Читать книгу Nuvayla 2 - Meryem H. Akgün - Страница 6

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4 | Der Zorn beherrscht nur schwache Leute

Das Letzte, was Nuvay gesehen hatte, war der Wasserfall, in den sie getaucht war. Kurz darauf wurde ihr schwarz vor Augen und sie verlor das Bewusstsein. Sie wusste nicht, wie viel Zeit verstrichen war, als sie langsam wieder zu sich kam. Von ganz weit her hörte sie eine gedämpfte Stimme. Ihr war kalt und alles war nass. Sie konnte die Stimme nicht zuordnen, aber irgendwie kam sie ihr bekannt vor. Was war das? Kam die Stimme etwa von unten? Sie öffnete ganz langsam die Augen und versuchte etwas zu erkennen. Alles um sie herum war schwarz. Sie versuchte sich zu bewegen und sofort fuhr ihr ein stechender Schmerz durch den Knöchel.

»Nakim? Nuvay? Wo seid ihr?« Das war Simôns gedämpfte und verzweifelte Stimme, die da von unten zu ihr drang! Warum von unten? Nein! Nicht unten! Von oben! Es kam bestimmt von oben. Es musste von oben kommen! Ihr wurde schwindelig. Langsam spürte sie einen ebenso stechenden Schmerz in ihrer Lunge. War sie im Wasser? Sie schaute sich um und sah ein fahles Licht. Von dort kam die Stimme. Sie entschied sich, ihr entgegenzuschwimmen. Es kam ihr seltsam vor. Sie hatte das Gefühl, dass sie immer tiefer und tiefer tauchte, um an die Wasseroberfläche zu gelangen. Sie hoffte, dass Simôns Stimme und das Licht sie nicht irreleiteten. Als sie die Wasseroberfläche durchdrang, verlor sie für einen Moment komplett die Orientierung. Gierig schnappte sie nach der kalten, frischen Luft, die ihre Lungen wieder mit Sauerstoff, ihren Körper und ihren Geist mit Leben füllte. Dann war alles wieder so, wie es sein sollte. Ihre Füße unten und über ihr der Himmel.

»Nuvay! Du lebst!«

Sie sah nach rechts und erblickte Simôn, der auf sie zuschwamm. Sie musste lächeln. Er lebte auch und war anscheinend unverletzt. Als Simôn sie erreichte, zog er sie an sich und drückte sie ganz fest. Die plötzliche Wärme und die feste Umarmung taten ihr gut. Sie war immer noch leicht verwirrt über ihre seltsame sinnliche Wahrnehmungsstörung von eben. So etwas hatte sie noch nie zuvor erlebt.

»Dem König sei Dank! Dir ist nichts passiert!«, hörte sie ihn erleichtert sagen. Er ließ sie wieder los. »Gehts dir gut?« Seine Stimme zitterte, seine Augen waren gerötet und ein Schleier lag über ihnen. War das vom Wasser oder hatte er …? Nuvay nickte, doch sie wusste, dass irgendetwas nicht in Ordnung war.

»Gut«, sagte er. Simôn war hier bei ihr. Kaleb schwebte wahrscheinlich immer noch durch die Lüfte und hatte keine Ahnung von all dem Spektakel. Es fehlte noch Nakim. Wo war er?

»Wo ist Nakim?«, fragte Nuvay und spuckte dabei ein wenig Wasser aus. Sie sah sich um, als ihr plötzlich einfiel, dass Simôn auch Nakims Namen gerufen hatte. Simôn ließ sie wieder los. Sie erstarrte für einen Moment.

»Nein«, flüsterte sie leise und blitzartig schoss ihr eine böse Vorahnung durch die Glieder. Ihre Nase schmerzte und Tränen schossen hoch. Sie sah sich panisch um.

»Nein! Nein! Nein!«

Sie waren ziemlich weit vom Wasserfall weggespült worden. Das Wasser, das den riesigen Wasserfall herunterdonnerte, verzweigte sich anschließend in viele kleinere Flüsse. Nuvay und Simôn schienen in einen kleineren Fluss gezogen worden zu sein. Das Wasser war hier unten im Gegensatz zum Fluss oberhalb des Wasserfalls nicht so tosend, doch als still konnte man es auch nicht bezeichnen. Eine starke Strömung war immer noch vorhanden. Vielleicht wurde Nakim auch bewusstlos von der Strömung mitgezogen? Er hatte sehr viel Blut verloren.

»Nakim?«

Nuvay tauchte unter und versuchte irgendeinen Körper, eine dunkle Gestalt, irgendetwas auszumachen, was Nakim sein könnte. Das Wasser war jedoch sehr trüb und sie erkannte gar nichts. Dann wollte sie wieder etwas weiter hinausschwimmen, dorthin, wo die Strömung stärker war, und dort nach Nakim suchen, doch sie wurde von Simôn daran gehindert.

»Nuvay, nein! Ich habe schon gesucht! Er muss mit der Strömung mitgerissen worden sein!«, sie spürte einen Griff um ihren Arm und sie wurde zurückgezogen.

»Du bist geschwächt … Wir müssen erst aus dem Wasser raus und suchen dann stromabwärts nach ihm, aber an Land! Sonst ertrinken wir noch oder sterben an Unterkühlung!«

Nuvay drehte sich zu ihm und sah ihn an. Er hatte Recht. Sie mussten jetzt beide einen kühlen Kopf bewahren. Das war das Wichtigste. Sie wollte sich gar nicht vorstellen, wie er sich vorhin gefühlt haben muss, als er nach ihnen beiden suchte. Wie hätte sie sich gefühlt, wenn sie auftauchen würde und keiner der Jungs wäre bei ihr gewesen? Ein kalter Schauer fuhr ihr über den Rücken. Es stimmte auch, dass ertrinken oder von den Strömungen mitgerissen werden nicht die Lösung war. Sie mussten aus dem Wasser und an Land weitersuchen. Sie nickte Simôn still zu. Er zog sie näher an sich und drehte sich um.

»Halt dich an mir fest. Ich schwimm uns an Land«, sagte er und Nuvay schlang ohne Widerrede ihre Arme um seinen Hals und überließ den Rest Simôn. So langsam merkte sie, wie erschöpft sie eigentlich war und wie sehr das kalte Wasser an ihr nagte. Sie schloss ihre Augen und hoffte, dass es Nakim gut ging.

