Читать книгу Nuvayla 2 - Meryem H. Akgün - Страница 4

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2 | Die Absicht ist die Seele der Tat

Nuvay hörte ein leises Geflüster, doch ihre Augenlider waren so schwer, dass sie sie nicht öffnen wollte und konnte. Sie kam so langsam zu sich und spürte einen leichten Druck auf ihrer Brust. Sie zuckte mit ihrer linken Hand und wollte sich gerade erheben, da spürte sie, wie ihr Körper ganz sanft wieder heruntergedrückt wurde.

»Nuvay, beweg dich nicht!«

War das etwa Simôns Stimme? Sie versuchte, die Augen zu öffnen. Sie brannten. Mit viel Mühe konnte sie aber gerade mal etwas blinzeln. Erkennen konnte sie wegen der Dunkelheit trotzdem nichts.

»Wasch denn?«, murmelte sie verschlafen und schmatzte auf. Ihr Hals war trocken.

»Einfach – nicht – bewegen!« Das war jetzt unverwechselbar Nakims Stimme mit dem befehlerischen Unterton, den er sicherlich von seiner Mutter hatte. Da konnte sie nur gehorchen.

»Es scheint tief und fest zu schlafen.« Das war wieder Simôns Stimme.

»Ich schlafe nicht …«, erwiderte Nuvay müde.

»Wer redet schon von dir! So verschlafen bist du dämlicher als sonst!« Das war eindeutig Nakim. Warum aber waren die beiden Jungs noch wach und warum musste sie leise sein? Und über was redeten diese Jungs? Wer oder was war »es«? Simôn war da, also brauchte sie sich keine Sorgen machen, dachte sie. So versuchte sie wieder einzuschlafen.

»Was machen wir jetzt?«, fragte Simôn. Der Ton in seiner Stimme war anders als sonst.

»Ich hol es da weg!«, mischte sich Kaleb ein.

Natürlich. Zwischen diesen seltsamen Idioten hatte nur noch Kaleb gefehlt.

»Träum weiter! Denkste ich lass zu, dass du sie da begrapschst?«

Warum wollte Kaleb Nakim angrapschen? Diese Jungs waren doch schon eigen.

»Was ist denn los mit euch?« Sie wollte ihren Kopf anheben, aber wurde diesmal etwas unsanfter heruntergedrückt.

»Wenn du dich noch einmal bewegst, werde ich dir alle Knochen einzeln brechen!« Nuvay öffnete genervt die Augen. Also langsam reichte dieser Humbug! Unbändige Wut kam in ihr auf und wollte sie schon übermannen, als sie Simôns Stimme hörte.

»Nuvay? Ich werde ihm echt helfen, wenn du dich nochmal bewegst!«, meinte er bestimmend. Das war neu! Wenn Simôn das sagte, dann hatte das etwas zu bedeuten. Die Wut verschwand genauso schnell, wie sie gekommen war. Sie bekam eine Gänsehaut. Was war denn los? Nakim hatte sie in der Zwischenzeit wieder losgelassen.

»Dann muss Nakim es machen«, sagte Kaleb wieder.

»Nein, Mann! Ich grapsch ihr da nicht hin!«, fuhr ihn Nakim an.

»Nicht so laut, Nakim! Du weckst das Ding noch auf!«, versuchte Simôn die anderen zu warnen.

»Das Ding schläft fester als Nuvay!! Was schon ein Wunder an sich ist!«

»Gefällt ihm wohl dort.«

»Schsschsch! Nicht so laut!«

»So was kann in der ersten Nacht auch nur diesem bekloppten Mädchen passieren. Warum ziehst du so viel Unheil an?«

Nuvays Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit. Sie konnte links von sich Simôns Silhouette ausmachen und der Klotz rechts musste wohl Nakim sein. Kaleb konnte sie jedoch nicht sehen.

»Okay, Nakim. Jetzt beruhig dich wieder! Du bist mit ihr verwandt, also musst du es tun!«, versuchte Simôn Nakim zu überreden.

»Nein, Mann! Niemals!« Seine Stimme wurde zum Ende hin höher. Das bedeutete wohl, dass er es tatsächlich niemals tun würde, was immer sie jetzt auch vorhatten.

»Gut, dann mach ich es!«, ging ihm Kaleb dazwischen und dann sah Nuvay, wie sich Nakims Klotzsilhouette bewegte, und sie hörte einen dumpfen Aufschlag.

»Au! Das tat weh!«, klagte Kaleb.

»Du verdammtes Tier! Ich hab gesagt: Nein!«

»Leute, ich komm grad wirklich nicht mit«, sagte Nuvay leise.

»Ist nicht so schlimm«, meinte Simôn und wandte sich den beiden zu, »Jungs, jetzt hört auf damit!«

»Was denn, er hat angefangen!«, entfuhr es Kaleb etwas lauter.

»Deine Mudda hat angefangen! Idiot!«

»Was hat sie denn damit zu tun?«

»Komm einfach nicht auf dumme Gedanken, du Tier!«

Nuvay seufzte und wollte sich aufrichten, als sie plötzlich innehielt. Ein Blitz der Erkenntnis schlug bei ihr ein. Sie spürte es. Sie konnte es spüren. Sie verstand nun alles. Ihre Müdigkeit war wie weggeblasen, der trübe Schleier um ihren Verstand davongerissen. Das Gewicht auf ihrer Brust zuckte und bewegte sich. Sie wurde nervös.

»Leute …«, ihre Stimme zitterte und sie versuchte, so wenig wie möglich ihre Brust dabei zu bewegen. Ein kalter Angstschauer ergriff sie.

»Was ist daran dumm, ihr Leben retten zu wollen?«

»Drache?«

»Was, Drache?«

»Treib es ja nicht zu weit! Du weißt ganz genau, was ich damit meine!«

»Leute … Da bewegt sich was …« Die Angst übermannte sie immer weiter. Ihr Herzschlag beschleunigte sich und mit jeder noch so kleinen Bewegung, die sie auf ihrer Brust spürte, wurde sie noch panischer. Sie wollte gar nicht wissen, was sich da auf ihrer Brust gemütlich gemacht hatte. Sie wollte gar nicht darüber nachdenken, was passieren könnte.

Jedoch konnte sie die Gedanken, die nun durch ihren Kopf rasten, nicht kontrollieren. War es eine Schlange, die da auf ihrer Brust lag? Ein Skorpion? Eine giftige Echse? Ein giftiger Frosch? Eine Tarantel? Irgendeine giftige Spinnenart? Und dieses Vieh könnte sie beißen, anknabbern, abnagen, stechen, verbrennen, kratzen, pieken, zwicken, ätzen, räuchern oder was auch immer. Es war dunkel. Sie konnte nichts sehen, doch jeden Augenblick hätte etwas passieren können!

Kalter Angstschweiß lief ihr den Nacken entlang. Sie hörte die Stimmen, die um sie herum in einen Streit verwickelt waren, schon gar nicht mehr. Ihr Körper erstarrte. Sie atmete langsam ein, hielt die Luft, solange sie konnte, an und atmete dann wieder langsam aus. Ihr Herz hämmerte gegen die Brust und das machte ihr bloß noch mehr Angst. Sie befürchtete, dass ihr Herzklopfen das Wesen auf ihrer Brust wecken könnte. Die Schweißperlen, die ihr den Rücken entlangliefen, schienen kein Ende zu haben. Sie horchte, witterte, wartete auf eine kleine Bewegung, die vielleicht ihr Tod sein würde …

Ein Zucken. Sie zuckte ebenfalls. Und dann ein weiteres Zucken auf ihrer Brust und dann brannten ihr alle Sicherungen durch. Sie kreischte, so laut ihre Lungen es erlaubten:

»Leute, es bewegt sich!« Der Schock fuhr ihr durch Mark und Bein. Alle um sie herum verstummten. Selbst der Wind hielt inne. Sie hörte eine Bewegung und plötzlich war das Wesen erwacht. Es sah sich um. Es sah, dass alle Blicke auf es gerichtet waren. Nun bemerkten alle, dass es sich bei dem unbekannten Wesen um eine kleine Schlange handelte. Sie ließ sich jedoch trotz des Geschreis und der Blicke nicht weiter aus der Ruhe bringen und kroch gemächlich von Nuvays Brust herunter. Sie ließ sich dabei alle Zeit der Welt. Nuvay hielt die Luft an. Sie war nicht die Einzige, die gerade nicht atmen konnte. Endlich am Boden angekommen, kroch sie gemütlich weiter und gähnte sogar dabei. Ein Stein so groß wie das Drachengebirge in der Nähe ihrer Höhle fiel ihr vom Herzen und sie atmete endlich durch.

