Читать книгу Der Capitän des Vultur - Мэри Брэддон, Мэри Элизабет Брэддон - Страница 4

Zweites Capitel.

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Millicent.

Millicent Duke saß an diesem Herbstabend allein in ihrem kleinen Wohnzimmer, während der Nordostwind draußen um das Gebäude heulte,— sie saß allein und versuchte Richardsons letzten Roman zu lesen, einen kleinen, abgegriffenen Band, den ihr die Frau des Pfarrers von Compton geliehen hatte. Aber so sehr sie Richardsons Novellen liebte, so war sie heute doch nicht im Stande, ihre Aufmerksamkeit auf die Erzählung zu concentriren; ihre Gedanken entfernten sich von der armen Clarissa und dem bösen Lovelace, das Buch entsank ihrer Hand und sie verfiel in ein tiefes Nachsinnen. Es lohnt sich wohl der Mühe, auf Mrs. Millicent Duke zu blicken, wie sie ruhig an ihrem einsamen Kamin sitzt, mit der einen weißen Hand ihren kleinen Kopf stützend, während ihr Ellbogen auf der Armlehne des Stuhls ruht, in welchem sie sitzt.

Es ist ein sehr schönes und mädchenhaftes Gesicht« auf dem das wechselnde Licht des Feuers zittert, bald die eine Wange mit einer sanften Röthe beleuchtend, bald sie im Schatten lassend, je nachdem die Flamme emporschießt oder zurücksinkt. Es ist ein sehr schönes und mädchenhaftes Gesicht mit zarten Zügen und dunkelblauen Augen, in deren sanften Tiefen ein Schatten wohnt — ein Schatten wie von langgetrockneten, aber nicht vergessenen Thränen. Es sind auch gedankenvolle Linien um den Mund bemerkbar, die nicht von einer vollkommen glücklichen Jugend Zeugniß geben. Wenn man diesen gedankenvollen Mund und diese traurigen Augen ansieht, so läßt sich unschwer errathen, daß Millicent Duke und Kummer und Sorgen längst Bekanntschaft mit einander gemacht haben. Aber trotz dieser Schwermuth, welche ihre Züge überschattet, oder vielleicht gerade wegen dieser Schwermuth, ist Millicent Duke ein sehr schönes Mädchen. Man kann sie sich nicht leicht als eine verheirathete Frau denken. Ihr Aussehen ist noch so jugendlich, in ihrem Benehmen liegt eine so mädchenhafte, fast kindische Schüchternheit, daß ihr Gatte — kein besonders liebender oder zärtlicher Gatte — zu sagen pflegte: »Millicent ist so schwer wie ein kleines Kind zu behandeln, denn man weiß niemals, ob sie nicht wie ein verzogenes Kind im nächsten Augenblicke in Weinen ausbrechen wird.« Es giebt indeß Leute in Compton, welche sich der Zeit erinnern, wo das verzogene Kind niemals weinte und wo ein Frühlings-Sonnenblick kaum heiterer war als das strahlende Gesicht von Millicent Markham. Aber dies war in den guten alten Tagen, wo ihr Vater, der Squire, noch lebte und wo sie gewohnt war, auf ihrem hübschen weißen Pony die Gegend zu durchstreifen, begleitet und beschützt von ihrem Cousin und theuersten Freunde, Darrell Markham.

Sie ist an diesem kalten Herbstabend ganz besonders traurig. Der scharfe Wind, unter dessen Stößen die Fenster erzittern, macht sie frösteln und sie zieht den schweren Stuhl näher an das niedergebrannte Feuer. Sie hat ihre einzige Magd längst zu Bett geschickt und es fehlt ihr an Material, um das Feuer in dem weiten Kamin zu unterhalten. Die Wachskerzen sind in den alten, silbernen Leuchtern tief heruntergebrannt. Es bat Zehn, Elf, Zwölf auf dem Kirchthurme von Compton geschlagen, aber noch immer ist kein Anzeichen von der Rückkehr des Capitäns.