Mit dem Fall war auch jegliche Kraft von Nakim verloren gegangen und die Strömung des Flusses hatte ihn mit sich gerissen. Der Schmerz in seinem verletzten Arm hatte etwas nachgelassen, als er vom kühlen Wasser umschlossen wurde. Doch nicht lange, denn im nächsten Augenblick war ihm ein Fels entgegengekommen und er hatte es nicht geschafft auszuweichen. Mit dem verletzten Arm voraus war er mit dem Felsen zusammengestoßen. Der Schmerz wurde dadurch nur noch verstärkt und Nakim konnte sein eigenes Blut im Wasser erkennen. Im nächsten Moment schon wurde er erneut von der Strömung mitgezogen. Die Strömung schien es seltsam eilig mit ihm zu haben. Ihm wurde kurz schwarz vor Augen, als er plötzlich einen Schlag auf den Hinterkopf bekam. Er drehte sich im Wasser, wurde noch einmal gegen einen Felsen geworfen und dann spürte er, wie er durch die Luft flog. Diesen Moment nutzte er, um tief einzuatmen und dann landete er wieder im Wasser und wurde weiter von der Strömung mitgerissen. Das Wasser war unruhig und zog Nakim mit sich mit. Er stieß gegen weitere Steine, Baumstämme oder Äste, versuchte sich dabei auf seinen Körper zu konzentrieren, der mit jedem Aufschlag immer tauber wurde. Seine Beine konnte er nicht mehr spüren und wusste nicht, ob es an dem kalten Wasser lag. Er wagte einen kurzen Blick auf seine Beine und erschrak bei dem bizarren Anblick, der sich ihm bot: Sie zeigten beide seltsam und unnatürlich in verschiedene Richtungen. Ihm wurde schlecht. War das sein Ende? Mit dem nächsten Aufschlag legte sich Schwärze um ihn und eine willkommene Taubheit.

Es war dunkel. Nakim spürte keine Strömung mehr. Hieß das, dass er an Land gespült worden war? Oder war er vielleicht schon tot? Er hörte seltsame, rauschende Geräusche. Erst konnte er nicht ausmachen, wodurch sie verursacht wurden, doch als sie lauter wurden, erkannte er, dass es Wassergeräusche waren. Also war er immer noch in der Nähe des Flusses, aber er schien nicht mehr im Wasser zu sein. Er war erleichtert. Und so langsam kamen seine Sinne wieder zu sich, aber damit auch eine unangenehme stechende Kälte und vor allem Schmerzen. Leise stöhnte er auf, als die Schmerzen immer stärker und stärker wurden. Er wollte seine Augen öffnen. Sie brannten jedoch und seine Augenlider fühlten sich schwer an. Ihm fehlte die Kraft, sie zu heben. Er krümmte langsam einen Finger und ein starker Schmerz durchzog seinen ganzen Körper. Die Strömung schien ihn schwer zugerichtet zu haben. Seine Beine spürte er gar nicht mehr und sein verletzter Arm pulsierte vor lauter Schmerz. Sein Kopf, seine Brust, jedem Atemzug folgte ein stechender Schmerz. Waren etwa auch seine Rippen gebrochen? Sein Körper fing an zu brennen und mit jeder weiteren Sekunde, in der die Schmerzen anstiegen, drohte er wieder sein Bewusstsein zu verlieren. Verzweiflung wollte gerade von ihm Besitz ergreifen, als sich plötzlich etwas anderes um ihn legte.

Abrupt verstummten die Geräusche des Wassers, der Wind hielt die Luft an, die Vögel schwiegen, die Bäume raschelten nicht mehr und alles war totenstill. Die ganze Welt schien zu schweigen, die Zeit stehen geblieben zu sein. Sein Atmen wurde langsamer. Eine ganz zarte, kaum spürbare Wärme fuhr über sein Gesicht, als würde der Tod ihn sanft streicheln. Er erzitterte innerlich. Es benebelte ihn leicht. Und was darauf folgte, war seltsam, aber friedvoll.

Die Schmerzen wichen sanft aus seinen Gliedern. Es war wohl so weit, dachte er sich. Er würde sterben. Seine Seele verließ gerade seinen Körper. Er musste an Nuvay und Simôn denken und hoffte, dass sie es heil überstünden. Wenigstens wäre sein Tod nicht umsonst gewesen. Solange sie überlebten, war er zufrieden. Die zwei wichtigsten Menschen in seinem Leben nach seiner Mutter. Er hoffte, dass sie nicht allzu traurig sein würden. Immerhin hatte sein Tod etwas Gutes: Die Rettung seiner Freunde. Ob seine Mutter stolz sein würde?

Auch der letzte Schmerz entrann seinem Körper. In der nächsten Sekunde aber wurde der Schleier der innigen Stille von ihm gerissen. Das Wasser rauschte wieder kräftig, die Vögel zwitscherten und die Blätter raschelten im Wind.

Er schnappte tief nach Luft und öffnete blitzartig seine Augen. Er blickte in honiggelbe Pupillen. Er erschrak noch einmal und mit ihm die honiggelben Augen, die sich über sein Gesicht gebeugt hatten.

Das Wesen schreckte zurück, stolperte rückwärts auf den Boden und zog sich noch einige Meter von Nakim weg. Es war ein Mädchen. Sie sah Nakim an.

Ihre großen, mandelförmigen Augen weiteten sich. Eine feine, spitze Nase, nicht zu klein, auch nicht zu groß, schmückte ihr Gesicht. Ihre Haut war leicht gebräunt und ihre Wangen waren gerötet, die Lippen voll. Ihr Gesicht schien seltsam rein aufzuleuchten. Er hatte noch nie zuvor so ein wunderschönes Geschöpf gesehen, das sein Herz fast zum Stillstand brachte. Die Kapuze ihres beigen, breiten Umhangs verdeckte ihren Kopf und an den Seiten fielen einige haselnussbraune lockige Strähnen heraus.

Er verstand nicht, was gerade geschah, doch dieser Anblick raubte ihm den Atem. Als beide schließlich bemerkten, dass sie einander anstarrten, schauten sie sofort auf den Boden.

Nakim wurde leicht rot und verlegen und als er zu ihr aufsah, merkte er, dass sie ebenfalls rot um die Wangen war. Sie hatte ihren Blick immer noch auf den Boden gerichtet. Wer ist das Mädchen? Sein Verstand meldete sich endlich zu Wort und gab ihm eine mögliche Antwort auf seine Frage.

Sie könnte eine Zauberin oder eine Hexe sein. Er wusste nicht, wo der Unterschied zwischen ihnen lag. Sie musste ihn geheilt haben. Eine andere logische Erklärung fiel ihm nicht ein. Denn all seine Schmerzen und Verletzungen waren weg.

»Du bist eine … Hexe!«, sagte er und unterbrach das Schweigen zwischen ihnen. Er konnte den verächtlichen Unterton in seiner Stimme nicht verbergen. Sie sah zu ihm auf, schaute ihm jedoch nicht in die Augen, sondern auf den Mund. Sturheit lag in ihrem Blick und sie sprach mit enttäuschter Stimme:

»Ihr nennt uns immer noch so? Also hat sich nicht viel verändert.« Sie hatte eine beruhigende, sanfte Stimme und sprach langsam und bedächtig. Nakim bekam eine leichte Gänsehaut. Er ignorierte sie und fragte weiter:

»Warum hast du mich geheilt?«

Sie sah ihn fragend an.

