Читать книгу Nuvayla 2 - Meryem H. Akgün - Страница 5

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3 | Wenn das Fass rinnt, muss man die Reifen treiben

Nach zwei Tagen Flug bemerkte Nuvay eine Veränderung unter ihnen. Die Berge verschwanden und ein schier unendlich wirkender Wald machte sich unter ihnen breit. Wohin ihre Augen blickten, waren Bäume. Nichts außer Bäumen. Kaleb schien tiefer zu fliegen, denn die Baumkronen kamen ihnen immer näher, desto weiter sie in dieses Reich der Bäume eindrangen.

»Ist das der Königswald?«, rief Nuvay laut in den Himmel hinaus.

»Ja, wir sind über Luk Uhray, dem Königswald«, antwortete Kaleb und sie spürte die Vibration beim Sprechen an seinem warmen Hals.

»Warum fliegst du tiefer?«, fragte sie weiter.

»Tu ich nicht«, sagte Kaleb diesmal.

Nuvay beugte sich leicht vor und sah nach unten. »Aber die Bäume sind uns viel näher«, meinte sie unsicher.

Kaleb lachte auf. »Da kann ich auch nichts für«, erwiderte er. Sie spürte plötzlich, wie sich Simôn hinter ihr bewegte. »Das müssen riesige Bäume sein«, bemerkte er. Es war das erste Mal, dass er sprach, während er auf Kalebs Rücken saß. »Wahrscheinlich über Hunderte von Metern hoch!«

Nuvay beugte sich wieder nach unten und dann verstand sie. Sie zog die Luft scharf ein.

»Unmöglich«, flüsterte sie fassungslos. Ihre Brust fühlte sich beim Anblick dieser großen Bäume unter ihnen eng an. Ein Ozean voller riesiger Bäume.

»Heißen die Königsbäume?«, fragte sie dann aufgeregt.

Kaleb lachte erneut. »Nein, das sind Mammutbäume.«

Die kleinen Härchen auf ihrer Haut richteten sich bei diesem Wort auf. »Mammutbäume.« Sie ließ das Wort auf der Zunge zergehen. Ihre Augen wanderten über diese Riesen. Sie lachte wieder.

»Boah! Wie kommt’s, dass wir noch nie von solchen Bäumen gehört haben?«, fragte sie dann. In der Schule hatten sie einige Jahre Geografie und sich der Oberwelt wie auch der Unterwelt gewidmet, aber nie hatte sie etwas von einem Königswald mit Mammutbäumen gehört.

»Was weiß ich. Warum sollt ihr Sachen lernen, die ihr nie zu Gesicht bekommen werdet? Vielleicht deswegen«, entgegnete Kaleb. Sie nickte ihm zu. Ja, vielleicht war das der Grund. Trauer legte sich um ihre Brust. All das blieb ihren Liebsten unter der Erde verborgen. Nie würde ein Mensch aus ihrer Unterwelt dies zu Gesicht bekommen. Sie hatten keine Ahnung, was es alles auf der Oberwelt gab. Sie würden weiterhin in ihrer dunklen Höhle hocken. Plötzlich wurde ihre Aufmerksamkeit von einer Schar von Vögeln gefesselt, die unerwartet unter ihnen aus dem Wald herausschossen. Als Nuvay sie bemerkte klappte ihr die Kinnlade herunter. Sie waren alle fast so groß wie sie selbst. War so etwas überhaupt möglich? Sie wurde vor Aufregung ganz hibbelig. Kurz darauf erreichten sie die Vögel und flogen genau durch sie hindurch.

»Alter! Was ist das?«, hörte sie Nakim verblüfft von hinten. »Das sind ja richtige Monster!«

Simôn fragte: »Was sind das für Vögel? Warum sind die so riesig?«

»Keine Ahnung. Ich bin kein Vogelforscher. Ich fresse die Dinger nur manchmal. Vögel haben viele kleine nervige Knochen«, erwiderte er.

