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Kapitel 4

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Wild entschlossen, ihren Vater heute glücklich zu machen, nahm Grace ihren Platz auf der Bühne ein und gab sich große Mühe mit dem ersten Anbetungslied. Sie mochte Desert Song wirklich, aber sie wusste, dass sie nicht mit vollem Herzen bei der Sache war. Dennoch versuchte sie, ihr Bestes zu geben.

So fügte sie sich in die Band ein und sang die vertrauten Lieder so enthusiastisch, wie es ihr möglich war. Dabei fiel ihr ein gut gekleideter Mann auf, der mindestens zehn Minuten zu spät in die Gemeinde kam. Sie beobachtete, wie er sich etwa in der Mitte des Saales einen Platz suchte. Er musste ein wenig älter als ihr Vater sein. Sie hatte ihn noch nie zuvor in der Gemeinde gesehen. Durchgestylt, wie er war, fiel er hier sofort auf. Er konnte unmöglich aus Homewood sein.

Das Lied war zu Ende, und sie konzentrierte sich darauf, wann ihr Vater ihr das Signal dafür gab, den nächsten Song zu beginnen. Immer noch steckte sie all ihre Energie in das Spielen und Singen der Anbetungslieder – wie es sich für die wohlerzogene Tochter des Anbetungsleiters gehörte. Sie würde ihn glücklich und stolz machen. Sie würde ihr Bestes geben, und vielleicht würde er dann wieder anfangen, ihr zu vertrauen.

Nach der Anbetungszeit trat Pastor Bryant ans Rednerpult, und Grace setzte sich auf ihren Stammplatz ganz links in der ersten Reihe. Sie tat so, als würde sie sich Notizen zur Predigt machen, aber tatsächlich schrieb sie ein paar Liedzeilen auf, die ihr gerade in den Sinn gekommen waren. Dann wurde ihr klar, dass ihr Vater sie wahrscheinlich im Blick hatte, und sie achtete darauf, zu den richtigen Zeiten ihre Bibel aufzuschlagen. Dann war die Predigt auch schon zu Ende, und das Anbetungsteam war mit dem Schlusslied dran.

Wieder nahm sie ihren Platz am Klavier ein und gab alles, um ihrem Vater zu gefallen. Sicher, die Dinge würden hier anders laufen, wenn sie das Sagen hätte. Aber sie hatte nicht das Sagen. Nicht im Anbetungsteam – und auch nicht in ihrem eigenen Leben.

Froh, dass es vorbei war, packte Grace mit betont freundlicher Miene ihre Noten, das Notizbuch und ihre Bibel zusammen, steckte alles in ihre Tasche und wollte schnell verschwinden. Ihr Vater nickte ihr kurz zu – als wolle er sagen, dass es okay war – und packte dann seine Gitarre ein. Als sie gerade die Bühne verlassen wollte, rief jemand: »Johnny Trey!«

Es war der durchgestylte Typ von vorhin, der jetzt auf die Bühne zukam und ihrem Vater zuwinkte, als würde er ihn kennen.

»Mossy?« Ihr Vater klang völlig geschockt.

»Höchstpersönlich, Amigo.« Der Mann wirkte vollkommen souverän und selbstsicher – als wüsste er genau, wer er war, und käme überall zurecht, selbst in einer kleinen Gemeinde in Alabama.

»Komm her, Mann!« Ihr Vater sprang von der Bühne und nahm den Mann in die Arme. »Wie kommst du denn hierher?«

»Lass dich ansehen«, sagte Mr Stylish und musterte ihren Vater von Kopf bis Fuß. »Alt geworden bist du!«

Auch ihre Mutter stieß jetzt dazu. Sie sah so verwundert aus, wie Grace sich fühlte. »Mossy?«, fragte sie ungläubig.

»Da ist sie ja«, sagte der Mann herzlich. »Shelly, Baby.«

Jetzt umarmte er auch Grace’ Mutter. Grace hielt sich im Hintergrund und beobachtete die Szene. Sie hatte keine Ahnung, wer der Mann war und was da gerade vor sich ging.

»Du bist nicht einen Tag älter geworden, Süße«, sagte der Geschniegelte gerade zu ihrer Mutter.

»Oh, vielen Dank für die Blumen«, sagte sie fröhlich.