»Hättest du mir nicht geholfen, wenn ich an deiner Stelle gewesen wäre? Du wärst fast gestorben«, antwortete sie ruhig. Er erschrak, als er das hörte.

»Doch. Natürlich … aber … ich meine … du bist eine Hexe!«, erwiderte er, als würde das alles beantworten. Er strich sich verlegen mit der Hand über den Nacken und sah beim Reden auf den Boden.

»Du hättest mich umbringen können oder … auffressen! Aber du hast mich … gerettet!« Dann sah er wieder auf zu ihr. Ihre Augen weiteten sich für einen Moment und dann legte sich ein trauriges Lächeln in ihre Züge. Nakim tat es augenblicklich leid, dass er das gesagt hatte. Er sollte nicht so unbedacht reden. Er kam sich schon vor wie Nuvay. Doch trotzdem kam ihm nicht in den Sinn, sich dafür zu entschuldigen. Das fremde Mädchen schien es zu ignorieren. Sie sah wieder auf den Boden.

»Deine Kleider sind ziemlich mitgenommen. Und du musst frieren. Du bist noch ziemlich durchnässt. Wenn du willst, leih ich dir meinen Umhang.«

Das überraschte Nakim noch mehr. Warum war sie so fürsorglich? Und das zu einem Fremden wie ihm? Sie war nicht wirklich das, was er sich unter einer Zauberin oder Hexe vorstellte. Das verunsicherte Nakim noch mehr. Immerhin war sie die erste Hexe oder Zauberin, der er je begegnet war. Sie sah wieder zu ihm. Irgendwie schien sie seine Augen zu meiden. Er hatte noch nie einen so unschuldigen Menschen getroffen, wie sie es war.

»Du solltest vielleicht auf deine Kleider gucken und nicht auf mich«, sagte sie und errötete dabei. Nakim wurde auf Anhieb ebenfalls rot und lenkte seinen Blick auf seine Kleider und bemerkte, dass sie zerrissen, ja zerfetzt waren. Nun schämte er sich, so heruntergekommen vor ihr zu sitzen.

»Ja«, sagte er kaum vernehmbar. Sein Hals war auf einmal so trocken. Sie erhob sich, griff nach der Kapuze ihres Umhangs und strich sie von ihrem Kopf. Nakim musste tief einatmen, als ihre braunen, geradezu seidigen Haare, gewellt nach vorne in ihr Gesicht fielen. Ihre Haare waren offen und sie hatte viele kleine Zöpfe mit bunten, eingeflochtenen Perlen und Fäden. Sie sah atemberaubend aus. Sie drehte sich um und knöpfte wahrscheinlich gerade ihren Umhang auf, als plötzlich ein Bild vor Nakim aufblitzte, und er sprach lauter als vielleicht nötig:

»W… warte! I… Ich will dich nicht nackt sehen!« Er wusste auch nicht, wie er auf diesen lächerlichen Gedanken kam, doch irgendwie war da unwillkürlich ein Bild in seinem Kopf, als er an Zauberinnen und ausziehen dachte. Und das war einfach eine leicht bekleidete Frau, seltsamerweise auch irgendwie mit Narben auf ihrem Körper. Und er wollte um keinen Preis dieses Mädchen vor ihm mit Narben am Körper sehen oder gar unbekleidet. Das Mädchen blieb in der Bewegung stehen und sah erschrocken zu ihm. Sie lief knallrot an und sah erneut auf den Boden.

»W… wer … sagt, dass … dass ich na… nack… keine Kleider unter meinem Umhang trage?«, sagte sie mit einem recht harten Tonfall. Nakim bemerkte das gar nicht. Sie hatte gestottert. Sie hatte gerade wirklich gestottert. Und sie konnte das Wort ›nackt‹ nicht aussprechen. Er war fasziniert und lief ebenfalls wieder rot an. Was war bloß mit ihm los? Sein Gehirn konnte das, was er da sah, nicht mit einer Zauberin gleichsetzen. Sie war wie ein wundervoller, majestätischer Schmetterling, aber sie müsste eigentlich ein kriechender, schleimiger Wurm sein! Er seufzte schwer. Und sogleich tat ihm leid, dass er sie mit einem Wurm verglich.

»E… es tut mir leid«, sagte er verwirrt. Er strich sich mit seinen Händen durch die Haare.

»Schalte mal deine Vorurteile aus«, sagte sie und dann nahm sie demonstrativ den Umhang von ihren Schultern und faltete ihn. Er musterte ihre seltsame Kleidung, die er noch nie zuvor irgendwo gesehen hatte. Sie trug ein braunes Hemd mit langen, verzierten Ärmeln. Darüber hatte sie ein beiges ärmelloses Kleid an, das bis zu ihren Fußknöcheln ging. Er bemerkte es nicht sofort, doch das Kleid hatte an den Seiten jeweils lange Schlitze, die ihr bis zu den Knien gingen und darunter eine braune Hose. Alles wurde mit einem braunen Gürtel abgerundet. Dieser Gürtel bestand eher aus einem Stück Tuch, das einfach um ihren Bauch gebunden war. Ein kleiner Dolch stach aus dem Tuchgürtel heraus.

Sie legte ihren Umhang einen Meter vor Nakim auf den Boden und dann ging sie wieder auf Abstand. Nakim hob ihren Umhang auf. Würde es ihm überhaupt passen? Er war breit und groß. Er räusperte sich.

»Könntest du vielleicht weggehen, damit ich mich umziehen kann?«

»Warum? Als Hexe sollte es mir doch nichts ausmachen, einen Mann beim Ausziehen zu beobachten, oder?«, sagte sie kalt. Er schluckte. Das hatte er nicht gemeint. Er wusste nicht, was er darauf sagen sollte. Dieses Mädchen erschütterte seine Grundfesten, die er um diese seltsame Zaubererwelt errichtet hatte.

»Ich bin doch sicherlich geübt darin«, fuhr sie fort.

»Okay! Ich hab verstanden!«, ging er ihr gereizt dazwischen, härter als vielleicht nötig. Sie stoppte sofort und sah ihn verletzt an, was Nakim wiederum verdutzte. Für Nakim hatte seine Stimme bloß ein wenig gereizt geklungen. Warum sah sie ihn deshalb so verletzt an? Mussten Zauberinnen nicht solche Tonlagen gewohnt sein? Zauberer waren doch grob, brutal und unzivilisiert. Warum sah sie ihn jetzt so verletzt an, nur weil er leicht gereizt geantwortet hatte?

»Kannst du jetzt vielleicht einfach gehen?«, fügte er hinzu und versuchte sich dabei zusammenzureißen. Ihm wurde kälter, und in diesem Zustand vor ihr zu stehen, nervte ihn mächtig. Er fühlte sich einfach erbärmlich und so unmännlich. Er sah auf den Umhang in seiner Hand.