»Hä, was war denn das jetzt?«, fragte Kaleb perplex.

Simôn lächelte glücklich und sichtlich erleichtert. »So kann’s auch kommen.«

Nakim rümpfte die Nase. »Zumindest musste sich niemand an Nuvay vergreifen!«

Nuvay warf einen wütenden Blick in die Runde.

»Ihr seid doch alle bescheuert! Und was, wenn das Vieh mich gebissen hätte?«

»Du wärst als Jungfrau gestorben«, meinte Nakim trocken.

Nuvay klappte die Kinnlade herunter. Dann spürte sie, wie die Wut in ihr aufkochte, und diesmal würde auch Simôn sie sicherlich nicht mehr beruhigen können. Diesmal hatte die Wut Verstärkung mitgebracht: die Entrüstung, die Empörung und die Enttäuschung. Nuvay stand urplötzlich auf und sprang Nakim an. Er kam ins Wanken und stürzte mit Nuvay, die sich an ihn geklammert hatte und auf ihn eintrat und einschlug, auf den Boden. Dabei warf sie ihm die schlimmsten Fluchwörter an den Kopf, die sie kannte.

[Da auch Kinder diese Zeilen lesen, werden wir einmal von einer genauen Schilderung absehen. Doch kann ich sagen, dass vielen vielleicht die Ohren davon abgefallen wären oder in unserem Fall die Augen.]

Nakim ließ alles ohne Gegenwehr über sich ergehen. Vermutlich machten ihm die Schläge nichts aus. Nuvay war halt trotz alledem ein dürres Mädchen.

»Krass!«, sagte Kaleb ehrfurchtsvoll, »So wütend habe ich sie noch nie erlebt!«

»Irgendwann musste sie es ja rauslassen«, meinte Simôn.

»Dem König sei Dank, dass sie es nicht auch noch an uns rauslässt. Woher kennt sie all diese Wörter?«, fragte Kaleb weiter. Er sah leicht beängstigt aus.

»Das frage ich mich auch gerade«, sagte Simôn.

»Vielleicht sollten wir uns lieber die Ohren zuhalten. Ich glaube, sie legt jetzt erst richtig los.« Kaleb verzog das Gesicht und sprach leicht verträumt weiter: »Und trotz alledem sieht sie immer noch wunderschön aus.«

Simôn sah ihn überrascht an.

Kaleb grinste verlegen: »Ah ja! Schau sie dir an! Wie eine Kriegerin!« Er lachte auf.

»Wenn du meinst. Für mich sieht sie eher aus wie … hmm …«, Simôn überlegte kurz. »Wie ein wütendes Drachenmädchen«, sagte er dann. Er sah zu Kaleb, der den Kopf schüttelte:

»Nein, du kennst die Drachenmädchen nicht. Die sind viel furchteinflößender.« Kaleb schluckte. »Glaub mir. Die machen einem richtig Angst.«

Simôn musste auflachen. »Du solltest endlich deine Angst gegenüber der Damenwelt besiegen!«

»Du meinst der Drachendamenwelt. Das ist leicht gesagt. Du weißt ja gar nicht, wie schlimm sie sein können.«

Simôn lächelte, hob seine Hand und verwuschelte ihm seine strohigen, weißen Haare. Sie waren genauso hart wie seine, fiel ihm auf.

»Kopf hoch, Drache! Du bist kein Junge mehr, sondern ein Mann … mal in Nakims Worten ausgedrückt. Auch wenn dieser Mann da gerade verdroschen wird.«

»Ist nett von ihm, dass er nichts macht.«

»Ja, Frauen schlägt er nicht mehr. So viel Ehre hat er sich in all den Jahren erarbeitet.«

»Du meinst, das war mal anders?«

»Und wie! Ich weiß gar nicht mehr, wie oft ich Nuvay vor Nakim beschützen musste. Nachdem sein Vater verschwunden ist, fing er an … fürsorglicher zu werden, sag ich mal.«

»Na ja, etwas Gutes hatte es dann doch.«

»Wahrscheinlich.«

»Ich mag ihn eigentlich. Nakim, meinte ich jetzt, nicht seinen Vater.«

»Ich mag ihn auch. Unter all diesem protzigen Getue ist er im Grunde ein richtig guter Mensch. Nur hat er Angst … zu viel Angst.«

»Mag schon sein. Aber wer hat die denn nicht?«

Simôn antwortete nicht. Er sah zu Kaleb. Sein Blick war traurig auf Nuvay und Nakim gerichtet und Simôn konnte noch etwas anderes darin erkennen. Er musste überlegen.

Ja, wer hat schon keine Angst? Und er spürte die seine in sich.

Simôn öffnete die Augen. Die warmen, frühen Sonnenstrahlen blendeten ihn so stark, dass er sie wieder zukneifen musste. Sie schmerzten und tränten. Es war das erste Mal in seinem Leben, dass er im Freien geschlafen hatte und die Sonne ihn weckte. Daran musste er sich definitiv noch gewöhnen. Er murmelte einige unverständliche Wörter und richtete sich dann auf. Der Boden war hart. Niemals hätte er gedacht, dass es so wehtun würde, auf dem harten Boden zu schlafen. Seine Glieder schrien schmerzend auf. Schlaf hatte er diese Nacht nicht wirklich finden können. Daran müsste sein Körper sich wohl ebenfalls gewöhnen. Mit der einen Hand rieb er sich das linke Auge, das immer noch Schwierigkeiten hatte, die Sonnenstrahlen zu verarbeiten, während das andere Auge seine Begleiter überflog. Kaleb lag eingerollt zu seiner Rechten. Er schien tief und fest zu schlafen. Seine weißen Haare lagen zerstreut über seinem blassen Gesicht. Es erweckte den Eindruck von tiefer Seligkeit in Simôn, doch glaubte er zu meinen, dass Kaleb allein bei einem falschen Astknacken aufhorchen konnte und dies auch tun würde. Nakim lag ausgestreckt auf dem Rücken und hatte seine Decke bis über seinen Kopf gezogen – anscheinend störten ihn die Sonnenstrahlen auch – darum lagen aber jetzt seine Füße frei, was ihm jedoch nichts auszumachen schien. Wahrscheinlich hatte er gerade schön warme Füße. Als Simôn dann die Abwesenheit einer Person bemerkte, zuckte ein Schreck durch seinen Körper. Nuvays Platz war leer. Er sah sich schnell um.

»Nakim?«, sagte er barsch. Er knurrte leise unter seiner Decke. Warum musste dieser Junge auch immer solch tierische Geräusche von sich geben? Sein Blick fiel plötzlich auf eine kleine Himbeere, die links von ihm lag. Er sah sie irritiert an. Wie kam die denn dahin? Er sah sich um. Weit und breit waren keine Himbeerbüsche. Dann ging ihm ein Licht auf. War das vielleicht von Nuvay? Er hob es auf und sah den kleinen Zettel, den die Himbeere unter sich verbarg. Da stand eine Nachricht von Nuvay in ihrer unverkennbaren Handschrift. Ein Stein fiel ihm vom Herzen, als er ihre kleine Notiz las.

»Bin kurz weg. Keine Panik!«

Simôn atmete erleichtert auf. Er zog seine Beine an und legte seine Arme um seine Knie. Ein unbewölkter Tag sollte sie heute erwarten. Es schien nicht allzu spät zu sein. Wahrscheinlich neun Uhr.

»Nakim?«, sagte er dann noch einmal. Er knurrte wieder und murrte irgendwas in seine Decke hinein.

»Nakiim?«

»HMM?«, kam es lauter und genervter aus der Decke heraus.

Simôn musste ein Lachen unterdrücken. »Nuvay ist nicht hier«, sagte er matt und erschrak, als Nakim sich wie vom Blitz getroffen aufrichtete und erschrocken umsah.

»Wie, sie ist weg?« Er sah ziemlich furchterregend aus mit seinen strubbeligen Haaren und seinen verzerrten Gesichtszügen.

Auch Kaleb war nun wach und schaute die beiden an. »Sie ist nicht weg!«, sagte er dann und fuhr fort: »Sie hat jedem von euch eine Himbeere und eine Nachricht hinterlassen. Sie zieht ein wenig durch die Gegend. Keine Angst, ich kann sie noch riechen!«

Nakim hob die Himbeere auf und sah den Zettel. Er öffnete ihn, las die Notiz und beruhigte sich wieder. »Mann, hab ich n Schreck bekommen!«, sagte er seufzend.