»Was um alles in der Welt tust du hier, Mensch?«, fragte ihr Vater.

Jetzt nickte der Fremde in Richtung Grace. »Und wer ist dieses junge Talent?«, fragte er ihren Vater.

»Das ist Grace«, erklärte ihr Vater.

Mr Stylish sah perplex aus. »Was?«

»Unsere Tochter«, erklärte ihre Mutter. »Komm her, Grace. Ich möchte dir einen alten Freund vorstellen.«

»Diese wunderschöne Dame ist die kleine Grace?« Er streckte die Hand aus, überlegte es sich dann aber anders und nahm Grace kurz, aber herzlich in die Arme. »Das letzte Mal, als ich dich gesehen habe, hattest du Windeln an.«

»Grace«, sagte ihr Vater, »das hier ist Frank Mostin. Er war mein Manager.« Er lachte. »Er hat deinen alten Vater damals entdeckt.«

»Hi.« Grace lächelte schüchtern.

»Du siehst umwerfend aus.« Wie ihren Vater zuvor musterte Mossy jetzt auch sie von Kopf bis Fuß, doch diesmal sah er zufrieden aus. »Und du hast brillant gespielt!« Er nickte in Richtung der Bühne. »Naturtalent, wie?«

Grace zog eine Grimasse, zuckte gleichgültig mit den Schultern und dankte ihm. Dachte der Typ wirklich, das sei gut gewesen? Verglichen damit, wie sie eigentlich spielen wollte, war die Anbetungszeit ein Witz.

Als ihr klar wurde, dass der Typ sie immer noch musterte, fühlte sie sich plötzlich unwohl.

»Okay«, sagte ihr Vater. »Ich bin komplett überrumpelt. Was führt dich in diese Gegend, Mann?«

»Ich bin einfach so froh, euch mal wiederzusehen. Ihr habt mir gefehlt, und das meine ich ernst.« Er klopfte ihrem Vater auf die Schulter. »Und ich habe aufregende Neuigkeiten. Können wir uns hier irgendwo unterhalten?«

Grace’ Mutter lud Mossy zu ihnen nach Hause ein, und ihr Vater gab ihm eine Wegbeschreibung. Auf dem Nachhauseweg ging es diesen Sonntag mal nicht um das, was in der Gemeinde so gewesen war. Es ging allein um Mossy. Warum er wohl hier war und welche Neuigkeiten er hatte? Ihr Vater schwärmte von der Zusammenarbeit mit Mossy. Seine Begeisterung über die »guten alten Zeiten« war dabei unüberhörbar.

Ihre Mutter verpflichtete Grace dazu, beim Kochen zu helfen, und schon bald hatten sie sich alle in der Essecke versammelt, wo die Gespräche wieder nur um die alten Zeiten kreisten. Trotzdem hörte Grace interessiert zu. Tatsächlich war es amüsant, zu hören, wie Mossy über ihren Vater in jungen Jahren sprach, denn dadurch erschien dieser fast menschlich. Allerdings würgte ihr Vater Mossy ein paar Mal ab, als dieser ein paar ziemlich wilde Geschichten erzählen wollte. Wahrscheinlich, weil seine Tochter zuhörte.

Während Grace und ihre Mutter den Tisch abräumten, plauderten Mossy und ihr Vater munter weiter. »Ich mach das hier fertig«, sagte ihre Mutter. »Bestimmt hast du genug andere Sachen zu tun, Liebes.«

Doch Grace wollte eigentlich lieber bleiben und die doch ziemlich interessante Unterhaltung verfolgen. Da sah sie den Laptop ihrer Mutter auf dem Küchentresen stehen und hatte plötzlich eine Idee. »Hey, hast du dir mal die Monroe-Webseite angesehen?«, fragte sie und wies auf den Computer.

Ihre Mutter lächelte. »In der Tat, das habe ich.« Schnell griff sie sich den Laptop und öffnete ihn. »Ich habe sie sogar gerade offen. Willst du mal sehen?«

»Klar.« Grace setzte sich an den Tresen und gab vor, sich in die Seite zu vertiefen, obwohl sie natürlich sehr genau zuhörte, wie die Unterhaltung weiterging.