Was konnte er denn dafür, dass alle Welt über Zauberinnen so dachte? War es seine Schuld, dass er ihnen glaubte?

Sie nickte. Es erleichterte ihn, dass sie sich nun umgedreht hatte und in den Wald lief. Er war sogar sehr dankbar dafür, denn er brauchte ein wenig Zeit, um all das zu verarbeiten.

Gerade war er fast gestorben und der Tod hatte schon beinahe vor ihm gestanden. Er stockte. Das war nicht der Wind oder der Tod, dessen warmen Hauch er gespürt hatte. Sie hatte ihn angepustet oder angehaucht, wie auch immer. Und durch ihren Atem war er binnen weniger Momente wieder vollkommen genesen. Was für eine Macht war das, die jemanden kurz vor dem Tod so schnell heilte? Er hatte nichts mehr! Gar nichts! Noch nicht mal einige kleine Wunden und dabei hatte er vor Schmerz noch nicht mal einen Finger krümmen können.

Er versuchte sein Staunen zu unterdrücken. Was waren diese Zaubererleute bloß für Wesen? Er zog seine Kleider, die viele Risse und Löcher aufwiesen, aus. Nur seine Unterhose behielt er an und warf sich den Umhang über die Schultern. Sofort spürte er, wie angenehm warm er noch war. Prompt lief er wieder einmal rot an. War das etwa ihre Wärme? Und es roch wundervoll. War das der Duft von Rosenblüten?

Der Umhang ging ihm bis leicht unter seine Knie. Er war nicht figurbetont geschnitten, so dass Nakim nicht feminin darin wirkte, was ihn sehr erleichterte. Nur wie ein Riese, der Zwergenkleidung trug. Doch war es besser, als diese zerrissenen Kleider zu tragen oder ganz und gar unbekleidet zu sein. Er knöpfte den Umhang zu und genoss die wohlige Wärme, die sich um seinen Körper schloss. Er bekam Gänsehaut und setzte sich auf den Boden. Es kam ihm wie eine Umarmung vor.

Er hielt inne. Nein! Seine Gedanken musste er in den Griff bekommen, denn er hatte sich heute schon genug blamiert. Von seinen Füßen streifte er sich die nassen Schuhe ab und zog seine Beine ebenfalls unter den Umhang und ließ auch sie von der Wärme umschließen. Er sah sich um: Er saß gerade einige Meter vom Fluss auf einer grünen Wiese mit hohem Gras und zwischen einigen dieser Mammutbäume, die sie beim Vorbeifliegen gesehen hatten. Jede Pflanze und jedes Gewächs in seiner Umgebung war fast so groß wie er selbst. Er dürfte nicht von alleine hierhergekommen sein. Wahrscheinlich hatte ihn dieses Mädchen aus dem Wasser hierhergezogen. Das hatte er gar nicht mitbekommen. Wahrscheinlich war er da noch bewusstlos gewesen.

Er hörte Schritte. Das Mädchen kam wieder zurück mit einer Tasche um ihre Schulter. Er sah sie fragend an. Sie suchte mit ihren Augen nach etwas in Nakims Umgebung.

»Wo sind deine Kleider?«, fragte sie ihn. Er verschränkte misstrauisch die Arme vor seiner Brust.

»Was willst du mit ihnen machen?«

Er wusste selbst nicht, warum er ihr gerade nicht trauen wollte. Immerhin hatte sie sein Leben gerettet. Sie lächelte leicht.

»Weißt du nicht, wie Hexen Menschen verfluchen? Hat man dir das nicht beigebracht? Wir benutzen alte Kleider, Haare, Hautfetzen oder abgeschnittene Fingernägel.«

Erschrocken zuckten seine Finger über den Stoff des Umhangs. War das ihr Ernst? Er mochte es nicht, wenn man Späße mit ihm trieb. Wer mochte das schon? Ihr Lächeln wurde größer, als sie seinen Blick bemerkte, und ihre perlweißen Zähne kamen zum Vorschein. Sie hatte sehr schöne Zähne. Warum war alles so schön an ihr?

»Ich will schauen, ob deine Sachen noch zusammenzuflicken sind«, sagte sie dann ehrlich. Nakim griff nach seinem nassen Kleiderhaufen und zog ihn an sich.

»Warum?«, fragte er sie argwöhnisch und schon wieder konnte er den Grund dieses seltsamen Verhaltens nicht erklären.

Sie hob eine Augenbraue an.

»Willst du unbekleidet durch den Wald ziehen?«, fragte sie ihn unschuldig. »Meinen Umhang kann ich dir leider nicht geben.« Ihre Stimme wurde zum Ende hin leiser.

»Warum?«, fragte Nakim sie ein weiteres Mal.

Sie sah auf zum Fluss und starrte eine Weile verträumt auf die Strömung, aber ihr Blick schien ganz weit weg zu sein.

»Er hat meinem Vater gehört«, erwiderte sie leise und war im nächsten Moment wieder in Gedanken versunken. Seine Hand lockerte sich um seine Kleider. Es wäre sicherlich zu persönlich gewesen, also fragte er sie nicht, was mit ihm geschehen war.

»Dein Vater war ja nicht gerade der Größte«, gab er stattdessen von sich. Ja, er war nie wirklich taktvoll gewesen.

Sie deutete mit ihrer Hand auf die Kleider in seiner Hand und ignorierte seinen Kommentar.

»Jetzt gib sie schon her.«

»Ich kann es auch selbst machen«, meinte Nakim, »wenn du mir Nadel und Faden gibst.«

Diesmal sah sie ihn leicht verdutzt an.

»Du weißt, wie man näht?«, fragte sie ihn und blinzelte mehrmals.

Auf Nakims Zügen zeichnete sich ein leichtes Grinsen ab. »Warum? Denkt ihr Zauberer etwa, wir Menschen könnten nicht nähen?«

Ihre Mimik wurde ausdruckslos. »Nein. Du siehst nur aus wie ein Klotz mit vier linken Füßen.«

Das hatte gesessen! Aus irgendeinem Grund, den Nakim sich nicht erklären konnte, ärgerte ihn diese Bemerkung. Sah er wirklich aus wie ein Klotz? Nuvay nannte ihn auch immer so, doch bei Nuvay juckte es ihn nie besonders. Wen juckte schon, was Nuvay sagte, so viel wie sie immer redete? Anders als bei diesem Mädchen. Sie hielt ihn für jemanden mit vier linken Füßen? Mussten Frauen immer so übertreiben? Zwei linke Hände hätten vollkommen ausgereicht. War das die Bestrafung für seinen Kommentar von eben?

»Ich kann sogar kochen«, antwortete er gereizt.

Amüsiert lächelte sie ihm zu. Aber wieder vermied sie es, in seine Augen zu sehen. Das gefiel Nakim sehr. Er sah ihr auch nicht in die Augen, obwohl sie ihn geradezu anzogen.