Simôn schielte auf den Zettel von Nakim. »Steht bei dir dasselbe?«

Er zeigte ihm den Zettel. Und ja, darauf stand dasselbe. Doch dann bemerkte Simôn, dass auch auf der Rückseite des Zettels von Nakim etwas stand. Er drehte die Hand von Nakim ganz vorsichtig um und beide lasen, was Nuvay auf die Rückseite geschrieben hatte. »Hab dich beim Schlafen auf die Wange geküsst.«

Simôn sah grinsend zu Nakim und hätte fast laut losgelacht, hätte er sich nicht vor einigen Schlägen gefürchtet.

»Was?« Nakim wurde rot, ob vor Wut oder Scham, konnte Simôn gerade nicht ausmachen. Nakim zerknüllte den Zettel und schmiss ihn demonstrativ weg. Damit hatte er seinen Standpunkt dargelegt.

Simôn ließ sich von Nakim nicht aus der Ruhe bringen. Er nahm seinen Zettel und schaute auf die Rückseite, ob auch er eine zusätzliche Nachricht hatte. Und ja, sie hatte auch für ihn noch etwas geschrieben. »Du bist süß, wenn du schläfst.« Simôn konnte ein breites Grinsen nicht unterdrücken. Nakim schielte auf den Zettel von Simôn. Er runzelte die Nase und kommentierte es mit »Du Lappen!«.

Das ließ Simôn kalt. »Ah ja, du hast den Kuss bekommen.«

»Halt den Mund!«, befahl Nakim forsch.

Simôn griff bloß nach seiner Himbeere und warf sie sich in den Mund. Sie schmeckte köstlich und er lächelte beim Kauen genüsslich.

»Was soll ich damit machen?«, hörte Simôn Kaleb sagen. Er sah zu ihm hin und erkannte, dass Kaleb eine Beere in die Luft hielt.

»Wie wäre es mit Essen, Kaleb?«, antwortete Simôn und erhob sich langsam. Seine Glieder gehorchten ihm nur widerwillig. Sie waren schwer und schmerzten bei jeder Bewegung.

»Ich bin doch kein Vogel!«. Kaleb verzog das Gesicht und warf der Himbeere einen solchen Blick zu, dass jeder wildfremde Mensch erkannt hätte, was ihm gerade durch den Kopf ging: Wie kann man so etwas nur essen?

»Iss sie trotzdem. Eine vitaminreiche Himbeere wird dich schon nicht umbringen«, meinte Simôn.

»Ich brauch keine Vitamine. Ich bin ein Drache.«

Simôn musste lächeln. Der Junge und sein Drachenego waren wirklich eine Welt für sich. Kaleb sah die Himbeere noch eine Weile an. Er schien schwer zu überlegen. Letztlich seufzte er ergeben und warf sie sich in den Mund. Er kaute auf ihr herum und verzog das Gesicht.

»Bäääh, das schmeckt … süß!«

»Schlucks einfach runter«, forderte Simôn ihn auf. Kaleb schluckte und streckte seine Zunge heraus.

»Wie könnt ihr so was freiwillig essen?«

»Ich mag’s … Schmeckt doch lecker.«

»Sie sind süß!« Kaleb sah ihn verständnislos an. »Wie kann das lecker schmecken?«

Simôn blickte ebenso unverständlich zurück.

»Weißt du, was wirklich lecker schmeckt?«, fragte ihn Kaleb dann und grinste dabei aufgeregt. Simôn schüttelte den Kopf und ahnte schon, dass jetzt etwas Ekelhaftes folgen würde.

»Augen! Frische Tieraugen!«, Kaleb leckte sich die Lippen.

Das übertraf nun doch Simôns Erwartungen. Ihm wurde Übel.

»Junge, lass dich dringend mal therapieren!«, warf Nakim ein.

Kaleb wollte gerade etwas erwidern, da fiel ihm ein bekannter Geruch auf. Er drehte sich prompt um und sagte zu den Anwesenden: »Nuvay kommt!«

»Wird auch langsam Zeit«, war Nakims Antwort. Er hatte schon angefangen, seine Schlafsachen zusammenzupacken.

Kurz darauf kam auch Nuvay schon aus einem Busch heraus. Ihre dunklen Haare lagen offen und nass über ihrer rechten Schulter. Sie hatte rote Wangen und lächelte freudig in die Runde. Sie strahlte wie die Sonne. Vielleicht kam es Simôn auch nur so vor? Sie trug ein Bündel Kleider bei sich.

Nuvay hätte nie gedacht, dass ein gutes Bad ihre Laune so anheben könnte. Früh war sie schon von den warmen Strahlen der Sonne geweckt worden. Sie hatten ihr Energie geschenkt und sie motiviert aufzustehen und etwas zu unternehmen. Erst hatte sie sich Kalebs Einverständnis eingeholt und ist dann etwas durch die Gegend gelaufen. Schon bald hatte sie eine wunderschöne Wasserquelle mit sehr vielen Himbeersträuchern entdeckt. Dass die Jungs noch schliefen, hatte sie ausnutzen wollen und war schnell ins Lager zurückgekehrt, um die Himbeeren und die Notizen zu hinterlassen. Anschließend hatte sie nach frischen Sachen gekramt und sich beeilt, weil sie an dieser wunderschönen Wasserquelle noch ein kleines Bad nehmen wollte.

Nun stand sie frisch und mit lauter Tatendrang vor ihren Reisegefährten. Sie lächelte sie an, begab sich jedoch wortlos zu ihrer Tasche und packte ihre Sachen. Als sie wieder aufsah, bemerkte sie Nakims Blick. Er schien verärgert. Er musste ihre Nachricht gelesen haben, dachte Nuvay. Sie verkniff sich ein Lachen. Nach der Aktion gestern Nacht hatte er das verdient! Doch sie hatte ihn nicht wirklich geküsst. Das hätte sie sich nie getraut. Ein kalter Schauer jagte ihr den Rücken herunter. Schon allein die Vorstellung, dass Nakim aufstehen und sie dabei erwischen könnte, war schrecklich. Wer weiß, was er ihr in so einem verschlafenen Zustand alles antun könnte? Sie schüttelte ihren Kopf, um diese düsteren Gedanken loszuwerden, und sah wieder auf zu Nakim. Er hatte die Augen zusammengekniffen.

»Dieses Mal lass ich es dir durchgehen. Jetzt sind wir quitt! Das nächste Mal bezahlst du mit deinem Leben!« Dabei stopfte er seine Decke demonstrativ aggressiver als nötig in den Rucksack. Nuvay wich leicht zurück.

»Was auch immer!« Hin oder her, das, was sie entdeckt hatte, musste sie den anderen unbedingt zeigen. »Ich muss euch was zeigen! Kommt mit!«, sagte sie in die Runde und sah sie strahlend an.

»Den Wasserfall, den du gefunden hast?«, fragte Kaleb.

»Jetzt verrat doch nicht gleich alles!«, fuhr Nuvay ihn an und blies ihre Backen auf.

Kaleb zuckte mit seinen Schultern: »Tschuldigung.«

»Macht nichts!«, sagte Nuvay und lächelte ihn an. Heute wollte sie sich ihre Laune von nichts und niemanden verderben lassen. Dann griff sie nach der Hand von Kaleb und wollte ihn zu dem besagten Ort lotsen, als Nakim dazwischenging: »Keiner geht Händchen haltend mit ihr irgendwo hin!«

Nuvay sah ihn ausdruckslos an. »Okay.«

Dann ließ sie Kaleb wieder los, stemmte ihre Hand in ihre Hüfte und machte mit ihrem Kopf Andeutungen, dass sie ihr folgen sollten.

»Na los! Wer den schönsten Ort auf Erden sehen will, der folge mir jetzt!«, sagte sie und schlug sich stolz auf die Brust. Anschließend drehte sie sich um und marschierte los, wobei sie sich wirklich wie ein Soldat bewegte.

»Mir nach, Fußvolk!«, rief sie freudig aus.

»Übertreib nicht, Nuvay«, hörte sie Nakims mahnende Stimme hinter sich. Sie schluckte und lief wieder normal.

»Du solltest aufhören, ihr alles zu verbieten, Nakim«, sagte Simôn.

