.«

Auch wenn sie genauso aussehen wie die Anfangsszenen von Amateurpornos, wird man diese Videos nicht bei YouPorn, PornHub oder RedTube finden. Sie kommen von der Seite JohnTV.com, die angibt, »über 60 Millionen Besuche« zu verzeichnen. JohnTV ist das Projekt von Brian Bates, der sich selbst als »Video Vigilante«, als Ein-Mann-Bürgerwehr mit Kamera bezeichnet. Seit 1996 verfolgt er Frauen, die er im Verdacht hat, »Prostituierte« oder »Huren« zu sein, und filmt sie mit Männern, die seiner Ansicht nach ihre »Freier« (»johns«) sind.

Die Beiträge auf JohnTV sind in Kategorien unterteilt: »Auf frischer Tat ertappt« (»Busts«), »Verdeckte Polizeieinsätze« (»Stings«) und »Zuhälterprofile« (»Pimp Profiles«). Letztere beginnen immer mit einem erkennungsdienstlichen Foto, meistens dem eines Schwarzen, gefolgt von seinem Namen und den ihm vorgeworfenen Vergehen. Bates behauptet, er arbeite »oft mit Streifenpolizisten zusammen« und ermittle gemeinsam »mit dem Sittendezernat in Fällen von Menschenhandel«. Er arbeitet aber auch alleine und verfolgt Menschen auf der Straße, bis zu ihren geparkten Autos und anderswo, wenn er sie für verdächtig hält. Sein Ziel ist es, Männer – und damit auch die Frauen – in flagranti zu erwischen. Für Bates ist die Kamera nicht nur dazu da, Beweismittel zu liefern. Sie ist sein Vorwand, um Frauen zu belästigen, die seiner Ansicht nach Sex verkaufen. Mit den so entstandenen Videos kann er diese Frauen im Internet selbst dann noch anprangern, wenn sie das Gesetz gar nicht übertreten haben.

Die sechs Videos aus Fargo wurden nicht von Bates selbst gedreht. Auf seinem Blog schreibt er begeistert: »Zum ersten Mal war es JohnTV möglich, Videos dieser Art zu bekommen. Normalerweise sieht man so etwas nur massiv zusammengeschnitten in Reality-Formaten im Fernsehen.« Die ungeschnittenen Videos auf JohnTV wurden von einer Nachrichtenwebsite aus North Dakota übernommen, wo sie unter der Überschrift »Unterwegs mit der Polizei bei verdeckten Ermittlungen wegen Prostitution« präsentiert wurden. Diese Aufnahmen wurden nicht von Journalisten produziert, sondern sie stammen vom Fargo Police Department.

Es gibt viel zu sehen in den langen Minuten zwischen Verhandlung über die Tarife und Verhör bei der Polizei, und es wiederholt sich: Der nervöse Kunde fragt, ob er »das ganze Programm« bekommt oder ob es »Extras« gibt, es folgt die einstudierte Ausrede der verdeckten Ermittlerin, sie müsse »nur mal fünf Minuten duschen«, in denen sie Verstärkung rufen kann, und dann das plötzliche, laute Erscheinen von Polizisten in schwarzen Westen und Baseballmützen, die ihre Waffen auf halbnackte Leute richten und ihnen befehlen, sich hinzuknien und die Arme auszustrecken.

Diese verdeckte Ermittlungsarbeit zur Prostitution richtet sich gegen Männer, die Sex kaufen, und Frauen, die Sex verkaufen, oder genauer: Männer und Frauen, die von der Polizei entsprechend verdächtigt werden. Heutzutage beschränkt sich die Arbeit amerikanischer Sittendezernate nicht mehr auf die Streifenarbeit. Polizisten suchen im Internet nach Anzeigen, von denen sie annehmen, sie böten käuflichen Sex an. Dann geben sie sich als potenzielle Kunden aus, vereinbaren Treffen in Hotels und hoffen, eine Verhaftung in der relativ angenehmen Umgebung eines Hotelzimmers mit Gratis-WLAN und einem Eisautomaten auf dem Gang durchführen zu können.