Sie näherte sich ihm, zog aus ihrer Tasche einen kleinen Beutel und legte ihn auf den Boden. Sie schob ihn mit einem Ruck Nakim zu. Dann setzte sie sich wieder in einem sicheren Abstand zu ihm hin und fing an, in ihrer Tasche herumzukramen. Nakim beobachtete sie dabei. Sie horchte immer wieder auf und unterbrach ihr Wühlen, als sie verdächtige Geräusche im Wald hörte. Aber es waren anscheinend Fehlalarme. Wonach sie wohl suchte, fragte sich Nakim. Er konnte trotzt des Abstandes erkennen, dass sie eine schöne Haut hatte. Und ihre Haare? Hatte sie all diese kleinen Zöpfe selbst geflochten? Sie sahen frisch aus. War das nicht eine Heidenarbeit? Und dann noch mit all diesen Perlen. Nuvay dagegen ließ ihre Haare entweder wie eine Streunerin offen oder band sich einen Zopf wie ein Pferd. Beides nicht gerade sehr reizend. Nuvay war an sich sowieso nicht gerade entzückend. Sie war viel zu … Er suchte nach einem Wort, um sie zu beschreiben. Das Einzige, was ihm einfiel, war »schmuddelig«. Was Simôn an ihr fand, war ihm immer noch ein Rätsel. Na ja, im Grunde war Simôn ja auch nicht besser. Was tat er denn schon für sein Äußeres? Kämmte er sich überhaupt mal den Strubbelkopf? Er hatte so harte Strohhaare, kaum zu glauben. Konnte man die überhaupt kämmen? Da tat Nakim sogar mehr für sein Äußeres. Seine Mutter hatte ihm angewöhnt, einmal im Monat seine Haare einzuölen. Meistens benutzte er Olivenöl, manchmal auch Mandelöl oder Milch. Deshalb waren seine Haare ziemlich weich. Aber er hatte schon von Natur aus ziemlich weiche Haare. Das Einölen hielt sie wahrscheinlich frisch und weiterhin weich. Und während er in Gedanken versunken nachdachte, ließ er weiterhin das Mädchen vor ihm nicht aus den Augen, bis sie auf einmal, ohne mit dem Kramen aufzuhören, sagte:

»Du starrst mich an.«

Nakim wurde plötzlich aus seinen Gedanken gerissen und er schämte sich, als ihm klar wurde, dass er sie gerade wirklich die ganze Zeit angestarrt hatte. Er neigte seinen Blick und sah nun den Beutel in seiner Hand an.

»Nein, tu ich nicht!«, sagte er dann.

»Doch, du hast mich eben die ganze Zeit angestarrt«, beharrte sie ruhig und suchte weiter.

»Hab ich nicht!«, erwiderte er gereizt.

»Hast du«, sagte sie bestimmt.

»Hab ich nicht!«

»Doch.«

»Nein!«

Sie sah zu ihm auf.

»Du lügst mich schamlos an.«

»Tu ich nicht. Ich werde rot dabei!«, entgegnete er.

Sie schloss ihre Augen zu Schlitzen und ein leichtes Lächeln lag um ihre Mundwinkel.

»Was auch immer.« Sie gab auf und widmete sich wieder ihrer Suche.

Sie schien schnell zu lernen, dass man sich mit Nakims Sturheit nicht anlegen konnte. Das gefiel ihm. Er öffnete den Beutel und machte sich daran, seine Kleider zu flicken. Sie beobachtete ihn bei der Arbeit.

»Diesmal starrst du!«

»Ja, tu ich und ich gebe es wenigstens zu. Du machst ja auch alles falsch«, sagte sie.

Nakim ignorierte sie einfach. Er machte es nicht falsch. Er wusste, was er tat. Seine Mutter hatte es ihm schon zigtausend Mal gezeigt und er musste solche Sachen schon zigtausend Mal tun. Vor allem die Socken seines Vaters musste er früher immer flicken. Es war ätzend. Und egal, wie oft seine Mutter sie gewaschen hatte, stanken sie trotzdem geradezu tierisch.

»Ach so machst du es«, sagte sie nach einer Weile stillen Beobachtens. Eine weitere Weile verging und beide schwiegen. Nakim flickte. Das Mädchen sah ihm dabei zu.

»Du machst das gut«, unterbrach sie die Stille.

Er schnaubte. »Ich heiße übrigens Nakim«, sagte er und biss den Faden ab, den er gerade abgebunden hatte.

Sie lächelte ihm leicht zu. »Das ist ein schöner Name.« Dann verstummte sie.

Nakim sah sie erwartungsvoll an. Er hob seine Augenbrauen. Sollte sie jetzt nicht ihren Namen verraten? War das nicht so üblich zwischen Zauberern? Musste man bei ihnen die Personen direkt fragen? Als würde das Mädchen Nakims Fragen hören, antwortete sie seufzend.

»Seem.«

»Seem?«, hakte Nakim nach.

»Seem«, meinte sie wieder und nickte. Nakim runzelte die Stirn. Seltsamer Name.

»Was genau bist du?«, erkundigte er sich weiter, »Hexe oder Zauberin?«

Seem schüttelte verzweifelt ihren Kopf.

Nakim zuckte mit den Schultern. »Keins von beiden? Mischwesen? Was genau ist eigentlich der Unterschied?«

»Keine Ahnung. Sag du es mir. Ihr habt uns diese Namen gegeben«, entgegnete sie. Nakim wurde aus ihr nicht schlau. Irgendwie war das alles sehr seltsam. Vielleicht stimmte ja mit dieser Hexe einfach etwas nicht?

»Was machst du überhaupt alleine hier draußen?«, fragte er dann weiter.

»Reisen«, antwortete sie vorsichtig.

»Du bist nicht auf der Flucht oder so?«, entwich es ihm. Das war wieder ein unbedachter Gedanke, der gar nicht wirklich aus seinem Munde hätte kommen sollen.

»Oh, du meinst, weil ich eine Zauberin bin, kann es nur diesen einen Grund geben, warum ich alleine in den Wäldern unterwegs bin?«

»Nicht?«

»Du bist stur.« Sie versuchte ihren Ärger wegzulächeln. »Ich kann sehr gut auf mich selbst aufpassen. Im Gegensatz zu dir und deinen Freunden.«

Nakim hielt inne. Sein Körper erzitterte. Sofort merkte er, wie Feuer in seinen Adern pulsierte. Woher wusste sie von seinen Freunden? Das konnte sie nicht wissen! Das war unmöglich!

»Du weißt von ihnen? Woher?«

Sie musterte ihn. »Du wirst schnell wütend«, es war keine Frage, sondern eine Feststellung.

Nakims Blut pochte schneller. Seine Wangen liefen rot an. »Nei… Ja … Was geht dich das an? Woher weißt du von meinen Freunden? Hast du sie etwa gesehen? Suchen sie nach mir? Natürlich suchen sie nach mir. Wie konnte ich sie vergessen!«

Von Seem kam wieder keine Antwort. Sie beobachtete ihn weiter.