»Er ist glücklicher bei ihnen, als bei mir,« sagte sie traurig. »Wer kann sich auch darüber wundern? Ihre Reden unterhalten und erheitern ihn; ich kann ihn mit meinem unglücklichem blassen Gesicht nur langweilen.« Sie warf, während sie dieses sprach, einen Blick in den ihr gegenüberhängenden Spiegel, in welchem sie bei dem schwachen Lichte des erlöschenden Feuers und der düster brennenden Kerzen ihr bleiches Gesicht erblickte. »Und doch nannte man mich einst ein hübsches Mädchen,« murmelte sie; »ich hatte Farbe aus meinen Wangen und Darrell pflegte zu sagen, ich habe die Rosen aus dem Garten gestohlen. Ich glaube, er würde mich jetzt kaum mehr erkennen.«

Die lange Stunde nach Mitternacht schlich träge dahin und als es endlich Eins schlug, vernahm sie den scharfen Tritt ihres Mannes auf dem Pflaster der leeren Gasse. Sie sprang rasch von ihrem Stuhle auf und eilte hinaus in den Vorplatz; aber gerade als sie im Begriff war den Riegel zurückzuziehen, hielt sie plötzlich inne und legte die Hand auf’s Herz.

»Was ist’s diesen Abend mit mir?« murmelte sie. »Ich habe das Gefühl, als ob mir ein großer Kummer bevorstände, aber welcher neue Kummer kann mich noch treffen?«

Ihr Mann klopfte mit seinem Schwertgriff ungeduldig an die Thüre, während sie mit zitternder Hand zu öffnen suchte.

»Hattest Du an der Thüre gehorcht, Millicent, weil Du so schnell aufmachst?« fragte er beim Eintritt.

»Ich habe Deine Tritte in der Straße gehört und mich beeilt, Dich einzulassen, George. Du kommst sehr spät,« setzte sie hinzu, während er in das Zimmer trat und sich in den Stuhl warf, in dem sie gesessen hatte.

»Das klingt wie ein Vorwurf,« sagte er spöttisch. »Ich habe allerdings sehr Vieles, was mich zu Hause halten könnte,« murmelte er sich umsehend — »ein weinendes Weib, ein schlechtes Feuer und herabgebrannte Lichter.«

Er wandte seiner Frau den Rücken und beugte sich über die erlöschenden Kohlen, indem er an denselben seine Hände zu wärmen suchte. Seine Frau setzte sich an einen kleinen, polirten Tisch, wo sie den Roman von Richardson wieder aufnehmend, sich den Anschein gab, als sei sie im Lesen vertieft.

Nach einer kleinen Pause sprach der Capitän, ohne sich nach seiner Gefährtin umzuwenden, ohne sie auch nur ein einziges Mal beim Namen anzureden: »Es hat drunten ein Unglück gegeben,« sagte er kurz.

»Ein Unglücks« rief Millicent, ihr Buch weglegend und mit einem Ausdruck von unbestimmter Besorgniß aufblickend. »Ein Unglück! O, das thut mir leid; aber was für ein Unglück?«

Da er ihre Frage nicht beantwortete, so wiederholte sie dieselbe:

»Was für ein Unglück, George?«

»Ein Mann ist auf dem Compton-Moor von Straßenräubern halb ermordet worden.«

»Aber nicht wirklich ermordet worden, George?« Sie war so lebhaft mit ihren eigenen traurigen Gedanken beschäftigt, daß sie dem, was ihr Mann sagte, nur eine halbe Aufmerksamkeit zu schenken vermochte.

»Nein, nicht ermordet, aber fast ermordet; hab’ ich es Dir nicht gesagt?« antwortete der Capitän. »Und ein sehr hübscher, junger Bursche ist es,« setzte er halb zu sich sprechend hinzu — »ein hübscher Mensch mit weißem Gesicht und hellen Haaren. Armer Teufel!«

»Es thut mir sehr leid,« murmelte Millicent halbleise, und da ihr Gatte sich nicht auf seinem Sitze rührte und nichts weiter mehr sagte, nahm sie ihr Buch wieder auf und begann zu lesen. Es trat eine Pause ein, während welcher der Capitän die erlöschenden Kohlen aufstörte. Darauf wendete er sich um und blickte seine Frau scharf an. Nachdem er sie einige Minuten mit einem zornigen Ausdruck in seinen hübschen, braunen Augen beobachtet hatte, sagte er mit einem verächtlichen Lachen:

»Der Himmel segne diese romanlesenden Weiber! Der Tod eines Mitmenschen ist ihnen gar nichts, wenn nur Miß Clarissa mit ihrem Geliebten versöhnt ist und Mistreß Palmela’s Tugend im sechsten Bande belohnt wird! Was Du doch für ein zartes, theilnehmendes Wesen bist! Weinst über Sir Charles Grandison und fragst mich nicht einmal, wer der ist, der im blauen Zimmer des Schwarzen Bären zwischen Leben und Tod liegt.«

Mrs. Duke sah ihren Gatten mit einem bittenden Blicke an, als ob sie an harte Worte und als Erwiderung darauf an Entschuldigungen gewöhnt wäre.

»Ich bitte Dich um Vergebung, George,« sagte sie zögernd. »Ich bin wirklich nicht gefühllos, dieser verwundete, halb sterbende Mann thut mir leid, wer er auch sein mag. Wenn ich ihm einen Dienst leisten könnte, so würde ich es sehr gern thun, was es mir auch kosten möchte. Was kann ich mehr sagen, George?«

»Und man spricht von weiblicher Neugierde,« rief der Capitän mit einem spöttisches Gelächter; »selbst jetzt fragt sie mich nicht, wer der Verwundete ist.«

»Sein Name kann wenig Unterschied in meinem Mitleid für ihn machen, George. Der arme Mensch! Er dauert mich sehr, wer er auch sein mag. Ist er ein Freund von Dir? Ist es Jemand, den ich kenne, George?«

Ihr Gatte wartete einige Augenblicke, ehe er diese Frage beantwortete. Millicent hatte sich von ihrem Sitz erhoben und stand am Tisch mit den Lichtern beschäftigt, welche nahe daran waren, auszugehen. Der Capitän drehte sich in seinem Stuhle um und beobachtete ihr bleiches Gesicht, während er langsam und deutlich sagte:

»Der Mann ist Jemand, den Du kennst, und er ist kein Freund von mir.«

»Wer ist es, George?«

»Dein Cousin, Darrell Markham.«

Sie stieß einen Ruf aus, keinen schrillen Schrei, sondern einen kläglichen Ruf, und erhob ihre Hände zum Kopf. Sie blieb einige Augenblicke in dieser Stellung, ganz still und ruhig, und dann sank sie wieder auf ihren Sitz am Tische nieder. Ihr Mann beobachtete sie die ganze Zeit über mit einem höhnischen Lächeln und einem boshaften Feuer in seinen Augen.

»Darrell, mein Cousin Darrell, todt?«

»Nicht todt, Mistreß Millicent, nicht ganz so schlimm als das. Dein theurer, blonder Cousin mit dem Milchgesicht ist nicht todt, mein süßes, liebendes Weib; er liegt blos im Sterben.«

»Ja dem blauen Zimmer des Schwarzen Bären liegend,« sagte sie, die Worte, die er einige Minuten zuvor gesprochen hatte, in einer verwirrten Weise wiederholend.

»In dem blauen Zimmer des Schwarzen Bären liegend. Ja, im blauen Zimmer, Nummer vier im langen Gang. Du kennst das Gemach gut genug. Warst Du nicht oftmals in dem alten Wirthshaus, um die frühere Haushalterin Deines Vaters, die Wittwe des Matrosen, jetzt die Frau des Wirths, zu besuchen ?«

»Zwischen Tod und Leben schwebend,« wiederholte Millicent in demselben halb bewußtlosen Tone, der so kläglich anzuhören war.

»Er war es! Der Himmel weiß, wie es seht mit ihm steht. Das war vor einer halben Stunde. Die Wage mag seitdem den Ausschlag gegeben haben; er mag todt sein!«

Als George Duke die letzten Worte sprach, sprang seine Frau plötzlich von ihrem Sitze auf und eilte, ohne ihn anzublicken, nach der äußern Thüre. Sie hatte bereits ihre Hand auf dem Riegel, als sie im Tone des Schmerzes ausrief: »O nein, nein, nein!« und auf ihre Kniee niedersank, den Kopf an die Thüre gelehnt.