»Wer bist du? Ihre Mutter?«, schoss Nakim zurück.

»Mann! Du nervst heute wieder!«, moserte Simôn, wendete sich dann Nuvay zu und fragte sie: »Wo genau ist deine Entdeckung?«

»Gleich hier links und dann immer gerade aus!«, sagte sie stolz und begleitete ihre Wörter in der Luft mit ihren Händen.

»Hast du wegen der vielen Schlangen oder anderer gefährlicher Tiere im Wasser denn auch aufgepasst?«, hörte sie Kaleb fragen.

Sie verzog kurz ihren Mund und blickte schnell wieder weg. »Hab keine gesehen«, fügte sie dann schnell piepsig hinzu und beschleunigte dabei ihre Schritte. Sie wäre auch nicht im Traum darauf gekommen, auf so etwas zu achten. Von weit her hörte sie schon das wohlige Plätschern des Wassers.

»Hast du überhaupt nachgeschaut?«, hakte Kaleb noch mal nach.

Es kam keine Antwort.

»Nuvay, du bist manchmal dumm wie Brot!«, fuhr Nakim sie wieder an. Bei dem kleinsten Fehler ihrerseits fiel er über sie her. Woher er auch immer diese pädagogische Ader hatte, seine Kinder taten ihr jetzt schon leid.

Die Geräusche des Wassers waren nun ganz nah. Der Geruch von feuchtem Gras lag schon in der Luft.

»Da ist es!« Sie blieb auf der Stelle stehen und drehte sich theatralisch nach hinten. Dabei achtete sie penibel darauf, nicht zu übertreiben, damit sie sich nicht wieder einen blöden Spruch von Nakim einfing. Sie standen vor einer Blätterwand. Nakim und Simôn wechselten fragende Blicke. Sie sah grinsend zu ihnen, hob ihren Arm und drückte den Blättervorhang zur Seite. Ein kleiner, geradezu traumhafter Wasserfall zeigte sich den Zuschauern.

»Wow«, sagte Kaleb, »das sieht ja wunderschön aus!«

Simôn löste sich als Erster aus der Starre, in die der Anblick alle versetzte. Er ging an Nuvay vorbei und tätschelte sie freundschaftlich und sanft auf den Kopf. Eine wohlige Wärme stieg in ihr auf.

»Wundervoller Fund!«, sagte Simôn und lächelte. Sein Blick war dabei wie verzaubert auf den Wasserfall gerichtet. Dann bückte er sich leicht und durchschritt den Blättervorhang. Als Nächstes bewegte sich Kaleb. Er grinste Nuvay an und versuchte wie Simôn, Nuvay am Kopf zu tätscheln. Dabei ahmte er alle Bewegungen von Simôn nach. Jedoch war sein Tätscheln nicht so sanft wie Simôns zuvor, eher etwas unbeholfen. Nuvay blinzelte irritiert und erwiderte dann sein Lächeln. Kaleb verschwand ebenfalls auf die andere Seite des Blättervorhangs. Seltsamer Bursche, ging es ihr noch einmal durch den Kopf. Es blieb nur noch Nakim übrig. Sie schluckte, als endlich auch er losging. Er hielt auch kurz vor ihr an und legte ebenfalls seine Hand auf ihren Schopf. Nur tätschelte er sie nicht, wie die beiden anderen zuvor, sondern sah sie mit einem drohenden Blick von oben herab an. Sein Griff wurde etwas fester.

»Bete, dass nichts Gefährliches da drinnen herumschwimmt!«

Nuvay lachte nervös. Das war eindeutig kein Lob, sondern eine Drohung. Die Wärme, die eben noch in ihr aufgestiegen war, wich einer Kälte. Sie versuchte so gut es ging, sich nichts anmerken zu lassen, und hielt ihr schiefes Grinsen aufrecht. Nakim lief durch die Blätter und verschwand aus ihrer Sicht. Nuvay seufzte schwer. Warum war dieser Junge bloß immer so grob, taktlos und aggressiv?

»Das hab ich gehört!«, hörte sie ihn von der anderen Seite sagen. Sie zuckte zusammen. Meinte er jetzt ihre Gedanken oder ihr Seufzen? Wahrscheinlich beides. Nein, sicherlich beides! Sie fühlte sich unwohl in seiner Nähe.

Sie atmete tief ein, sammelte ihren zerstreuten Mut zusammen und lief ebenfalls durch. Die Blätter waren noch ein wenig feucht, wahrscheinlich vom Morgentau. Beim Vorbeilaufen wurde sie ein wenig nass. Sie strich sich gerade die Wassertröpfchen aus ihrem Gesicht, als ihr Blick stolz auf ihrem Fund haften blieb. Es war ein nicht allzu großer Wasserfall, vielleicht dreimal so groß wie Nakim. Entlang des fallenden Wassers war sanftes, dunkelgrünes Moos auf dem Gestein. Es leuchtete in der Morgensonne wonnig auf und zauberte ihr ein Lächeln ins Gesicht. Das Wasser war wundervoll klar und spiegelte freudig die Sonnenstrahlen wider. Das Auffangbecken, in welches das Wasser plätscherte, und das Flussbett, in das sich das Wasser anschließend ergoss, waren von Pflanzen und Blumen in unterschiedlichen Grüntönen umgeben. Schicht für Schicht legten sie sich um das Wasser, aber berührten es nicht. Kleine bunte Fische schwammen in den zarten Strömungen. Sie waren nicht gefährlich. Zumindest hatten sie Nuvay nichts getan. Sie hoffte, dass sie sich auch an keinem der drei Jungen vergreifen würden. Sie schritt zum Wasser und steckte ihre Füße hinein. Es war angenehm kühl. Sie musste lächeln. So stellte sie sich ein Teil vom Himmelsgarten vor. Natürlich war das Bild nur perfekt mit ihren Füßen darin. Sie lächelte verträumt, als sie Simôns Stimme hörte.

»Los, Wettrennen zum Wasserfall!«, und dabei zog er sich sein Oberteil aus und knüpfte gerade seine Hose auf, als sich Nakim einmischte:

»Pah, träum weiter, wenn du denkst, dass du gewinnst!«

Er lachte auf und zog sich in einem Schwung ebenfalls sein Oberteil aus, warf es auf den Boden und machte sich nun an seiner Hose zu schaffen.

So wie sie heute Morgen in Ruhe gebadet hatte, wollte sie auch die Jungs nicht stören oder sie in Verlegenheit bringen. Also dachte sie, dass es eine gute Idee wäre, sie eine Weile allein zu lassen.

Simôn lachte ebenfalls. Er beeilte sich. Nakim hatte sich schon von seiner Hose befreit und sprintete in seiner Unterhose zum Wasserfall. Doch dann blickte Nakim kurz nach hinten, um zu schauen, wo der Drache abgeblieben war. Schockiert von dem, was er sah, rutschte er aus und landete mit einem lauten Plumps im Wasser. Simôn verfolgte seinen Blick und erkannte, dass Kaleb gerade dabei war, seine Unterhose auszuziehen.

»Ähm, Kaleb, nein!«, sagte er noch, als sich Nakim wieder blitzartig aus dem Wasser erhob. Er sah nach unten, wobei er mit seinem Finger auf Kaleb zeigte. »Junge! Das da will niemand sehen!«

Kaleb hielt inne – seine Unterhose hatte er noch nicht heruntergezogen – und sah Simôn an. Seine blauen Augen leuchteten fragend auf. Simôn sah ihn missmutig an. Wann würde er es endlich lernen?

»Lass es einfach an«, sagte er dann seufzend und auch ein wenig verlegen. Kaleb blies seine Backen auf.

»Noch nicht einmal beim Baden?«, fragte er enttäuscht.

»Untersteh dich, Junge!«, keifte Nakim ihn an.

Simôn bewegte sich währenddessen unauffällig zum Wasserfall.

»Boah, ist das ätzend!«, klagte Kaleb.

»Ja, ja, überspring die Leier! Was können wir dafür, wenn dir dein Schamgefühl abhandengekommen ist!«, entgegnete Nakim. Simôn bewegte sich noch einige Schritte weiter. Langsam, damit es niemandem auffiel. Immer einen Schritt nach dem anderen, tiefer in das kühle Wasser hinein.

»Was soll ich mit so einem Ding?«, erwiderte Kaleb und meinte anscheinend sein Schamgefühl.