Nakim sah sie angespannt an. Warum schwieg sie? Warum schwieg sie denn jetzt? Bis es ihm wie Schuppen von den Augen fiel. Er schnappte nach Luft.

»Du Hexe! Du hast die Tiere auf uns gehetzt? Und dann hast du mich versucht zu verzaubern mit deiner Magie und deiner Hilfe! Was willst du von uns?«, sagte er atemlos, erhob sich blitzartig und richtete bedrohlich seinen Zeigefinger auf sie. Die andere Hand ballte sich automatisch zu einer Faust.

Sie erhob sich ebenfalls, doch nicht, um zu flüchten, wie Nakim zuerst dachte. Sie baute sich würdevoll vor ihm auf.

»Und warum habe ich mir dann die Mühe gemacht, dich zu heilen, wenn ich euch sowieso töten wollte? Ich bin kein Monster!«

Das nahm ihm ein wenig die Luft aus den Segeln. Er wich etwas zurück.

»Woher weißt du dann von ihnen?«, fragte er mit einem leicht verzweifelten Unterton.

»Hör endlich mit deinen Vorurteilen auf«, sagte sie streng. Sie klang schon fast wie Nakims Mutter.

Er hielt sich schwer davon ab, noch einen Schritt nach hinten zu weichen. »Woher weißt du von meinen Freunden?«, wiederholte Nakim und knirschte mit seinen Zähnen. Er riss sich zusammen. Er tat es wirklich! Wenn sie etwas wusste, warum sagte sie ihm das nicht einfach? Was war so schwer daran? Warum wollte sie ihn erst zur Weißglut bringen?

»Weißt du, dass Wut von sittlichem und moralischem Mangel zeugt?«, fragte sie ihn.

»Hä?«, antwortete Nakim perplex. Mit so was hätte er nicht gerechnet.

»Was soll das? Was ist mit meinen Freunden?«

»Ich mag es nicht, mich mit wütenden Menschen zu unterhalten. Sie sind nicht bei Sinnen!«

»Das juckt mich deutlich wenig!«, sagte er laut und seine Wut stieg weiter an.

»Alle Handlungen, die durch Wut geschehen, bereut man später, egal was sie sind«, redete sie weiter.

»Was hat das mit meinen Freunden zu tun?«, er wurde noch lauter. Sein Kopf wurde heiß vor Wut.

»Nichts. Aber du scheinst viel zu bereuen«, sagte sie.

Nakim musste schwer schlucken. Seine Röte wich für einen kurzen Moment einem Weißton, doch kam sie bald stärker wieder zurück. »Ich bereue gar nichts! Aber wahrscheinlich werde ich gleich etwas bereuen!«, sagte er und machte einen Schritt auf sie zu.

Seem fuhr unbeirrt und ebenso stur wie Nakim fort, ohne Anzeichen von Angst oder Einschüchterung: »Wut ist kein Zeichen von Kraft oder Stärke. Wahre Stärke zeigt man, wenn man sie überwinden kann.«

»Das sagt mir eine verdammte Zauberin! Ihr seid die brutalen Monster hier!«, schrie er kochend vor Wut.

Seem sah ihn verletzt an.

»Du zeigst mir, dass du gerade sehr verzweifelt bist und auch ungeduldig. Du zeigst Schwäche, Nakim.«

»Ja, und das juckt mich sehr wenig! Wo sind meine Freunde, du Hexe?«, schrie er erneut und machte einen weiteren Schritt auf sie zu. Seem zuckte kurz zusammen und dann tat sie etwas, was er niemals erwartet hätte. Sie setzte sich langsam und vorsichtig wieder hin.

»Warum setzt du dich jetzt hin?«, brüllte Nakim noch lauter. Seine Wut war auf Hochtouren und seine Stimme driftete zum Ende hin wieder in hohe Tonlagen ab.

»Damit du dich wieder beruhigst«, sagte sie mit sanfter Stimme.

Er sah sie kurz sprachlos an und dann setzte er sich zu seiner eigenen Verwunderung ebenfalls ruckartig hin. »Okay, dann sitzen wir halt! Und beruhigen uns! Meine Freunde könnten jetzt wer weiß wo sein und sich wer weiß was für Sorgen machen. Doch wir setzen uns hin und suchen unser Seelenheil!« Er ballte die Hände zu Fäusten, dass seine Knöchel weiß wurden, und ein Rachedurst stieg in ihm auf. Doch er atmete tief ein und versuchte diesen Drang wieder in den Griff zu bekommen. Seem lächelte zufrieden.

»Willst du einen Tee?«, fragte sie freundlich.

Nakim blinzelte ratlos und entgeistert.

»Du magst Tee.« Sie lächelte ihn an. »Gut, ich mach uns einen Tee.« Und dann erhob sie sich und lief wieder weg.

Er seufzte schwer und fuhr mit den Händen durch seine Haare. Meine Güte, waren manche Menschen einfach seltsam und vor allem nervig!

Wut? Sittlicher und moralischer Mangel? Woher hatte sie das alles?

Alle Handlungen, die durch Wut geschehen, bereut man später, egal was sie sind, hallte Seems Stimme durch seinen Kopf. Ihre Stimme war selbst in seinen Gedanken schön.

Stimmte das? Bereute er seine wütenden Handlungen?

Du scheinst viel zu bereuen.

Was wusste sie schon von seinem Leben? Eine tiefe Trauer breitet sich in seiner Brust aus. Hatte sie im Grunde nicht Recht? Er bereute viel in seinem bisher so kurzen Leben. Sie hatte genau ins Schwarze getroffen. Genau in sein Herz. Und das wohl schon das zweite Mal heute.

Er seufzte erneut und hielt seinen Kopf.

Du zeigst mir nur, dass du gerade sehr verzweifelt bist und auch ungeduldig. Du zeigst Schwäche, Nakim. Wie sie seinen Namen aussprach, gefiel ihm. Er schüttelte den Kopf. War er wirklich schwach? Körperlich sicherlich nicht! Das ließ er sich von niemandem sagen! Aber Seems Worte wurmten ihn. War sie doch ein Wurm und kein Schmetterling? Er war verzweifelt. Seine Freunde waren da draußen. Er war hier und dem Tod gerade so noch entkommen. Er traf dieses seltsame Mädchen, das ihn noch seltsamer denken und auch handeln ließ. Ihm wurde schlecht. Sie hatte Recht. Warum war er so ungeduldig? Er saß direkt am Fluss. Wenn Simôn und Nuvay überlebt hatten, dann würden sie ihn suchen und das höchstwahrscheinlich flussabwärts. Sie müssten beide gesund sein, nicht so wie er. Sie hatten sich beide an den Fischen festhalten können. Die Strömung könnte sie also nicht mitgerissen haben. Also musste er nur warten, bis sie hier bei ihm vorbeikommen würden. Es sei denn, den beiden war etwas zugestoßen, was er irgendwie bezweifelte. Seem schien etwas zu wissen oder zu ahnen. Auch wenn sie es geschafft hatte, ihn zur Weißglut zu bringen, konnte Nakim nicht leugnen, dass er ihr vertraute. Sie zog sein Vertrauen geradezu an. Wie könnte sie auch nicht? Sie hatte ihm das Leben gerettet. Was aber nicht hieß, dass sie ihn so auf Antworten warten lassen musste.