Der Capitän des Vultur folgte ihr in den Gang hinaus und beobachtete sie mit harten, mitleidslosen Augen.

»Du wolltest also zu ihm eilen?« sagte er, als sie auf ihre Kniee sank.

Zum ersten Male, seit Darrell Markhams Name erwähnt worden war, blickte Millicent ihren Gatten an, nicht traurig, nicht vorwurfsvoll und am wenigsten furchtsam, sondern ihre blauen Augen sahen kühn und trotzig zu ihm empor.

»Ich wollte es.«

»Und warum gehst Du nicht?« Du siehst, ich bin nicht grausam; ich halte Dich nicht auf. Du hast Deine Freiheit. Geh! Geh zu Deinem Cousin und — zu Deinem Geliebten, Mistreß Duke. Soll ich Dir die Thüre öffnen?«

Sie erhob sich mit einiger Anstrengung, noch immer zur Stütze an die Hausthür gelehnt.

»Nein,« sagte sie, »ich will nicht zu ihm gehen, ich könnte ihm von keinem Nutzen sein; ich könnte ihn aufregen, ich könnte ihn tödten!«

Der Capitän biß sich auf die Unterlippe und der triumphirende Blick verschwand aus seinen braunen Augen.

»Aber wisse, George Duke,« sagte sie in einem Tone, der den Ohren ihres Mannes neu war, »es ist nicht die Furcht vor Dir, die mich hier zurückhält, keine Scheu vor Deinen grausamen Worten und noch grausameren Blicken, die mich abhält, an seine Seite zu gehen, denn, wenn ich ihm durch meine Gegenwart nur einen Augenblick des Schmerzes ersparen, oder durch meine Liebe und Aufopferung nur eine Minute Frieden und Trost geben könnte, und wenn die Stadt Compton ein einziges Feuermeer wäre, so würde ich durch die Flammen gehen, um es zu thun.«

»Das ist eine sehr schöne Rede aus einem Roman,« sagte ihr Gatte, »aber ich glaube nicht an solche schöne Reden und ich habe vielleicht meine eigenen guten Gründe, daran zu zweifeln. Wenn Darrell Markham im Sterben nach Dir verlangte, so würdest Du vielleicht zu ihm gehen, besonders,« setzte er mit seinem gewöhnlichen Spott hinzu, »da die Stadt Compton nicht in Flammen steht.«

Millicent sprang auf ihn zu und ergriff mit ihren beiden kleinen, schlanken Händen, die sonst so schwach und in dieser Nacht so stark waren, krampfhaft seinen Arm.

»Hat er, hat er, hat er es gethan ?« rief sie leidenschaftlich; »hat Darrell nach mir verlangt? O, George Duke, bei Deiner Ehre als ein Gentleman, als ein Seemann, als ein Diener Sr. Majestät, bei Deiner Hoffnung auf den Himmel, bei Deinem Glauben an Gott, sage mir, hat Darrell Markham nach mir verlangt?«

Der Capitän ließ sie auf seine Antwort warten, während er nach dem Wohnzimmer zurückkehrte und dort an der flackernden Flamme des großen Leuchters ein kleines Wachslicht anzündete.

»Ich sage nicht Nein und sage nicht Ja,« sagte er. »Ich habe keine Lust, den Boten zwischen Dir und ihm zu machen. Gute Nacht,« setzte er hinzu, an seiner Frau vorüber in den Vorplatz tretend und von dort nach der Treppe gehend. »Wenn Du die ganze Nacht aufbleiben willst, so thue es, Mistreß Duke. Es ist auf den Schlag Zwei und ich bin müde. Gute Nacht!«

Er ging hinaus und in ein kleines Schlafgemach über dem Wohnzimmer. Es war einfach, alter hübsch möblirt und überall herrschte die größte Nettigkeit. Im Kamin brannte noch das Feuer; aber obschon der Capitän fror, so lenkte er doch seine Schritte sofort nach dem Fenster. Er öffnete es sacht und lehnte sich hinaus, während die Uhren Zwei schlugen.