Was hatte Kaleb gestern Nacht gesagt? Im Königswald spiegelt alles die Größe und die Stärke des Königs wider. Die Vögel flogen nun neben ihnen und Nuvay konnte sie beobachten. Es schienen Drosseln zu sein, bloß viel bunter und viel größer. Ihr Gefieder glänzte und glitzerte in den prachtvollsten Farben. Bei einigen dominierte Rot, bei anderen Grün, doch sie schienen alle Farben der Welt zu tragen. Sie umflogen Kaleb unter lautem Piepen und Kreischen. Seine Reisegefährten wurden nicht beachtet. Einer der Vögel schien den Drachen ein wenig seltsam zu finden, denn er setzte sich mitten im Flug plötzlich auf Kalebs Kopf und pickte ihm mehrmals auf die Schuppen. Nuvay lachte. Kaleb schüttelte sich genervt. Der Vogel ließ sich nicht wirklich abwimmeln. Immer wieder flog er kurz weg, um dann erneut auf dem Kopf von Kaleb zu landen. Es schien ihm Spaß zu machen. Er hüpfte freudig auf der Stelle auf und ab. Nuvay kicherte lauter.

»Simôn, guck mal! Wie süß!«, rief sie nach hinten. Simôn musste ebenfalls lachen. Als die anderen Vögel bemerkten, was der eine tat, beschlossen sie, sich ihm anzuschließen. Nuvay quiekte kurz und verwundert auf, als sich zu ihrer Rechten und ihrer Linken Vögel niedersetzten, und sie spürte, wie Kaleb ein wenig an Höhe verlor.

»Alter, was soll das?«, hörte sie Kaleb mit aufkommender Wut in seiner Stimme sagen. »Verschwindet!«

Ein Vogel sah Nuvay ganz neugierig an und pickte ihr dann auf den Arm. Es tat nicht weh, doch Nuvay zuckte erschrocken zurück, worauf der Vogel ebenfalls erschrocken aufflatterte. Simôn hinter ihr lachte: »Wie munter die sind! Und sie haben überhaupt keine Angst.« Er wollte seine Hand ausstrecken und einen berühren, als Kaleb sich schüttelte und alle Vögel davonflogen.

»Sachte, Drache!«, sagte Nakim. »Willst du etwa, dass wir fallen?«

Doch so schnell gaben die Vögel nicht auf. Schon im nächsten Moment waren sie wieder von ihnen umringt und sie pickten und hüpften auf allem, was sie seltsam und interessant fanden. Sie verloren wieder an Höhe und es dauerte nicht lange, bis Kalebs Geduldsfaden riss. Nuvay spürte noch, wie er tief einatmete. Dann stieß er ein markerschütterndes Gebrüll aus, das nicht nur die Vögel um sie herum, sondern auch viele Vögel in unmittelbarer Nähe verjagte. Nuvay sah, wie mehrere Scharen der unterschiedlichsten Art aus den Baumkronen erschrocken hochschossen.

»Geht doch!«, brummte Kaleb und schlug einige Male mit seinen Flügeln und gewann wieder an Höhe. Nuvay lächelte belustigt. Er hatte ihnen gezeigt, wer der Herr der Lüfte war.

Es verging wieder eine Weile, bis Nuvay weit entfernt am Horizont etwas entdeckte. Je näher sie kamen, desto hibbeliger wurde sie. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus und fragte aufgeregt: »Kaleb? Ist das, was da hinten so schimmert, das Meer?«

Simôn war auch schon ganz unruhig geworden. »Nein! Oder doch?«, fragte er unsicher.

Kalebs Antwort enttäuschte beide ein wenig. »Nein, das ist Mernusch. Es hat noch einen anderen Namen. Der fällt mir gerade nicht ein. Jedenfalls ist es ein Fluss«, klärte Kaleb auf.

»Was ist das für ein gigantischer Fluss?«, fragten Simôn und Nuvay wie aus einem Mund. Nuvay drehte sich kurz zu Simôn um, der sie anlächelte.

»Königswald, vergessen? Hier ist halt alles königlich«, entgegnete ihnen Kaleb.