Er hörte ein Rascheln und Seem kam mit einer gefüllten Teekanne zurück. Sie stellte sie vor Nakim ab und machte sich daran, Feuerholz zusammenzusuchen.

»Woher weißt du jetzt von meinen Freunden?«, fragte er sie wieder, aber diesmal ruhiger. Sie machte gerade Feuer und sah nicht zu ihm auf. Er wartete, doch als keine Antwort kam, fragte er sie erneut, aber immer darauf bedacht, dass seine Stimme ruhig blieb.

»Woher weißt du von meinen Freunden?«

Sie antwortete leise und zögerlich: »Ich kann einige deiner Gedanken hören.«

Nakim zuckte geschockt zusammen. Stille für einen Moment.

Sie konnte was?

Sie zuckte ebenfalls leicht zusammen.

»Und du denkst ziemlich laut, muss ich noch hinzufügen, was es mir schwieriger macht, es nicht zu hören«, ergänzte sie. Doch sie sah immer noch nicht auf.

Er schluckte schwer. Hatte sie auch seine Gedanken über ihre Haare …

»Ja«, kam die erschreckende Antwort.

Nakims Herz blieb fast stehen und ihm wurde heiß.

»Hör auf damit!«

»Dann denk leiser«, entgegnete sie ihm.

»Wie im Namen des Königs soll man leiser denken?«, rief er.

Sie seufzte. »Es tut mir leid. Du musst nicht gleich wieder wütend werden. Es ist … okay. Leicht verwirrend … aber irgendwie okay«, sagte sie und wurde selbst rot dabei. »Ich mag meine Haare auch.«

Nakims Herz blieb für einen weiteren Moment stehen. Sie warf ein weiteres Stück Holz ins Feuer.

»Zum Ausgleich und damit es nicht mehr so ungerecht ist: Ich finde deine Haare auch sehr schön. Sie haben einen schönen Rotbraunton und sie sehen so weich aus.« Ihre Verlegenheit wurde noch stärker. »Sie sind sehr schön.«

Nakim sah sie erschrocken an. Er hatte noch nie von einem Mädchen ein Kompliment erhalten. Die meisten hatten Angst vor ihm. Wie konnte sie ihm das einfach so sagen? Warum hatte sie keine Angst vor ihm? Was stimmte nicht mit diesen Zauberern? Sie sah auf. Nakim zuckte leicht zurück. Das hatte sie auch gehört. Diesmal rannte sein Herz. Ein kleines Lächeln spiegelte sich um ihren Mundwinkel. Während des Galopps hüpfte sein Herz seltsamerweise dabei auf. Dieses Lächeln stand ihr.

»Du schaltest ziemlich langsam, kann das sein?«, stellte sie eher fest, als dass sie ihn fragte.

Nakim sah sie mit großen Augen an. Was hieß das jetzt wieder? »Geh weg!«, sagte er mit kurzem Atem. »Geh auf Abstand!«

Seem lächelte ihn an. »Du müsstest nur leiser …«

»So was geht nicht! Also geh auf Abstand!«, unterbrach er sie prompt.

Sie nickte und dann hängte sie die Kanne über das Feuer, stand auf und lief einige Schritte nach hinten.

»Wie weit?«, fragte sie ihn.

»Bis du mich nicht mehr hörst natürlich!«, antwortete er laut.

»Das könnte ziemlich weit sein«, gab sie zurück. Und sie lief noch einige Schritte weiter. Dann blieb sie stehen und setzte sich auf einen Baumstamm.

»Von hier ist es sicher«, sagte sie etwas lauter, damit er sie gut hören konnte. Sie hatten nun so ungefähr zwölf Meter Abstand voneinander. Sie wusste alles. Jeden seiner verdammten, seltsamen Gedanken! Er hielt seine Stirn. Auch das mit dem Wurm! So was konnte doch nicht sein? Das war einfach nur ungerecht! Wieso konnte sie so was? Selbst seine Gedanken wurden schrill, während er das dachte. Dachte er wirklich so laut?

»Ich höre es nicht bei jedem Menschen. Du hast ein reines Herz, deswegen.«

»Geh noch ein Stück weiter! Sofort! Du hörst mich immer noch!«, gab er zurück.

»Du brüllst ja auch förmlich«, wandte sie ein.

Jetzt mach schon, befahl er gedanklich.

»Schon gut«, sagte sie, stand auf und lief noch weitere zehn Meter nach hinten. Nakim sah sie prüfend an. Hörst du mich, dachte er sich. Es kam keine Antwort und er atmete leise auf. Jetzt musste er sich erst einmal wieder beruhigen. Was war das heute bloß für ein Tag? Sollte jeder seiner Tage etwa so ablaufen? Das wäre definitiv zu viel Aufregung für ihn.

Seem kramte währenddessen schon wieder in ihrer Tasche herum. Was kramte sie immer in ihrer Tasche herum? So wirkte sie noch mysteriöser, als sie es ohnehin schon war.

»Wieso kannst du das?«, fragte er sie von weitem. Sie schaute auf. Dann überlegte sie kurz.

»Ich weiß nicht. Ich höre es einfach.«

»Kann man sich das antrainieren?«

»Ich glaube nicht.«

»Du meinst, mein Herz ist rein?«

»Deine Gedanken sind nicht verschwommen oder gedämpft. Sie sind klar, aber, wie schon gesagt, oft ziemlich laut.«

»Also weißt du nichts von meinen Freunden?«

»Irgendwas sagt mir, dass wir hier warten sollten.«

»Wer sagt dir das?«

»Ich weiß es nicht. Ich hab einfach so ein Gefühl, dass du hier warten solltest.«

»Sagt dir dein Gefühl auch, dass du mit mir warten musst?«

»Es ist bestimmt sicherer für dich, wenn ich noch bei dir bleibe.«

Nakim rümpfte die Nase. Für wen hielt sie sich. Nur weil sie ihn geheilt hatte, hieß das nicht, dass er schutzlos war. Er hatte es heute schon mit mehreren Naturgewalten aufgenommen: säbeligen Tigern, einem Wasserfall und einer Strömung. Okay, dafür wäre er fast gestorben, aber trotzdem! Er hatte es mit ihnen aufgenommen. Seem schwieg.

Eine Frage kam ihm in den Sinn. »Hast du mich angepustet?«

»Der Tee ist sicher fertig. Nimm dir eine Tasse, wenn du willst«, lenkte sie vom Thema ab. Er warf ihr demonstrativ einen genervten Blick zu, erhob sich aber und nahm sich einen Becher, der neben der Kanne stand, und schenkte sich Tee ein.