»Ja«, sagte ihr Vater gerade. »Wir sind dann durch alle möglichen Gemeinden getingelt. Da hab ich dann meine Geschichte erzählt und …«

»Moment mal«, unterbrach ihn Mossy. »Willst du mir damit sagen, dass du davon leben konntest, Gemeinden abzuklappern und deine Geschichte zu erzählen?«

»Das habe ich jahrelang so gemacht«, erklärte ihr Vater. »Erst haben Grace und ich Musik gemacht, dann habe ich erzählt. Wir sind erst vor ein paar Jahren hierher gezogen.«

»Was du da heute gemacht hast, ist also jetzt dein Job?«

»Genau. Musikpastor. Wir bereiten auch ein Album vor. Ich habe ein paar Songs geschrieben, also … mal sehen.«

»Christliche Songs?« Mossy klang skeptisch.

»Anbetungslieder, ja … Aber mal ernsthaft – du bist doch nicht den ganzen Weg hierhergekommen, um meine Geschichte zu hören.«

»Nein, aber es ist schön, das zu hören. Passt zu dem, weshalb ich hier bin. Also, dass du immer noch Musik machst und schreibst und so. Erinnerst du dich an Larry Reynolds?«

»Klar.«

»Weiß nicht, ob du das mitbekommen hast, aber seit ein paar Monaten ist er der Chef von Sapphire Music.«

Grace sah interessiert vom Laptop auf. Sapphire war Renaes Plattenfirma.

»Das ist toll.« Ihr Vater nickte.

»Ja. Also habe ich meinem alten Freund mal einen Besuch abgestattet, um zu gratulieren und so. Und weißt du, was er als Erstes zu mir sagt? Er fängt an, über die American-Idol-Show in Schweden zu reden.«

Grace bemerkte, dass ihr Vater nicht ganz folgen konnte – kein Wunder, wenn man hinter dem Mond lebte.

»Du weißt gar nichts davon?« Mossy sah überrascht aus.

Ihr Vater zuckte nur mit den Schultern.

»Du bist echt völlig draußen, oder?« Mossy lachte. »Irgendein Jugendlicher hat Misunderstood bei der schwedischen Version von American Idol gesungen und damit gewonnen. Danach wurde es zu einem viralen Video.«

»Welches Video?« Ihr Vater runzelte die Stirn.

»Deins! Dieses Live-Video da. Mehr als hunderttausend Klicks.«

»Wow!« Ihr Vater schien beeindruckt.

»Ja, es kommt alles mal wieder, schätze ich. Jedenfalls sind Larry und ich dann noch einen trinken gegangen, und ehe ich mich versehe, habe ich ein Büro im Gebäude von Sapphire.«

»Das ist toll, Mann!« Ihr Vater klopfte Mossy auf den Rücken. »Gratuliere!«

»Ja, schon toll, wenn Freunde einander helfen. Aber das Beste kommt noch. Bist du bereit?« Mossys Augen funkelten vor Begeisterung. »Er und ich haben uns da was überlegt. Sapphire Music will dir ein Angebot machen.«

Grace war so perplex, dass sie fast vom Hocker fiel. Ihrem Vater wurde ein Plattenvertrag bei Sapphire Music angeboten? Doch nicht im Ernst, oder?

»Zunächst mal als einmalige Sache, aber ich habe ihn dazu überredet, auch eine nationale Tournee einzuplanen, um das neue Album vorzustellen. Was die Songs betrifft, hast du freie Hand. Schreib, was du willst. Nichts Christliches, klar, aber er meinte, solange du Misunderstood auf der Tour singst, wird es ein Selbstläufer.«

»Wow. Das ist …« Ihr Vater rieb sich das Kinn. »Ich fühle mich wirklich geehrt.«

»Das ist ’ne Riesennummer!«, versicherte Mossy ihm. »Und ich brauche dir nicht zu sagen, dass man solche Angebote nicht oft bekommt. Johnny, wir sind wieder dabei!«

»Klingt nach einer Riesenchance …«

»Danke! Ich habe hart dafür gearbeitet.«

»Ich weiß das zu schätzen, Mann. Wirklich.« Ihr Vater seufzte. »Aber ich lehne das Angebot ab, Moss.«

»Was?« Mit einer Mischung aus Gekränktheit und Unverständnis starrte Mossy ihn an.