Nuvay musste tief durchatmen. Sie kam sich plötzlich so klein und winzig vor und ein anderer berauschender Gedanke ging ihr durch den Kopf: Wie mächtig war eigentlich der König? Wenn das alles Seins war, wie groß war dann erst er selbst? Ihr Herz fing an schneller zu schlagen. Konnte man ihn deswegen nicht sehen? War er einfach zu groß und mächtig für diese Welt und diese Dimension? Wieder musste sie an Kalebs Worte denken:

»Man sagt, alles in diesem Wald zeigt die Größe und die Stärke des Königs und man kann ihn dort besonders stark spüren.« Sie hatte noch nie in ihrem Leben einen Gedanken daran verschwendet, den König zu spüren. Ja, sie wusste noch nicht mal, dass das möglich war. Ihr Körper erzitterte. Sie flogen weiter über den Königswald. Er war ein mächtiger Ort, der geradezu vor Kraft und Stärke strotzte. Sie fragte sich, wie es sich wohl anfühlen würde, dort unten herumzulaufen. Schon von hier oben spürte sie eine seltsame Atmosphäre. Die Gefühle, die dieser Wald in ihr erweckte, passten nicht in ihre Brust. Sie kam sich so klein und winzig vor. Es war ein berauschendes Gefühl, welches sie so zum ersten Mal spürte.

Sie flogen immer weiter zum Fluss. Dieser wurde zwar immer größer, doch sein Ende am Horizont blieb unkenntlich. Selbst als sie vor seinen Ufern zur Landung ansetzten, sahen sie am gesamten Horizont bloß die Wogen dieses Flusses. Kaleb landete mit einem Ruck auf dem steinigen Ufer. Nuvay sah sich ehrfürchtig um. Das Ufer war gefüllt mit großen, grauen Steinen, die sehr glatt und oval waren. Sie sahen wie überdimensionale Kieselsteine aus. Nakim und Simôn stiegen zuerst ab. Keiner sagte etwas. Jeder schien von diesem Ort gebannt zu sein. Nuvay ließ sich mit dem Abstieg Zeit. Die Luft war seltsam hier. Es war frisch und ein wenig kühl, doch man spürte etwas Mächtiges, was Nuvay nicht definieren konnte. Es war aber nicht erdrückend. Ganz im Gegenteil. Sie spürte eine angenehme Ruhe. Ihr Gemüt atmete auf und ihr Verstand war nicht in der Lage, all das zu verarbeiten. Ehrfürchtig tat sie die ersten Schritte auf einem der großen Steine. Sie waren sicher einen Meter groß, dachte sie. Sie sah auf und ließ ihren Blick zum Wald hinter ihnen wandern. Der Geruch von nassen Pflanzen und Baumrinde lag ebenfalls in der Luft. Was waren das für gigantische Bäume? Sie legte ihren Kopf in den Nacken und sah zu den Baumkronen auf. Diese Mammutbäume waren über hundert Meter hoch. Noch nie in ihrem Leben hatte sie so große Bäume gesehen. Allein eines ihrer Blätter schien größer als Nakim zu sein. Alles war zu groß für ihre Sinne und ihren Verstand. Als würde sie vor einem Heer von gigantischen Riesen stehen, gewappnet für jede Konfrontation.

Kalebs Stimme riss sie aus ihren Gedanken.

»Wir sollten nicht allzu lange hierbleiben. Ich fang uns einen fetten Fisch. Wir essen uns schnell satt und dann fliegen wir weiter. Bevor die Nacht anbricht, sollten wir auf der anderen Seite des Flusses sein. Dort ist es sicherer für uns«, meinte er. Nuvay nickte ihm still zu.

»Was will er?«, fragte Nakim. Bevor Simôn es ihm erklären konnte, flog Kaleb auch schon wieder los und stürzte sich in die Wellen des Flusses. Er tauchte gänzlich hinein und brauchte auch nicht allzu lange, bis er mit einem zwei Meter großen und dicken Fisch im Maul bei ihnen war. Simôn und Nakim bereiteten gemeinsam den Fisch zu und mussten sich dabei richtig anstrengen. Den größten Teil bekam Kaleb, der ihn auch sehr schnell herunterschlang. Nuvay durfte zusehen, wie die beiden Jungs ein Feuer machten und den Fisch brieten.