»Ich dachte es mir,« sagte er, als er das leise Oeffnen der Hausthüre vernahm. »Ich wußte es, daß sie zu ihm gehen würde.«

Der schwache Ton eines leichten und schnellen Tritts unterbrach die ruhige Stille der Straße.

»Und die geringste Aufregung kann verderblich für ihn sein,« murmelte der Capitän, während er das Fenster schloß.

Darrell Markham lag in einer todtenähnlichen Betäubung in dem blauen Zimmer des Schwarzen Bären. Mr. Jordan, der Arzt, hatte erklärt, daß es mehrere Tage dauern werde, bis der gebrochene Arm des Patienten wieder eingerichtet werden könne. Mittlerweile war Mrs. Sarah Becker angewiesen, über das geschwollene Glied fortwährend kühlende Umschläge zu machen. Aber in keinem Falle sollte die würdige Matrone den jungen Mann, wenn sein Bewußtsein wieder zurückkehrte, durch Klagen oder Fragen beunruhigen; noch sollte sie bei Gefahr seines Lebens irgend Jemand, mit Ausnahme des Arztes selbst, den Zutritt zu ihm gestatten.

Mrs. Pecker erwiederte daraus, sie möchte sehen, wer es wagen würde, dem Verwundeten zu nahe zu kommen, um ihn zu belästigen oder zu beunruhigen, »denn wenn es der Pfarrer des Kirchspiels selbst wäre,« sagte sie mit Nachdruck, »so müßte er keinen großen Werth auf seine Augen legen, im Falle er es wagen sollte, Sarah Pecker zu hintergehen.«

»Niemand darf in seine Nähe kommen, einmal für allemal und einmal für immer,« setzte Mrs. Pecker scharf hinzu, als sie unten an der großen Treppe auf eine kleine Versammlung von blassen Gesichtern stieß, denn das gesamte Hauspersonal hatte sich um sie gedrängt, als sie von dem Krankenzimmer herunter kam, begierig, Nachrichten von dem Verwundeten zu erhalten, »und ich will Dich nicht haben,« fuhr sie mit besonderer Heftigkeit zu ihrem Herrn und Gebieter, den würdigen Samuel, gewendet, fort, »ich will es nicht haben, daß Du alle Augenblicke mir mit Deinen Fragen in den Weg kommst: »Ist er noch nicht besser, Sarah?« oder: »Denkst Du nicht! daß er davonkommen wird?« und so weiter. Wenn der Arm eines armen, jungen Gentlemans zu Brei zermalmt ist,« setzte sie hinzu, sich an die Uebrigen wendend, »und wenn ein armer, junger Gentleman so viele Stunden in einer kalten Oktobernacht für todt auf einem einsamen Moor gelegen hat, so kann er nicht in zwanzig Minuten oder in einer halben Stunde wiederhergestellt sein. So geht in die Küche und verhaltet Euch ruhig, bis der Eine oder Andere von Euch gebraucht wird, denn Alles, was Master Darrell bedarf, soll er haben. Ja, wenn er die goldene Krone und den Scepter des Königs bedürfte, so müßte Jemand von Euch nach London und sie holen!«

Nachdem Mrs. Pecker auf diese Weise ihren höchsten Willen kund gethan, ging sie wieder die Treppe hinauf und trat in das Krankenzimmer, während der Arzt, der seine Absicht erklärte hatte, die Nacht in dem Gasthause zuzubringen, sich zu einer kurzen Ruhe in einem Nebenzimmer niederlegte.

Mr. Samuel Pecker hatte sich indeß in das kleine Privatgemach neben der Gaststube zurückgezogen, wo er sich am Kamin niedersetzte.

»Ich denke, da Mr. Markham in den Arm geschossen ist und sie wahrscheinlich nicht herunterkommen wird, so könnte ich mich an eine Kanne Bier wagen,« bemerkte der Wirth gedankenvoll.