»Es verhindert, dass ich dir weh tu!«, antwortete Nakim mit drohenden Fäusten. Simôn glitt immer weiter über das weiche Moos unter seinen Füßen. Das Wasser stand ihm nun bis zu den Knien. Er beobachtete die beiden aufmerksam und konnte sich ein Grinsen nur schwer verkneifen.

»Als ob du …«, fing Kaleb mit einer angehobenen Augenbraue an. Dann glitt sein Blick aber zu Simôn und er hielt abrupt inne. Nun folgte Nakim Kalebs Blick und musste breit grinsen.

»Du Fuchs, du!«

Simôn lachte und dann liefen alle drei wie auf Kommando los. Kaleb stürzte sich kopfüber ins Wasser. Simôn hatte einen leichten Vorsprung, den Nakim und Kaleb aber schnell aufholten. Sie waren nun tiefer im Wasser, sodass sie nicht mehr laufen konnten. Wettschwimmen war angesagt. Es lagen noch einige Meter vor ihnen bis zum Wasserfall, da wurde Simôn plötzlich am Knöchel gepackt und ruckartig nach hinten gezogen, wobei er Wasser schluckte. Tiefer und tiefer wurde er ins Wasser gedrückt. Plötzlich spürte er, wie jemand auf seine Unterschenkel trat, dann auf seine Oberschenkel und er wurde noch tiefer ins Wasser gedrückt. Die gleichen Füße spürte er dann auf seinem Rücken und zuletzt auf seinem Kopf, die ihn tief bis zum Boden des Flusses drückten. Jetzt übertrieb Nakim aber, dachte Simôn, als er sich wieder aufrichtete und an die Wasseroberfläche schwamm. Er holte tief Luft und sah, wie sich vor ihm ein weißer Schopf zum Wasserfall vordrängte.

»Simôn, reiß ihm seine dürren Beine raus! Dieses Tier darf nicht gewinnen! Niemals!«, hörte er Nakim sagen, der gerade an ihm vorbeischwamm und Kaleb ins Wasser drückte. Nur gab sich Kaleb nicht so schnell geschlagen wie vielleicht Simôn. Er konnte nicht genau sehen, was Kaleb tat, doch wahrscheinlich hatte er sich im Wasser gedreht und zog nun seinerseits Nakim ins Wasser. Simôn nutzte diese Situation aus und schwamm weiter. Sollten die beiden sich doch prügeln. Sowohl Nakim als auch Kaleb tauchten kurz an der Wasseroberfläche auf, um einander zu beleidigen.

»Du Drecksbalg!«, hörte Simôn Nakim rufen.

»Guck dich mal an!«, gab ihm Kaleb zurück und dann ging ihr Gefecht für kurze Zeit unter Wasser weiter. Simôn war nur noch einen Meter vom Wasserfall entfernt.

Nakim peitschte mit Kaleb auf den Schultern aus dem Wasser. »Wenn ich du wäre, dann würde ich aufgeben!«, schrie er und warf Kaleb wieder mit einem lauten Klatscher ins Wasser zurück. Kaleb tauchte schnell wieder auf und sah Nakim abwertend an.

»Und wenn ich du wäre, wäre ich hässlich!«

Nakim klatschte eine Wassersalve in seine Richtung, unter der sich Kaleb ins Wasser rettete. Als er wieder aus dem Wasser geschossen kam, um sich erneut auf Nakim zu stürzen, räusperte sich Simôn laut. Beide erstarrten in ihren Bewegungen und wendeten die Köpfe blitzschnell zu ihm. Er stand am Wasserfall mit dem Oberkörper zu den beiden Jungs gerichtet und streckte seinen Arm aus. Dort schien er wieder stehen zu können. Simôn grinste. »Gewonnen«, sagte er laut und fügte in Gedanken hinzu: »Dank eurer Dummheit.«

Kaleb und Nakim sahen ihn enttäuscht an.

»Wenigstens hat das Vieh hier nicht gewonnen«, sagte Nakim. Dafür kassierte er Wasserspritzer ins Gesicht. Lange ließ er nicht auf die Antwort warten. Er packte Kaleb am weißen Schopf und drückte ihn ins Wasser. Simôn schüttelte bloß den Kopf über die beiden unbelehrbaren Kinder. Das konnte noch ein wenig dauern mit denen. So stellte er sich unter den Wasserfall und schloss die Augen. Dann legte er den Kopf in den Nacken, um das Wasser auch im Gesicht zu spüren. Die Wassermassen schlugen hart und druckvoll auf seinen Körper ein. Doch für Simôn waren sie beruhigend. Seine Muskeln entspannten sich unter dem ständig wechselnden Druck des Wassers. Es war wie eine Massage.

»Si… moon…«, hörte er Kaleb blubbern. Er überlegte kurz, ob er sich stören lassen sollte, doch verneinte er den Gedanken schnell wieder. Wie es wohl sein würde, auf dem Wasserfall zu stehen, ging es ihm durch den Kopf und er öffnete seine Augen und sah seine Begleiter an.

Nakim hatte Kaleb gerade im Schwitzkasten und drückte ihn immer wieder ins Wasser. Simôn kam es so vor, als würde es Kaleb gefallen. Er wusste nicht wirklich, wie stark Kaleb war, aber immerhin war er ein Halbdrache und nach seinen eigenen Worten stärker als Menschen und Drachen gemeinsam. Also entweder hatte er gelogen oder diese Rauferei gefiel ihm. Und auch Nakim schien es Spaß zu machen. Anders konnte er sich das breite Grinsen auf seinem Gesicht nicht erklären. Seltsam waren die Menschen doch manchmal und zeigten auf noch seltsamere Weise ihre Zuneigung zueinander. Simôn musste lächeln. Wenigstens mochten die beiden einander.

Dann sah er nach oben und überlegte, wie er dort hochkommen konnte. Er fasste an die mit Moos bewachsenen Steine und unternahm einen Versuch, sich an ihnen hochzuziehen. Sie waren sehr rutschig, doch es gelang ihm. Das Klatschen des Wassers auf seinen Körper von über sechs Metern machte die Sache zu einer Herausforderung, die Simôn liebend gerne annahm. Gegen die fallenden Wassermassen ankämpfend, stemmte er sich an die Steine geklammert ein Stück hoch. Dann hob er ein Bein an und suchte damit etwas höher einen festen Halt, den er leicht fand. So drückte er sich noch ein Stück höher. Er grinste innerlich. Ob das Nuvay auch ausprobiert hatte? Und wenn ja, wie hoch war sie wohl gekommen? Das kühle Wasser bretterte auf seinen freien Oberkörper und erschwerte ihm die Arbeit. Hinzu kam das feuchte Moos unter seinen Händen und Füßen, das ihm den Halt erschwerte. Doch tapfer kämpfte er sich weiter voran. Plötzlich spürte er einen Griff am Fußknöchel. Er seufzte, denn er wusste, was jetzt kommen würde. Mit einem Ruck wurde er nach unten gezogen und landete mit einem lauten Klatschen wieder im Wasser.

»Verdient, linke Ratte!«, hörte er Nakims Stimme unter Wasser. Er tauchte wieder auf. Kaleb grinste ihn an.

»Willst du den ganzen Spaß für dich alleine?«

Simôn spuckte Wasser: »Habt ihr genug gekuschelt?« Für diesen Spruch wurde er von Nakim unter Wasser gedrückt. Simôn musste lachen, weshalb er seine gesamte Luft schnell aufbrauchte. Nakim ließ seinen Kopf jedoch nicht los.

Kaleb stürzte sich heldenhaft wieder auf Nakim und rief dabei: »Er ersäuft gleich! Lass ihn los!« Endlich kam Simôn wieder frei und schnappte erst einmal tief nach Luft.

»Du wolltest es nicht anders«, sagte Nakim.

Auch Simôn stürzte sich nun auf Nakim. Nakim brüllte auf, als er sah, dass beide sich gegen ihn verschworen hatten. Es wurde eine richtige Schlacht, und am Ende gewann – niemand. Sie ließen bloß erschöpft voneinander ab und sahen sich den Wasserfall genauer an.

»Da wolltest du hoch?«, fragte ihn Nakim.

»Warum steigst du nicht an der Seite hoch? Da ist es nicht so nass«, meinte Kaleb. Simôn lächelte ihn an. »Wo bleibt da der Spaß?«

Kaleb erwiderte sein Lächeln.

»Gut«, sagte Nakim, »Dann wollen wir da mal wie richtige Männer rauf, würd ich sagen!«

»Kein Wettrennen!«, warf Kaleb noch ein.