Kaleb wurde langsam sichtlich nervös. Das dauerte einfach viel zu lange für ihn. Sie hätten schon längst wieder in der Luft sein müssen. Er saß angespannt als Drache zwischen ihnen und wartete dennoch geduldig, bis sie endlich zu Ende gegessen hatten. Ab und zu zuckte sein Kopf in die eine oder andere Richtung und er witterte in der Luft. Sie beeilten sich, und als Simôn mit Nuvay gerade dabei war, die Teller abzuwaschen, horchte Kaleb plötzlich wieder auf. Seine Nüstern bewegten sich. Er schien wieder etwas gerochen zu haben. Er weitete die Augen. Bevor Nuvay fragen konnte, was los ist, befahl er ihnen: »Was auch immer passiert, lauft nicht die Strömung entlang!«

Dann zog er seine Flügel an und sprang ab. Im nächsten Augenblick schwang er sich über den Fluss in die Lüfte und flog davon. Die Reisegefährten sahen einander verdutzt an.

»Was meint ihr? Gibt es Grund zur Sorge?«, fragte Nuvay zaghaft.

Simôn und Nakim sahen einander kurz an und schüttelten dann beide wie abgesprochen die Köpfe.

»Immerhin hat er nichts von verstecken oder abhauen gesagt«, versuchte Simôn zu beruhigen. Ihnen war trotzdem nicht sehr wohl. Jetzt mussten sie auf Kaleb warten. Wie lange er wohl brauchte, um wieder zurückzukommen? Was wohl los war? Er hatte etwas gewittert. Das war klar. Vielleicht war ja die Hexe in der Nähe. Nuvay lief zu ihren Rucksäcken und verstaute schnell und sicher die Teller. Dann setzte sie sich hin und sah sich den Fluss an. Er war ziemlich breit und wahrscheinlich auch tief. Schwimmen, ohne von der Strömung mitgerissen zu werden, war wohl nur für einen Drachen möglich. Irgendwie kam ihr das Wasser hier seltsam vor. Je länger sie auf den Fluss starrte, desto unruhiger wurde er. Oder bildete sie sich das nur ein? Sie wandte langsam den Blick von diesem seltsamen Spektakel ab und drehte sich zu den Jungs, um zu schauen, was die gerade so trieben. Plötzlich fror ihr das Blut in den Adern. Ein großer Schatten lief so eben aus dem Wald und von hinten auf Nakim zu.

»Nakim, hinter dir!«, schrie sie, ohne eine Sekunde zu zögern. Ihr Herz blieb stehen und damit auch die Zeit. Nakims Drehung kam ihr wie in einer Zeitlupe vor. Das große Etwas war schon abgesprungen und in der Luft. Seine scharfen Krallen waren gezückt und kurz davor, sich in Nakim zu bohren. Sein Maul war weit aufgerissen und seine Säbelzähne ebenfalls kurz davor, sein Opfer zu erfassen. Es war ein bizarres Wesen. Komplett in schwarz gehüllt, bis auf seinen goldenen Tigerstreifen. Nakim hob seinen Arm verteidigend an. Mehr konnte Nuvay nicht sehen, denn der schwarze Säbelzahntiger, der so plötzlich aus dem Nichts kam, stürzte sich auf Nakim, der rückwärts zu Boden fiel.

»Nakiiim!«, schrie sie ein weiteres Mal und wollte sich auf den Tiger stürzen, worauf sie ruckartig nach hinten gezogen wurde.

»Du bleibst hier, Nuvay!«, mischte sich Simôn ein. Er bückte sich schnell und griff nach einem Messer, als sie plötzlich ein lautes Fauchen und dann ein Gebrüll, das aber nicht von dem Tiger kam, hörten:

»Verschwindet!«

Sie erstarrte, als sie Nakims Stimme hörte. Ihr kamen die Tränen. Er lebte noch! Der schwarze Kopf des Tigers wurde etwas nach hinten gedrückt, seine Augen funkelten golden auf und Nakim kam zum Vorschein. Das Tier hatte sich in seinem Arm verbissen und Nakim versuchte, es von seinem Oberkörper fernzuhalten. Nuvay jagte es einen kalten Schauer über den Rücken.

»Ihr Narren, worauf wartet ihr? Verschwindet!«, schrie Nakim und verpasste dem Tiger mit seiner freien Faust einen heftigen Schlag auf die Nase, doch es musste ihm sehr wehgetan haben, denn beide gaben ein leises Fauchen von sich.