Die Verlockung war trotz der vorgerückten Stunde zu groß für ihn und nach einigem weiteren Bedenken stand er auf, um das Bier zu holen. Er war eben im Begriff, über den Hausplatz zu geben, als er durch ein leichtes Klopfen an der starken, eichenen Hausthüre, welche für die Nacht geschlossen worden war, aufgehalten wurde. Das Licht wäre fast seinen Händen entsunken.

»Gespenster!« murmelte er, »Compton ist voll von ihnen. Ich hatte sonst geglaubt, sie wären nur auf dem Kirchhof und das war schon schlimm genug; aber jetzt reiten sie Einem geradezu vor die Thüre und stellen allerlei Fragen. Ich bin begierig, was noch aus uns werden soll. Ich wünschte nur, sie suchten Sarah heim. Ihre Nerven würden es vertragen. Ich glaube aber nicht, daß sie zum zweiten Mal kommen würden, wenn sie ihr einmal da, wo sie in ihrer üblen Laune ist, gegenübergetreten wären.«

Das Klopfen wurde etwas lauter wiederholt, während der Wirth aus diese Weise bei sich überlegte.

»Für Geister klopfen sie doch etwas stark und sie sind sehr beharrlich,« sagte Samuel. Das Klopfen dauerte indeß fort und wurde immer lauter. »O, ich werde also doch aufmachen müssen,« murmelte Mr. Pecker mit einem Seufzer; »wenn denn doch Jemand draußen wäre, der herein muß, was würde Sarah sagen, wenn ich ihn nicht einließe?«

Es war wirklich Jemand von Fleisch und Blut draußen, denn als Mr. Pecker langsam und sehr vorsichtig die Riegel zurückgeschoben hatte, schlüpfte eine weibliche Gestalt durch die enge Oeffnung der Thüre und eilte, ehe Mr. Pecker sich von seinem Erstaunen erholt hatte, nach der großen Treppe, die zu dem Zimmer führte, in welchem Darrell Markham lag.«

Ein jäher Schrecken vor der Rache seiner gewichtigen Ehehälfte ergriff den armen Samuel und mit ungewohnter Schnelligkeit lief er der Fremden nach und hielt sie am Fuße der Treppe aus.

»Ihr dürft nicht, Madam,« sagte er, »Ihr dürft nicht, entschuldigt mich, Madam, es kostet mir das Leben — selbst der Pfarrer — ja, Madam, Sarah!« so stammelte der erschrockene und verwirrte Samuel.

Die Frau schlug die große graue Kapuze zurück, die ihr Gesicht verhüllte.

»Kennt Ihr mich nicht, Mr. Pecker ?« fragte sie. »Ich bin es, Millicent, Millicent — Duke.«

»Ihr, Miß Millicent! Ihr, Mrs. Duke! O Miß, o Madam, Euer armer Cousin!«

»Um’s Himmelswillen, Mr. Pecker, haltet mich nicht von ihm fern. Gebt aus dem Weg, geht aus dem Weg,« sagte sie leidenschaftlich, »er stirbt vielleicht, während Ihr hier mit mir sprecht.«

»Aber, Madam, Ihr dürft nicht zu ihm. Der Doktor und Sarah haben es verboten. Sie ist wirklich schrecklich -—«

»Laßt mich durch!« rief Mrs. Duke, »ich sage Euch, ein rasendes Feuer könnte mich nicht aufhalten. Laßt mich durch!«

»Nein, Madam — aber Sarah —«

Millicent Duke streckte ihre zwei schlankem weißen Hände aus und stieß den Wirth mit einer Kraft, die ihr Niemand zugetraut hätte, aus dem Wege. Sie flog die Treppe hinauf nach dem blauen Zimmer, auf dessen Schwelle ihr Mrs. Sarah Pecker entgegentrat.

Das Mädchen fiel aus die Kniee, während ihr aufgelöstes Haar um ihre Schultern wallte.

»Sarah, Sarah, liebe, gute Sarah, laß mich ihn sehen.«

»Nicht Euch, nicht Euch, noch irgend Jemanden,« sagte die Wirthin in entschiedenem Tone — »Euch am wenigsten von allen Personen, Mrs. George Duke.«

Der Name traf sie wie ein Schlag und sie schauderte unter demselben.