»Jepp, wir wollen da einfach nur hoch!«, meinte Simôn. Und sie machten sich an den Aufstieg. Kaleb war diesmal als Erster oben, dicht gefolgt von Nakim und danach kam Simôn an. Nakim reichte ihm die Hand und Simôn wurde das letzte Stück hochgezogen. Sie stemmten sich auf einen großen Felsen, den das Wasser umfloss. Direkt vor ihnen ging es sechs bis sieben Meter abwärts. Sie setzten sich an die Kante, an der das Wasser hinabstürzte. Von hier oben sah alles noch viel schöner aus. Das Wasser schimmerte in einem kräftigen Grün und die Sonne stand im Zenit. Sie erwärmte ihre kalten und müden Muskeln. Es tat gut.

»So schön!«, sagte Kaleb, »Ich bin noch nie einen Wasserfall hochgeklettert.«

Er saß zwischen Nakim und Simôn. Beide atmeten noch schnell, doch Kaleb zeigte keinerlei Anzeichen von Anstrengung. Bemerkenswert, ging es Simôn durch den Kopf. Ob Kaleb wirklich stärker war als beide Arten?

»Warum?«, fragte ihn Nakim und schloss die Augen.

Wahrscheinlich genoss er ebenfalls die warmen Sonnenstrahlen auf seiner Haut. Kaleb zuckte mit den Schultern.

»Ich bin draußen eigentlich immer als Drache unterwegs. Und, wenn man fliegen kann, kommt es einem halt nicht in den Sinn, etwas hochzuklettern«, meinte er nachdenklich. Nakim nickte. »Verständlich.«

»Hätte ich aber mal früher machen sollen. Ab jetzt jeden Wasserfall, dem wir begegnen!«, fügte er hinzu und ballte eine Faust.

Nakim lachte auf und öffnete seine Augen: »Das nächste Mal aber wieder ein Wettrennen! Sonst macht es keinen Spaß!«

»Dann gewinn ich doch wieder«, warf Simôn grinsend ein.

»Könnt ihr vergessen! Das nächste Mal mach ich ernst!«, warnte Kaleb und sah Nakim herausfordernd an. Nakim hob eine Augenbraue und grinste dann schief. Er gab Kaleb einen heftigen Klaps auf den Rücken, der so plötzlich kam, dass Kaleb nicht damit gerechnet hatte und kopfüber den Wasserfall hinunterstürzte.

»Musste das sein?«, fragte Simôn und beugte sich nach vorne. Sie hörten ein lautes Aufklatschen.

»Kaleb?«, rief er hinunter, »Alles okay?« Erst sah er nichts, doch dann tauchte ein weißer Schopf aus dem Wasser.

»Ja, mir geht’s bestens!«, erwiderte Kaleb grinsend.

»Ich weiß, dass er es nicht ernst gemeint hat«, sagte Nakim dann plötzlich leiser. Dann stand er auf und sah nachdenklich zu Kaleb hinunter.

»Mach Platz, Drache!«, schrie er und sprang mit einem Gebrüll von der Kante ab. Es folgte ein lauter Klatscher. Simôn hörte, wie Kaleb auflachte, dabei fiel ihm auf, dass Kalebs Lachen eigentlich sehr angenehm klang. So rau und ein wenig rasselnd. War sein Lachen immer schon so angenehm gewesen? Er kannte die Antwort auf diese Frage nicht. Vielleicht weil es auch das erste Mal war, dass Kaleb so ausgiebig lachte.

»Was gibt’s da so blöd zu lachen?«, fauchte ihn Nakim an.

»Fangt nicht schon wieder an«, sagte Simôn von oben. Er richtete sich auf und sah zu ihnen hinunter.

»Traust dich nicht, wa?«, machte ihn Nakim von unten an. Simôn grinste nur. Von wegen.

Er machte einen Schritt nach hinten, um etwas Anlauf zu nehmen. Dann konzentrierte er sich auf seinen Körper und auf seine Umgebung. Die Vögel zwitscherten fröhlich ihre Loblieder, der Wind blies ungehörte Melodien und die Sonne strahlte Wärme und Zuversicht aus. Simôn grinste. Sein Herz hüpfte voller Vorfreude. Dann lief er einen Schritt und sprang ab. Im Höhepunkt seines Fluges streckte er seine Arme seitlich aus, und es kam ihm so vor, als würde die Welt für einen Moment stehen bleiben. Er zog die frische Luft tief in sich hinein und spürte die Nähe der Sonne. Der Wind fuhr sanft und kühl um seinen nassen Körper. Er flog. Und der Moment flog mit ihm dahin. Er streckte sofort die Arme nach vorne und brachte sich in Position, um kopfüber ins Wasser einzutauchen. Das kühle Wasser umschlang seinen Körper. Er hörte noch, wie Kaleb einen Jubelschrei von sich gab und Nakim anfing, fassungslos zu lachen. Simôn kam am Grund des Flusses an, stieß sich von dort ab und schwamm an die Wasseroberfläche. Als er aus dem Wasser kam, jubelte Nakim ebenfalls.

»Scheiße! Das war der Hammer! Wie hast du das gemacht?«

Simôn wurde von ihm gepackt und kurz ins Wasser gedrückt.

»Das war der Wahnsinn!«, rief Kaleb. Als Simôn wieder Luft holend auftauchte, sah er beide fragend an.

»Was habt ihr? Das war ein einfacher Kopfsprung. Wusste nicht, dass der so viel Lob verdient.« Er grinste sie an und schubste Nakim, dafür, dass er ihn gerade wieder ins Wasser getaucht hatte, von sich.

»Junge, spinnst du? Das war doch kein normaler Kopfsprung!«, entfuhr es Nakim begeistert.

»Hast du es gespürt?«, Kaleb sah ihn mit strahlenden Augen an und schwamm näher zu ihm. Simôn wusste nicht recht, was an dem Sprung nicht normal war oder was er gespürt haben sollte, und sah beide immer noch verwirrt an.

»Ich komm nicht mit. Wovon redet ihr? Was soll ich gespürt haben?«

»Junge, ist das dein Ernst?!« Nakim spritzte ihm Wasser ins Gesicht. Simôn schloss kurz seine Augen.

»Simôn! Du hast gerade in der Luft geschwebt!«, rief er immer noch stark begeistert und zeigte nach oben auf die Stelle, an der Simôn heruntergesprungen war.

»Jungs, wir waren heute eindeutig zu lange im Wasser«, sagte Simôn verunsichert.

»Nein, du Tropf! Ehrlich! Du standst genau da in der Luft! Vielleicht für fünf oder sechs Sekunden!« Nakim zeigte noch einmal nach oben und dann fasste er sich an den Kopf. »Heftig, ich dachte, ich seh nicht richtig!«

Simôn sah misstrauisch zu Kaleb. Der grinste und nickte Nakim zu.

»Jungs«, hörten sie plötzlich eine sanfte Stimme. Sie drehten alle ihre Köpfe und bemerkten Nuvay. Sie stand da am Rand des Flusses. Ihre Haare waren immer noch offen. Sie lächelte sie an.

»Ihr habt genug geplanscht. Das Essen ist fertig!«, fügte sie dann leicht verlegen hinzu und zupfte an ihrem Ärmel. Die drei tauschten überraschte Blicke.

»Scheint so, als wäre heute ein Tag voller Wunder!«, sagte Nakim spöttisch.

»Lass sie!«, wandte Kaleb ein.

»Sie versucht ihr Bestes!«, nahm sie Simôn ebenfalls in Schutz und antwortete ihr dann mit einem Lächeln im Gesicht: »Wir kommen!«

Nuvay biss sich leicht auf die Lippen und lächelte zurück. Dann drehte sie sich um und lief weg.

Nakim sah Simôn neckisch an. »Was war denn das eben?«

»Was?«, antwortete Simôn. Ein schiefes Grinsen wuchs über Nakims Gesicht.

»Nichts, Qualle!«, gab er als Antwort und schwamm langsam zum Flussufer.

»Deinen Flug bereden wir beim Essen weiter«, meinte Kaleb und fügte hinzu: »Du bist keine Qualle!« Dann schwamm er Nakim hinterher.

Simôn sah ihnen verwirrt nach.