Unabhängig davon, ob solche Videos nun in der Asservatenkammer der Staatsanwaltschaft unter Verschluss liegen, in den Abendnachrichten gesendet werden oder auf der Website einer selbsternannten Bürgerwehr stehen: Sie sind immer selbst eine Strafmaßnahme. Sie sollen sagen: »Wir könnten dich jederzeit verhaften. Auch wenn niemand direkt Zeuge deiner Verhaftung wird, werden alle davon erfahren. Wenn wir deine Verhaftung auf Video aufzeichnen und dieses Video immer wieder angesehen wird, heißt das, dass du jedes Mal wieder verhaftet wirst.«

Die Vereinigten Staaten sind eine der letzten Industrienationen, in denen der Verkauf von Sex nach wie vor verboten ist, und wir Amerikaner müssen uns fragen: Warum sind wir so davon überzeugt, dass es im öffentlichen Interesse ist, sexuelle Transaktionen vorzutäuschen, um Kunden und Anbieter_innen sexueller Dienstleistungen dingfest zu machen? Geht es dabei darum, die öffentliche Ordnung zu stärken beziehungsweise zu schützen, oder darum, Einzelne zu bestrafen?

Vor der Veröffentlichung solcher Verhaftungsvideos wird keine Beweislast abgewogen. Die Frau, die in ihnen zu sehen ist, wird in den Augen der Betrachter und im Gedächtnis der Suchmaschinen von nun an Prostituierte sein. Weil nur sehr wenige der Leute, die wegen Prostitutionsdelikten verhaftet werden, rechtlich gegen diese Anklage vorgehen, wird es auch kein zukünftiges Ereignis geben, das das Verhaftungsvideo aufwiegt und deutlich macht, dass die betroffene Frau nichts »Verbotenes getan« hat, wie es eine der in Fargo Verhafteten formulierte. Die verdeckten Ermittler von der Polizei, die in diesen Videos immer wieder Verhaftungen durchführen, tun den Körpern dieser Frauen dauerhaft Gewalt an. Und auch mit einer Kamera ist diese Gewalt nicht sofort sichtbar.

Ziel solcher Polizeieinsätze ist es, eine Prostituierte zu konstruieren, wo vorher nur eine Frau war. Diese Bloßstellung ist eine gesellschaftlich akzeptierte Praxis zur Disziplinierung von Frauen, die auf einer Gier nach »Recht und Ordnung« fußt. Diese Gier oder Lust liegt auch dem Komplex zugrunde, den ich die »imaginierte Prostituierte« nenne. Diese Figur der imaginierten Prostituierten zieht diejenigen an, die Prostitution kontrollieren, verbieten oder anderweitig von ihr profitieren möchten. Gleichzeitig ist sie aber auch das rhetorische Produkt ihrer Bemühungen. Die treibenden Kräfte hinter dieser Rhetorik wiederum sind Fantasien und Ängste, sowohl sexuelle, als auch bezüglich des Werts menschlichen Lebens.

Angst zu erzeugen ist der Hauptzweck solcher verdeckten Einsätze. Die Durchsetzung ungerechter Gesetze und die Vorbereitung von Prozessen, zu denen es oft ohnehin nicht kommt, sind dabei von nachgeordnetem Interesse. Verhaftungen nach verdeckten Ermittlungen sind nur ein Element in einem ganzen Arsenal von alltäglichen polizeilichen Übergriffen gegen Sexarbeiter_innen und Menschen, die als solche verdächtigt werden. In einer Studie des New Yorker Sozialarbeitsprojekts The Sex Workers Project berichteten beispielsweise 70 Prozent der befragten Sexarbeiter_innen, die auf dem Straßenstrich arbeiteten, von mehr oder weniger täglichen Konflikten mit der Polizei. 30 Prozent gaben an, ihnen sei Gewalt angedroht worden. Wie aber im Abschlussbericht der Studie nachzulesen ist, wurden Straßenprostituierte, die sich deswegen an die Polizei wandten, häufig schlicht ignoriert.