Er setzte sich mit dem warmen Becher in seiner Hand ans Feuer und zog den wohligen Duft in seine Nase. Es roch wie zuhause. Grüner Tee. Seine Mutter machte oft grünen Tee.

»Hast du mich nun angepustet oder nicht?«

Wieder kam keine Antwort.

»Ich mag es nicht, wenn man mir zu nahe kommt«, gab er ehrlich zu.

»Das merke ich«, entgegnete sie und warf einen demonstrativen Blick auf die zwanzig Meter zwischen ihnen. Nakim trank einen Schluck. Der Tee schmeckte etwas bitter, aber lecker. Die Wärme floss seinen Hals hinunter und verbreitete sich in seiner Brust. Himmlisch! Er sah zu Seem.

»Hast du nun oder was?«, drängte er sie noch einmal. Sie sah auf den Boden.

»Es war eher ein Hauchen. Man heilt mit dem Atem. Das macht man halt so. Oder ich hätte es mit dem Speichel tun müssen. Ich habe mich jedoch für den Atem entschieden. Wie den Hauch des Lebens kannst du es dir vorstellen.«

Nakims Augen weiteten sich, als er diese Information bekam. Seltsame Heilmethoden hatten diese Zauberer. Wenigstens wusste er nun, dass es nicht der Tod persönlich war, dem er begegnet war. Beruhigend. Er nahm noch einen Schluck, sah in den Becher und dann zu Seem. »Willst du auch Tee?«

Sie lächelte. »Wenn ich mich dir nähern darf?«

Nakim überlegte kurz und dann stand er auf und lief einige Meter von der Feuerstelle und der Teekanne weg.

»Kannst dir welchen holen.«

Sie war belustigt über Nakims Verhalten.

»Danke«, entgegnete sie ironisch. Sie erhob sich und lief auf die Kanne zu, als sie plötzlich stoppte. Sie horchte auf. Ihre Miene wurde ernst, dann sah sie zu Nakim.

»Setz dich und rühr dich nicht von der Stelle, wenn dir dein Leben lieb ist!«, befahl sie ihm.

Nakim bekam Gänsehaut. Er wich ein wenig zurück. Sie sprach schon wieder wie seine Mutter mit diesem Unterton, der keine Widerworte duldete. Er setzte sich hin, den fragenden Blick immer noch auf sie gerichtet. Sie drehte sich zur Seite und sah zum Wald. Nakim folgte leicht verwirrt ihrem Blick und hielt den Atem an. Einer der Tiger kam langsam aus dem Wald heraus und marschierte auf Seem zu. Er sah nicht so aus, als würde er sie angreifen wollen. Zumindest sprang er nicht wie aus dem Nichts mit gefletschten Zähnen und gezückten Klauen auf sie zu, so wie heute bei ihm.

Was wollte er hier? Hatte sie die Tiger doch auf Nakim gehetzt? Seem warf Nakim einen kurzen, genervten Blick zu. Er verstummte sofort innerlich und sie wandte sich wieder dem Tiger zu, der nun vor ihr stand. Er war groß. Sein Kopf war auf Seems Augenhöhe. Es wäre eine Leichtigkeit für ihn gewesen, sie einfach zu packen und dann zu fressen. Was hätte sie schon tun können? Seine Säbel anspucken?

Seem sah direkt in die Augen des Tigers, was Nakim seltsam vorkam, denn sie hatte es immer vermieden, in seine zu schauen. Sie sahen sich stumm an, bis Seem die Stille mit ihrer weichen Stimme brach:

»Wir sind nicht eure Mahlzeit. Ihr müsst woanders suchen.«

Der Tiger sah zu Nakim herüber. Nakim ballte die Fäuste für den Fall, dass er wieder von ihm angegriffen werden würde.

»Er wäre es fast gewesen, wenn du dich nicht dazu entschieden hättest, ihm zu helfen.« Die Stimme des Tigers war rau und tief. Sie rasselte leicht, als er redete.

Nakim zog scharf die Luft ein. Er hatte eine Stimme! Wie war das möglich? Seit wann konnten Tiger reden? Konnten Tiere überhaupt reden? Was zum Drachenmist geschah hier wieder?

»Und seine Freunde sind ebenfalls nicht für euch bestimmt«, fuhr Seem unbeirrt fort.

»Wir haben Hunger«, entgegnete ihr der Tiger und ein Rascheln kam hinter ihm aus dem Wald. Nakim wandte seinen Blick den Bäumen und Büschen zu und er erschrak erneut, als er sah, dass Seem und ihn ein ganzes Dutzend leuchtender, goldener Augen beobachteten.

»Ihr Drachenfreund würde sich bei euch rächen. Dein ganzes Rudel würde in Gefahr geraten bloß für eine Mahlzeit. Sazenusch, du bist stark. Ihr seid stark. Sucht woanders. Ihr seid nicht auf diese Beute angewiesen.«

Er schnaubte auf. Dann warf er Nakim noch einen undefinierbaren Blick zu. Ohne ein weiteres Wort machte er kehrt und verschwand wieder im Wald. Der Wald raschelte, als das ganze Rudel davonrannte. Seem sah zu Nakim. Sie lächelte ihn besorgt an.

»Du kannst wieder atmen.«

»Sp… sprechen die immer schon?«, stotterte Nakim fassungslos.

»Nur sehr selten«, erwiderte sie.

»Wie hast du das gemacht?«, fragte er und seine Stimme driftete wieder in eine höhere Tonlage ab.

Sie lächelte ihm mysteriös zu. »Berufsgeheimnis.«

Sie lief auf die Kanne zu, schenkte sich Tee ein, ging dann wieder gemächlich zurück und setzte sich erneut hin. Erst atmete sie genüsslich den Duft des Tees ein und dann nahm sie einen Schluck. Sofort entspannten sich ihre Gesichtszüge und sie lächelte glücklich. Sie sah so friedvoll aus, dass sich Nakim eigenartigerweise neben sie setzen und sie von Nahem beobachten wollte. Ein Schauer durchfuhr seinen Körper. Das gefiel ihm ganz und gar nicht. Hatte er gerade wirklich an so etwas Qualliges gedacht? Er verweichlichte eindeutig viel zu sehr neben Simôn und diesem Teddydrachen! Doch als sein Blick wieder zu Seem fiel, wie sie einen weiteren Schluck von ihrem Tee nahm, da durchzog ihn ein warmes Gefühl. Wäre es so schlimm, wenn er sich an sie lehnen kön… Er stockte innerlich. Und dann schüttelte er demonstrativ den Kopf, so als würde er diese nervigen Gedanken loswerden wollen. Er wandte den Blick auf seinen Tee. Und trank wieder etwas. Was war nur los mit ihm?

Nuvayla 2

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