Nuvay hatte nicht viel zum Frühstücken vorbereiten können, doch sie hoffte, dass das wenige, was sie hatten, ausreichte. Sie hatte einige Früchte gefunden und mehrere Vogelnester ausgeplündert. Aus jedem Nest hatte sie nur einige Eier genommen. Sie hatte es nicht übers Herz bringen können, alle Eier aus einem Nest zu nehmen, und es jedes Mal bei ein, zwei belassen. Der Gedanke, dass die Vogelmutter zurückkommen und auf ein leeres Nest stoßen würde, schmerzte sie zu sehr. Es war vielleicht nicht so schlimm, wenn nur ein paar Eier fehlten. Dennoch hatte ein Teil ihres Herzens beim Aufbrechen der Eierschalen wehleidig aufgeschrien. Nur aus einem Teil der Eier hatte sie Rühreier gemacht und den Rest unberührt gelassen. Sie beugte sich nun über das köstlich duftende Mahl. Ihr Magen knurrte und sie schmatzte hungrig als der erste der drei Jungs im Lager eintraf.

»Sabber das Essen nicht voll!«, sagte Nakim, als er sich zu ihr gesellte. Er hatte wieder seine Kleider an. Nur seine Haare waren noch nass und hingen ihm über das Gesicht. Er sah auf das Frühstück und nickte leicht.

»Hast ja doch was einigermaßen Essbares finden können.«

Nuvay ignorierte es. Darauf musste sie nicht eingehen. Sie sah auf und erblickte Kaleb, der strahlend wie ein neugeborenes Kind aus den Büschen heraustrat, dicht gefolgt von Simôn. Beide lachten, kamen näher und setzten sich zu ihnen.

Kaleb beäugte das Frühstück und sah enttäuscht Nuvay an. »Nur Früchte und gekochte Eier?«

Nuvay grinste. »Hier!«, sagte sie und schob ihm eine kleine Schale zu, in der noch frische und ungekochte Eier lagen.

»Die sind frisch!«, sagte sie. Sie hatte sich schon gedacht, dass dieser Drache sicherlich keine gekochten Eier mag. Früchte sowieso nicht. Kaleb lächelte überrascht, aber glücklich.

»Danke!« Er griff nach den Eiern und leckte sich die Lippen. Dann knackte er eines der rohen Eier in zwei Hälften und leerte den Inhalt in seinen Mund.

Bei dem Anblick verzog Nakim das Gesicht, sagte jedoch nichts. Simôn wandte sich dem Frühstück zu. »Sieht lecker aus«, sagte er dann zu Nuvay.

Sie lächelte stolz.

»Ja, ja! Bevor ihr wieder eure Quallenaura hier verbreitet, fangen wir mal lieber an zu essen!«, entgegnete Nakim und griff zu.

Nuvay sah irritiert Simôn an. »Quallenaura?«

Simôn zuckte bloß mit den Schultern. Nuvay tat es ihm gleich. Man musste ja nicht immer alles verstehen. Sie griff nach ihrem Haarband an ihrem Handgelenk und wollte sich die Haare zu einem Zopf binden, als sie Kaleb davon abhielt: »Lass sie offen. Das steht dir.«

Nuvay wurde rot um die Wangen, aber sie ließ ihr Haarband am Handgelenk.

»Danke«, sagte sie leise und spielte leicht mit einer ihrer Haarsträhnen herum.

»So viel zum Thema keine Quallenaura verbreiten!«, gab Nakim genervt von sich.

»Bind sie dir wieder zusammen!«, befahl er ihr dann schroff. Nuvay warf ihm einen trotzigen Blick zu.

»Warum?«

Nakim gefiel Nuvays Frage nicht. »Ich habe gesagt, bind sie dir zusammen!«, wiederholte er mit drohendem Unterton.

Nuvays Trotz wurde stärker. Sie zuckte aufmüpfig mit ihren Schultern. »Ach ja? Und was, wenn nicht?!«

»Treib es nicht zu weit, Mädchen!« Er hob drohend den Zeigefinger.

»Komm und bind sie mir doch, wenn du so scharf drauf bist!«, und auch sie drohte nun mit dem Zeigefinger.

Kaleb piekste ein Loch in eines seiner Eier, hob es an den Mund und fing an, den Inhalt herauszusaugen. Dabei beobachtete er das Geschehen aufmerksam, genauso wie Simôn.

Nakim kniff seine Augen zu Schlitzen zusammen. »Wenn ich komme, dann bind ich dir nicht nur deine Haare zusammen …« Zu mehr kam er nicht, denn Nuvay unterbrach ihn. »Ich weiß, du reißt mir jede Strähne einzeln raus!« Sie starrte Nakim an. In diesem Moment strahlte die Sonne in die Augen von Nakim und sie nahmen einen Granitton an. So direkt hatte sie diese Farbe in seinen Augen lange nicht mehr gesehen. Sie erinnerten Nuvay an etwas. Etwas, was ihr eigentlich vertraut, sogar sehr vertraut war. Seltsam. Nakim bemerkte ihren Sinneswandel.

»Was?«, fragte er sie misstrauisch.

»Du hast voll die schönen Augen, Nakim. Weißt du das eigentlich?«, fragte sie ihn, ohne über ihre Worte nachzudenken. Nakim erstarrte für einen Moment und ein peinliches Schweigen legte sich. Im nächsten Moment prustete Kaleb los und sein Lachen füllte die Stille. Er hielt sich den Bauch und konnte sich nicht mehr einfangen. Nuvay sah ihn leicht genervt an. Musste er jetzt so übertreiben? Okay, das waren wohl wieder die falschen Worte, aber sie hatte etwas Anderes gemeint.

Das brachte Nakim wieder zu sich. Er sah sie fassungslos und angewidert zugleich an. Dieser Ausdruck stand ihm ganz und gar nicht. Es stand ihm eigentlich nie, wenn er wütend wurde. Ruhig und besonnen sah er einfach viel besser aus.

»Was soll das denn jetzt?«, sagte er und seine Stimme klang etwas zu hoch für seine Verhältnisse. Wahrscheinlich war das die Verzweiflung darüber, dass er Nuvay einfach nicht mehr unter Kontrolle hatte. Nuvay musste sich ein Lachen verkneifen.

»Tut mir leid.« Sie zog verteidigend die Schultern hoch. »Ich sag so etwas nie wieder! Ehrlich!« Es tat ihr wirklich leid. Sie hatte es ja nicht so gemeint, wie sie vielleicht alle dachten. Nakim sah entrüstet und Hilfe suchend zu Simôn. Der hob die Augenbrauen, schüttelte leicht erkennbar den Kopf und wollte sich nicht einmischen.

»Dein Fleisch und Blut«, meinte er bloß.

Nuvay versuchte die Situation zu entschärfen: »Versprochen! Wirklich. Es ist nicht, wie du denkst. Sie kamen mir nur so bekannt vor.«

Simôn horchte auf, als er das hörte.

»Bekannt? Wie meinst du das jetzt?«, fragte Nakim vorsichtiger als für ihn üblich.

Nuvay sah kurz zu Boden und überlegte. Jetzt musste sie es wohl irgendwie begründen.

»Ich weiß nicht … So als würde ich sie irgendwoher kennen … Sie kamen mir so vertraut vor … Versteht ihr?« Sie sah wieder auf zu ihnen und kaute dabei auf der Unterlippe. Sie wollte die Stimmung nicht vermiesen. Eigentlich wusste sie, an wen Nakims Augen sie erinnert hatten und schon immer erinnert haben.

Nakim sah sie für einen Moment skeptisch an und schüttelte dann den Kopf. »Kann gar nicht sein. Du warst doch noch viel zu jung, um dich an sie erinnern zu können.«

Nuvays Herz fing an schneller zu schlagen. »Du meinst …« Sie sprach nicht weiter.

Es kam nicht oft vor, dass sie über ihre Eltern redeten. Nakim schwieg. Dafür antwortete Simôn für ihn: »An deine Eltern, Nuvay … Vor allem an deinen Vater.« Traurigkeit zeichnete sich in seinen Zügen ab.

Nuvays Augen weiteten sich und ein kleiner Schauer fuhr ihr bei diesen Worten über den Rücken. So direkt war es vielleicht das erste Mal, dass Nakim und Simôn mit ihr über dieses Thema sprachen.

»A … aber i… ich kann mich an sie erinnern!«, wandte sie ein.

»Du warst wie alt? Vier! Du kannst dich sicher nicht an sie erinnern!«, sagte Nakim.