Eine der Befragten, Carol, gab zu Protokoll: »Wenn ich sie [die Polizei] rufe, kommen sie nicht. Wenn ich auf der Straße ein Problem habe, kann ich die vergessen. ›Du musst ja schließlich nicht anschaffen gehen‹, heißt es dann. Nachdem eine Frau von mehreren Männern vergewaltigt wurde, sagten sie: ›Vergiss es, die geht anschaffen.‹ Die Frau sagte darauf: ›Ich hoffe, dass so etwas nie euren Töchtern passiert. Ich bin doch auch ein Mensch.‹«

Jamie erzählte von einem Vorfall, als sie »auf der Straße rumstand und diese Typen in einem Jeep vorbeifuhren … Einer von denen warf eine Flasche nach mir. Ich ging zu den Bullen, und die sagten mir, wir hätten sowieso kein Recht, in dieser Gegend rumzuhängen, weil wir ja wüssten, dass da der Straßenstrich sei. Deshalb wären wir auch selbst schuld, egal, was uns passiert.«

Polizeiliche Übergriffe beschränken sich aber nicht auf den Straßenstrich. Bei einer gleichzeitig vom Sex Workers Project durchgeführten Befragung von Sexarbeiter_innen, die überwiegend in Bordellen oder Wohnungen arbeiteten, gaben 14 Prozent an, Erfahrungen mit Polizeigewalt gemacht zu haben, und 16 Prozent berichteten, dass Polizisten sexuelle Handlungen gefordert hätten.

Diese Studie wurde in New York durchgeführt, wo die Polizei dafür bekannt ist, im Zuge ihrer Arbeit regelmäßig Menschenrechtsverletzungen zu begehen. Weltweit sind Polizeiübergriffe auf Sexarbeiter_innen allerdings ebenso an der Tagesordnung – und ebenfalls gut belegt. Im indischen Bundesstaat Westbengalen führte die Sexarbeiter_innenorganisation Durbar Mahila Samanwaya Committee eine Befragung unter über 21 000 Sexarbeiterinnen durch. Dabei trug das Kollektiv 48 000 Berichte über Fälle von Polizeigewalt zusammen. Dagegen lag die Zahl der Fälle von gewalttätigen Übergriffen von Freiern, die von Prostitutionsgegner_innen häufig als die größte Gefahr für Sexarbeiter_innen dargestellt werden, bei 4 000.

Polizeigewalt gegen Sexarbeiter_innen ist weltweit und anhaltend Realität. Nach dem Zusammenbruch der griechischen Wirtschaft führte die Polizei Razzien in Bordellen durch, nahm Sexarbeiterinnen fest, führte zwangsweise HIV-Tests durch und gab Fotos der Frauen mit der Information über ihren HIV-Status an die Medien weiter. Sowohl das UN-Programm UNAIDS, das verschiedene Maßnahmen zu HIV und AIDS weltweit koordiniert, als auch die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch verurteilten diese Maßnahmen öffentlich. In China wurden verhaftete Sexarbeiterinnen von der Polizei zu sogenannten »Scham-Paraden« gezwungen, bei denen sie in Fußketten durch die Straßen marschieren mussten und dabei fotografiert wurden. Die Polizei veröffentlichte diese Fotos dann selbst im Internet. Darunter befindet sich auch ein Foto, auf dem ein Polizist eine nackte Sexarbeiterin erniedrigt, indem er ihr brutal den Kopf an den Haaren nach hinten zieht und sie so zwingt, der Kamera ihr Gesicht zu zeigen. Der öffentliche Aufschrei, den die massenhafte Verbreitung dieses Bildes im Internet auslöste, führte angeblich zur Aussetzung dieser Praxis öffentlicher Anprangerung. Nichtsdestotrotz führt die chinesische Polizei weiterhin gewalttätige Razzien und Verhaftungen durch.

Es wäre zu hoffen, dass die Verbreitung solcher Fotos und Videos der Öffentlichkeit deutlich macht, wie alltäglich diese Art von gewalttätigen Übergriffen auf Sexarbeiter_innen ist. Aber um wirklich etwas gegen diese Form von Gewalt zu tun, müssten wir uns als Gesellschaft eingestehen, dass wir bestimmte Formen von Gewalt gegen Frauen zulassen, um den sozialen und sexuellen Wert anderer Frauen zu erhalten.

Hure spielen. Die Arbeit der Sexarbeit

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