»Simôn, bring Nuvay in Sicherheit!«, brüllte er und rang weiter mit dem Tiger um sein Leben. Simôn griff nach Nuvays Händen und blickte ihr in die Augen. Sie waren ernst. So ernst und eindringlich hatte er sie noch nie angeguckt.

»Renn!«, befahl er ihr laut und ließ ihre Hände los. Nuvay kamen die Tränen. Ihre Lippen zitterten, aber sie riss sich zusammen und im nächsten Moment spurtete sie schon los.

»Ich bring dich um, wenn Nuvay etwas zustößt!«, hörte sie Nakim brüllen. Sie blickte kurz zu ihm und sah, wie Simôn von hinten auf den schwarzen Säbelzahntiger sprang. Sein Messer blitzte im Sonnenlicht auf. Ihr Herz raste schneller. Das Adrenalin pulsierte in ihren Adern und beschleunigte ihren Körper.

»Ratte! Verpiss dich und pass auf Nuvay auf!«, hörte sie Nakim schreien. Ihre Beine liefen wie von selbst über Steine und Felsen, immer den Fluss entlang. Plötzlich hörte sie ein Knacken im Wald und ein unheimlicher Gedanke schoss ihr durch den Kopf.

Was, wenn diese Tiger Rudeltiere waren? Und sie als schwächstes Glied der Herde getrennt werden sollte? Sie konnte nicht stehen bleiben. Instinktiv rannte und rannte sie weiter. Der wilde Fluss zu ihrer Rechten schien sie weiter anzustacheln. Wurde der Fluss etwa noch wilder oder kam es Nuvay nur wieder so vor? Sie sprang über eine kleine Steinreihe und landete härter als beabsichtigt. Das reichte aber, um sie leicht ins Wanken zu bringen. Schnell hatte sie ihr Gleichgewicht wieder unter Kontrolle und rannte weiter. Nur gut, dass sie so geübt darin war, um ihr Leben zu laufen.

Ein weiteres Knacken ertönte hinter ihr, das ihr durch Mark und Bein ging. Was immer es war, es kam näher. Wenn sich eine ganze Herde von diesen Viechern an ihre Fersen geheftet hatte, dann hatte sie keine Chance. Ihre Muskeln brannten und sie hatte nicht das Gefühl, dass sie entkam. Es war bloß eine Frage der Zeit, bis sie eingeholt werden würde, dachte sie. Sie hörte nun ein zweites Knacken hinter sich. Super! Jetzt hatten sich wirklich alle Tiger an ihre Fersen geheftet! Ob Simôn Nakim helfen konnte? Und wenn jetzt alle Tiere Nuvay verfolgten, waren Nakim und Simôn dann in Sicherheit?

Wenn sie es überlebten, dann würde sie gerne ihr Leben dafür lassen. Ob es schnell gehen würde? Sie weinte beim Rennen und die Tränen liefen ihr über die Wangen. Immer wieder verschwamm die Sicht. Mit dem Unterarm wischte sie sich die Tränen weg. Dann biss sie sich auf die Unterlippe. Noch war sie nicht tot! Was sollten diese Gedanken?

Vor ihr zeichnete sich ein großer, toter Baumstamm ab. In diesem Wald war es wahrscheinlich eher ein einfacher Ast. Er müsste schon länger dort liegen. Sie hörte nun die Verfolger gefährlich nah hinter sich. Ihr fehlte der Mut, sich umzudrehen und nachzusehen, wie dicht sie schon waren. Die letzten Kräfte in sich sammelnd sprang sie ab. Sie landete auf dem Baumstamm. Nun nutzte sie den Schwung aus und sprang noch einmal ab und landete auf der anderen Seite des Baumstammes. Ein Stich schoss ihr durch den Knöchel. Sie verlor das Gleichgewicht und fiel zu Boden. Verdammt! Sie war mit dem Fuß umgeknickt.