»Laßt mich ihn sehen! — laßt mich ihn sehen!« sagte sie, »seines Vatersbruders einzige Tochter, seine nächste Verwandte — seine Spielgenossin — seine theure und liebende Freundin —«

»Die seine Frau hätte werden sollen,« unterbrach sie Mrs. Pecker.

»Ja, die niemals die Frau eines Andern hätte werden sollen, sondern feine liebende, treue und glückliche Frau. Laßt mich ihn sehen!« rief Millicent, ihre gefalteten Hände flehend emporhebend.

»Der Doktor ist im Zimmer, wollt Ihr, daß er Euch hört, Mrs. Duke?«

»Wenn mich die ganze Welt hörte, so würde ich nicht aufhören, Euch zu bitten. Sarah, laß mich meinen Cousin, Darrell Markham, sehen!«

Die Wirthin, die ein Licht in der Hand hielt, wurde, indem sie auf das jammervolle Gesicht und die thränenvollen Augen, die durch das hereinhängende goldene Haar fast geblendet wurden, niederblickte, ein wenig erweicht.

»Miß Millicent,« sagte sie, »der Doktor hat verboten, daß ein sterbliches Geschöpf in seine Nähe kommt — der Doktor hat verboten, daß eine sterbliche Seele ein Wort zu ihm spreche, das ihn beunruhigen und aufregen könnte — und glaubt Ihr, der Anblick Eures Gesichts würde ihn nicht aufregen?«

»Aber er hat mich zu sehen verlangt, Sarah, er hat von mir gesprochen.«

»Wann, Miß Millicent?«

Von Mitleid erfüllt für dieses jammervolle Gesicht, das zu ihr emporblickte, nannte die Wirthin die Tochter ihres verstorbenen Gebieters nicht mehr bei dem neuen, harten und grausamen Namen der Mistreß Duke. »Wann, Miß Millicent?«

»Diesen Abend — diesen Abend, Sarah.

»Master Darrell hätte gewünscht, Euch zu sehen! Wer hat Euch das gesagt?«

»Capitän Duke.«

»Master Darrell hat diesen Abend nicht mehr als ein Dutzend Worte gesprochen, Miß Millicent, und diese Worte waren unsinnige Worte. Er hat nicht ein einziges Mal Euren Namen genannt.«

»Aber mein Mann hat doch gesagt —-«

»Der Canitän schickt Euch also her?«

»Nein, nein, er hat mich nicht hergesendet. Er hat mir gesagt —- oder wenigstens zu verstehen gegeben, daß Darrell von mir gesprochen — daß er mich zu sehen verlangt hat.«

»Euer Mann ist ein seltsamer Herr, Miß Millicent.«

»Laßt mich ihn sehen, Sarah, laßt mich ihn nur sehen. Ich will kein Wort sprechen, keinen Seufzer ausstoßen; laßt mich ihn nur sehen.«

Mrs. Pecker zog sich einige Augenblicke in das blaue Zimmer zurück und flüsterte dem Arzte etwas zu. Nach einigen Minuten kehrte sie in Begleitung des Doktors, welcher die Treppe hinunterging, um in der Küche nach einem Trank zu sehen, den er für seinen Patienten verordnet hatte, zurück.

»Wenn Ihr auf einen leblosen Körper blicken wollt, so könnt Ihr hereinkommen, Miß Millicent, denn er liegt so still wie ein solcher,« sagte Mrs. Pecker.

Sie ergriff das Mädchen beim Arm und führte es in das Zimmer, wo Darrell Markham, einem hellen Kaminfeuer gegenüber, bewußtlos aus einem großen Himmelbett lag. Millicent wankte an die Seite des Lagers, setzte sich in den Armstuhl, den Sarah Pecker bisher eingenommen hatte, ergriff Darrell Markhams Hand und drückte sie an ihre zitternden Lippen. Es schien, als ob etwas Magisches in diesem sanften Druck läge, denn des jungen Mannes Augen öffneten sich seit der Scene in der Halle zum ersten Mal und blickten auf seine Cousine.