»Es tut mir leid, dass du extra hergekommen bist und so. Es ist echt schön, dich zu sehen, aber das alles ist einfach nicht mehr mein Ding, weißt du?«

»Nicht mehr dein Ding?« Mossy runzelte die Stirn. »Johnny, du hast dein Leben doch wieder in Ordnung gebracht. Du siehst gut aus. Da gibt’s nichts abzulehnen!«

»Ich hab’s schon kapiert. Wirklich. Aber … ich bin das einfach nicht mehr. Mir gefällt, was ich jetzt mache.«

Dann war es totenstill, und Grace konnte sich nur mit Mühe davon abhalten, aufzuspringen und ihren Vater entsetzt zu fragen, warum er sich eine solche Chance entgehen ließ. Was war bloß los mit dem Mann?

»Ähm … also …« Mossy nickte in Richtung Küche, wo ihre Mutter immer noch zugange war und wo Grace vermeintlich die Monroe-Webseite inspizierte.

»Das ist schon okay«, versicherte ihr Vater. »Sag, was du möchtest.«

Wieder gab es eine lange Pause. Dann fing Mossy wieder an zu reden, dieses Mal leiser. »Weißt du noch, als du in jeder Kneipe oder Bar gespielt hast, solange sie nur ein Mikro hatte? Wer hat dir da eine Chance gegeben?«

»Moss, wir hatten einen tollen Lauf …«

»Oder als du dich bis zur Besinnungslosigkeit besoffen hast und hinter Gittern wieder zu dir kamst? Wer war da für dich da?«

Grace sah, wie ihr Vater ihr einen Blick zuwarf, als wollte er nicht, dass sie all das hörte. Also gab sie weiter vor, ganz in die College-Webseite vertieft zu sein.

»Du hast eine Menge für mich getan, Moss. Deshalb hab ich dir ja meinen Song überlassen. Ich würde dir gerne helfen, Mann …«

»Dann tu es!«

Grace schaute kurz auf und sah, wie ihr Vater langsam den Kopf schüttelte. »Nein.«

»Johnny …«

»Komm schon, Moss, wenn Misunderstood wieder in ist, mach doch einfach ein Remake. Du hast die Rechte an dem Song. Frag doch den Typ von Idol …«

»Johnny, er will dich!«

»Also, sag Larry vielen Dank, aber …«

»Hör zu, ich weiß, dass das alles sehr plötzlich kommt. Lass dir Zeit. Sprich mit Shelly darüber.«

Wieder schüttelte ihr Vater den Kopf. »Tut mir leid, Moss. Ich habe mich entschieden.«

Mossy stand auf. Grace sah, dass er keineswegs glücklich über die Antwort ihres Vaters war, doch er lächelte trotzdem. Er bedankte sich für das Mittagessen und ging.

Es wurde still im Raum. Ihre Mutter befüllte die Spülmaschine, legte ein Tab hinein, klappte sie zu und schaltete die Maschine ein. Grace hatte keine Lust mehr, Interesse an einem College vorzutäuschen, das sie niemals besuchen würde, und klappte leise den Laptop zu. Ohne ein weiteres Wort ging sie in ihr Zimmer.

Sofort startete sie auf ihrem Laptop Misunderstood, den einzigen Hit ihres Vaters. Während der Song lief, googelte sie »Frank Mostin Management« und fand Mossys Webseite. Sie klickte auf seine Biografie und schaute alte Fotos durch, bis sie eins von Mossy und ihrem Vater fand. Beide grinsten und hielten eine Goldene Schallplatte hoch. Die Bildunterschrift lautete: »Frank Mostin und Johnny Trey feiern ihren Top-Ten-Hit Misunderstood.«

Der Song war noch nicht zu Ende, als sie ihre Kopfhörer abnahm und auf ihr Bett warf. Wie konnte ihr Vater nur so dumm sein? Eine solche Chance einfach wegzuwerfen? Was war sein Problem? Vielleicht war er einfach zu anständig. Auf ihn traf die Redewendung »den Kopf in den Wolken tragen« zu. Der Mann mit dem einen großen Hit war so auf den Himmel fixiert, so darauf aus, nur noch Anbetungsmusik zu machen, dass er den Bodenkontakt verloren hatte.

Grace Unplugged

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