»Ich weiß nicht mehr viel, aber ich kann mich noch ganz genau an den Tag erinnern. Wie wir in die Hauptstadt gekommen sind. Zumindest einigermaßen. Wie die großen steinernen Türme und Häuser der Hauptstadt aussahen. Die bunten Blumen an ihren Wänden. Die Marmortreppen. All die komischen Pflanzen und Bäume. Der blaue Himmel.« Sie konnte sich nicht wirklich genau daran erinnern, doch sie hatte viele Gedankenfetzen von diesem Tag übrig und bewahrte sie besonders behutsam auf. Die Erinnerungen spielte sie oft in ihren Gedanken ab, erdachte sie immer und immer wieder neu und versuchte sich an die genaueren Details zu erinnern. Die warme Hand ihrer Mutter, ihr Duft, als sie sie umarmte, die starken Arme ihres Vaters und, ja, seine Augen. Seine braunen, warmen Augen, die bei einem gewissen Lichteinfall die Farbe von Granit annahmen.

»Ich weiß, wie die Augen meines Vaters aussahen, okay! Es war das Letzte, in was ich hineinblickte, bevor …« Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals. »Bevor …« Sie spürte, wie die Worte in ihr stecken blieben. Sie konnte nicht weiterreden. Es war der Lichteinfall, der die Augen ihres Vaters zu diesem ihr so vertrauten Granitfarbton verfärbt hatte. Granit. Das Letzte, was sie gesehen hatte. Es war ein feuchter Granit. Voller Angst. Und dann wurde alles von diesem Rot verschluckt. Nuvay schloss für einen Moment die Augen und versuchte sich zu konzentrieren, um nicht tiefer in diese Erinnerungen zu versinken.

Simôn griff ein. »Ist in Ordnung, Nuvay. Wir haben verstanden. Du musst es nicht aussprechen.«

»Ja! Lass es! Sofort!«, bestärkte ihn Nakim ängstlich.

Nuvay schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter und nickte ihnen zu. Sie atmete tief durch.

»Im Dorf sagen sie oft, dass Nakim deinem Vater sehr ähnlich sieht. Warum auch nicht? Immerhin ist er sein Onkel«, fuhr Simôn leiser fort, »Kann gut sein, dass du die Augen deines Vaters in seinen erkannt hast.«

Nuvay sah unsicher zu Nakim. Er wendete seinen Blick ab. Wahrscheinlich wollte er nicht, dass Nuvay wegen seiner Ähnlichkeit mit ihrem Vater trauriger wurde.

Es war ihr schon öfters aufgefallen, doch sie hatte diese Gedanken immer verdrängt oder ignoriert. Und mal abgesehen davon, hatte unten in der Höhle das richtige Licht gefehlt, um seine Augen in diesen Ton zu färben. »Nakim?«, fragte sie dann zaghaft. Er sah sie wieder an. »Ist egal, wem du ähnelst, okay?«

Er rümpfte kurz die Nase, dann nickte er stumm, aber einverstanden.

»Trotzdem bindest du dir jetzt die Haare zusammen!«, ergänzte er. Sie seufzte, gehorchte ihm aber wortlos. Anschließend nahm sie sich was vom Essen, zerkaute es langsam und schluckte es herunter. Es war wirklich egal, wem Nakim ähnelte. Wichtig war jetzt, dass er bei ihr war. Hier und jetzt. Sie musste an den lachenden Nakim denken, der im Wasser mit den anderen herumgetollt hatte. Sie musste lächeln. Und dann kam es ihr wieder in den Sinn. Sie räusperte sich.

»Ihr hattet euch beim Wasserfall freudig über etwas unterhalten, als ich euch gestört habe. Was war das? Ich hab irgendwas von ›fliegen‹ gehört«, wechselte sie das Thema.

Sichtbar erleichtert vom Themenwechsel antwortete Kaleb: »Simôn ist geflogen.«

Nuvay sah irritiert zu Simôn.

Er schüttelte den Kopf. »Nein, bin ich nicht!«

»Doch ist er!«, entgegnete Nakim.

Nuvay war nun noch irritierter: »Wirklich jetzt?«

»Nein, wir scherzen«, erwiderte Nakim plötzlich ausdruckslos. Das irritierte Nuvay noch mehr.

»Was denn jetzt?«, fragte sie.

»Er ist geflogen!«, bestärkte Kaleb.

Simôn machte seinen Mund auf, um wahrscheinlich wieder zu widersprechen, doch Nakim gab ihm einen heftigen Klaps auf den Rücken und ließ ihn gar nicht zu Wort kommen: »Nicht so bescheiden, Qualle! Du bist geflogen!«

Simôn ließ dabei fast seinen Teller fallen, doch fing er ihn elegant wieder auf. Er blickte Nakim verärgert an.

»Ehrlich, er hat fast sechs Sekunden in der Luft geschwebt, als er den Wasserfall heruntergesprungen ist!«, redete Nakim weiter, »Glotz nicht so! Bist du!«

»Wirklich?«, fragte Nuvay wieder und sah aufgeregt zu Simôn.

»Ich … ich weiß nicht …«, antwortete er und wurde leicht rot um die Wangen.

Nuvay lächelte breit. »Wie hast du das denn geschafft?«

Ihre Blicke trafen sich. Simôn machte den Mund auf, um etwas zu sagen, doch es kam nichts raus. Er sah sie bloß an. Und für einen Augenblick schien alles stehen zu bleiben.

Im nächsten Moment jedoch kassierte Simôn einen festen Schlag von der Seite in die Rippen. Es war Nakim. Simôn schnappte nach Luft und hielt sich die schmerzende Stelle.

»Qualle!«, sagte Nakim frostig.

»Was soll das denn jetzt?«, fuhr ihn Nuvay an. »Spinnst du?!«

Nakim zuckte bloß mit den Schultern.

»Ich hab gesagt, dass hier nicht herumgequallt wird!«

Nuvay war fassungslos. Am liebsten hätte sie ihm jetzt die Gurgel umgedreht! Simôn keuchte auf und massierte die Seite, damit der Schmerz abflaute. Empört über die Aktion erhob sich Nuvay und wollte zu Simôn, als dieser jedoch plötzlich die Hand hob und ihr deutlich ein Zeichen gab, stehen zu bleiben. Er richtete sich etwas auf und sagte schwer atmend: »Okay … bin okay … bleib da … sonst schlägt er dich auch noch!«

Nuvay warf Nakim einen giftigen Blick zu und hoffte, es würde ihn schmerzlich treffen.

»Selber schuld!«, meinte Nakim wieder kalt.

»Du Klotz!«, warf sie dann noch nach.

»Wie auch immer: Wir sollten aufessen und dann endlich aufbrechen«, sagte Kaleb.

Niemand sagte mehr während des Frühstücks etwas. Sie aßen schweigend ihre Teller auf und dann packten sie ihre Sachen zusammen. Super, der Tag heute war schon mal hin. Nuvay hoffte bloß noch, dass sie sich schnell wieder versöhnen würden.

Schon nach kurzer Zeit saßen sie erneut auf Kaleb und glitten auf dem Rücken des Windes über die Länder. Nuvays Gedanken schweiften mit jedem Schlag von Kalebs kräftigen Flügeln weiter ab. Es war nun ihr zweiter Tag in der freien Welt. Alles lief bisher gut. Das einzige Problem war, dass sie sich untereinander nicht besonders verstanden. Sie vermutete, dass sie alle noch Angst hatten und deswegen angespannter waren als sonst. Somit waren sie einfach leichter reizbar. Sie konnte also nur hoffen, dass sie sich während der nächsten Tage beruhigen würden. Was genau auf sie zukommen würde, dass wusste wohl niemand von ihnen. Kaleb hatte zwar ein Ziel, doch schien es eher ein gefährlicher Ort zu sein, wenn er von einer Hexe sprach. Ihre Zukunft? Verzweiflung trübte ihr Gemüt. Sie versuchte keine weiteren Gedanken daran zu verschwenden, bevor sie in weit gegabelte Details auslaufen würden. Was würden ihr die Vermutungen über ihre Zukunft auch bringen? Sie atmete den kalten Wind ein und schloss ihre Augen. Die Sonnenstrahlen wärmten sie auf. Ein angenehmes Gefühl von Geborgenheit lag auf ihr, auf ihren Kleidern, auf ihrem Körper. Sie öffnete wieder ihre Augen und lächelte glücklich. Sie war glücklich. Das zählte doch, oder? Das Hier und Jetzt. Dieser Augenblick. Dieser Moment. Alles, was war oder noch kommen würde, war unwichtig.

Nuvayla 2

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