»Millicent,« sagte er ohne Ueberraschung, »liebe Millicent, es ist so gut von Dir, daß Du bei mir wachst.«

Sie hatte ihn vor drei Jahren während einer gefährlichen Krankheit gepflegt, und es war kaum auffallend, wenn er in seinem Delirium die Gegenwart mit der Vergangenheit verwechselte, indem er glaubte, daß er sich in seinem alten Zimmer in Compton Hall befände und daß seine Cousine an seinem Bette wache.

»Ruf meinen Onkel, ruf den Squire", sagte er, »ich wünsche ihn zu sehen,« und dann nach einer Pause murmelte er für sich: »das ist doch nicht das alte Zimmer; es muß es Jemand verändert haben.«

»Master Darrell,« rief die Wirthirn »wißt Ihr denn nicht, wo Ihr Euch befindet? Bei Freunden, Muster Darrell, bei treuen und aufrichtigen Freunden. Wißt Ihr denn nicht?«

»Ja, ja,« sagte er, »ich weiß, ich weiß. Ich habe lange in der Kälte draußen gelegen und mein Arm ist verletzt. Ich erinnere mich setzt, Sally, ich erinnere mich; aber ich habe ein sonderbares Gefühl in meinem Kopfe und ich kann nicht sagen, wo ich bin.«

»Seht her, Master Darrell, hier ist Mrs. Duke, die in dieser bitterkalten, finstern Nacht den weiten Weg vom andern Ende der Stadt hierher gekommen ist, um Euch zu sehen.«

Die gute Frau sagte dies, um dem Kranken eine Freude zu machen; aber die Erwähnung des Namens Duke erinnerte den jungen Mann an die Heirath seiner Cousine und er rief mit Bitterkeit aus:

»Mrs. Duke! Ja, ich erinnere mich’s, und dann den Kopf aus dem Kissen umdrehend, sagte er mit plötzlicher Heftigkeit: »Millicent Duke! Millicent Duke, weshalb kommst — Du hierher, um mich mit Deinem Anblick zu peinigen?«

In diesem Augenblicke erhob sich der Ton eines Wortwechsels in dem Hausflur unten, gefolgt von raschen Fußtritten auf der Treppe. Mrs. Pecker eilte nach der Thüre, aber ehe sie dieselbe erreichen konnte, wurde sie heftig aufgerissen und der Capitän des Vultur trat in das Zimmer. Ihm auf dem Fuße folgte der Arzt, der sogleich an das Bett ging, indem er mit halbunterdrücktem Zorn ausrief:

»Ich protestire dagegen, Capitän Duke, und wenn etwas Schlimmes daraus entstehen sollte, so mache ich Euch dafür verantwortlich.«

Der Capitän nahm keine Notiz von der Rede, sondern wandte sich an seine Frau und sagte in rohem Tone:

»Wird es Euch anstehen, mit mir nach Hause zu gehen, Mrs. Millicent? Es ist fast vier Uhr und das Zimmer eines kranken Gentlemans ist zu solcher Zeit kaum ein passender Ort für eine Dame.«

Darrell Markham richtete sich im Bette empor und rief mit krampfhaftem Lachen:

»Ich sage Dir, das ist der Mann, Millicent; Sarah, sieh ihn an. Das ist der Mann, der mich auf Compton Moor angehalten —- der Mann, der mich in den Arm geschossen — der Mann, der mir meine Briefe geraubt hat.«

»Darrell! Darrell!« rief Millicent, »Du weißt nicht, was Du sagst. Der Mann ist mein Gatte.«

»Dein Gatte! Ein Straßenräuber! ein —«

Das Wort, das noch auf Mr. Markhams Lippe war, blieb ungesprochen, denn er fiel bewußtlos auf das Kissen zurück.

»Capitän George Duke,« sagte der Arzt, seine Hand auf den Puls seines Patienten legend, »wenn dieser Mann stirbt, so habt Ihr einen Mord begangen.«


Der Capitän des Vultur

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