Die Tiger waren immer noch hinter ihr! Sie musste weiterrennen! Der Schmerz und die Angst trieben wieder Tränen in ihre Augen, die sie ignorierte. Sie erhob sich. Sie musste weiter. Als sie humpelnd einige schmerzhafte Schritte gemacht hatte, hörte sie einen Schrei. Reflexartig drehte sie sich um und stolperte rücklings auf den Boden. Der Schrei kam von hinter dem großen Baustamm, über den sie gerade gesprungen war. Sie erwartete das Schlimmste. Als jedoch Simôn und Nakim plötzlich über dem Baumstamm zum Vorschein kamen, fielen ihr riesige Königswaldsteine vom Herzen. Anscheinend waren auch alle Gefühle, die man hier empfand, doppelt so groß. Nakims Arm war voller Blut, doch das schien ihn ziemlich kalt zu lassen. Die Jungs erblickten Nuvay und sie erkannte in beiden Gesichtern eine sichtliche Erleichterung. Keiner der beiden blieb stehen. Sie liefen auf Nuvay zu und Nakim streckte ihr seine gesunde Hand hin. Mit einem Zug stand sie wieder auf den Beinen, war jedoch unsicher.

»Was ist los?«, fragte Nakim.

»Knöchel verstaucht.«

»Beiß auf die Zähne!«

»Okay!«

Und schon rannte Nakim los und zog sie hinter sich her. Nakim rannte ziemlich schnell und ihr Knöchel schrie auf. So konnte es nicht weitergehen, dachte Nakim. Nuvay würde in diesem Zustand mit den beiden nicht mithalten können. Er zeigte auf einen größeren Stein vor ihnen.

»Tritt da drauf und dann spring ab!«

»Warum?«, fragte Nuvay irritiert. »Ist der Tiger noch hinter uns her?« Als Antwort bekam sie ein lautes Fauchen. Sie sah sich um. Zwei Säbelzahntiger sprangen gerade über den Baumstamm und einige andere folgten ihnen.

»Tritt auf den Stein und spring auf meinen Rücken!«, sagte Nakim.

»Hältst du das denn aus?«

»Was? Ist das der Zeitpunkt, um dumme Fragen zu stellen?«, schrie Nakim sie an.

»Tu, was er sagt!«, ging Simôn dazwischen. Nuvay nickte. Warum musste sie sich auch genau in diesem Moment verletzen? Sie gefährdete das Leben von allen, die ihr auf der Welt am liebsten waren. Sie versuchte sich auf den Stein zu konzentrieren, der immer näher kam. Kurz davor wurde sie schneller und sprang ab. Nakim hielt immer noch ihre Hand. In der Luft zog er sie zu sich und sie landete auf seinem Rücken. Sofort klammerte sie sich mit ihren Armen um seinen Hals und mit ihren Beinen um seine Hüfte. Nakim und Simôn wurden schneller. Sie drehte sich leicht um und sah, dass der Abstand zu den Tigern, deren Anzahl sich bedenklich vermehrt hatte, zunahm. Sie drehte sich wieder nach vorne.

Was geschah hier gerade? Liefen Simôn und Nakim wirklich schneller als eine Herde von Säbelzahntigern? Nuvays Blick fuhr Nakims verletzten Arm herunter. Er war voller Blut und es tropfte beim Rennen auf den Boden.

»Nakim, dein Arm blutet«, flüsterte Nuvay.

»Halt den Mund!«, erwiderte Nakim.

»Okay«, fiepte sie und klammerte sich noch fester an Nakim. Weitere Tränen rollten ihre Wangen herunter. Der Abstand zu den Tigern wurde immer größer, doch keiner der beiden Jungs hier wurde langsamer oder zeigte auch nur einen Hauch von Müdigkeit. Der Einzige, der wissen konnte, was hier geschah, war wieder einmal Kaleb. Wenn sie diese Situation überlebten, dann hatte Kaleb ihnen eine Menge zu erklären! Er hätte es schon bei Simôns angeblichem Flug tun müssen, doch die Unterhaltung wurde ja durch einen Streit unterbrochen. Sie stritten sich viel zu viel! Mit einem Mal wurde sie wieder ganz unsanft aus ihren Gedanken gerissen. Was um Königs Willen lag da vor ihnen? Egal, was es auch war, es beunruhigte Nuvay.

»Nakim?«, sagte Nuvay mit zittriger Stimme.

»Nerv nicht!«

»Aber …«

»Nuvay! Auf was soll ich mich konzentrieren? Auf dein sinnloses Gelaber oder auf das Wegrennen vor diesen Monstern?«

»Schon gut, tut mir leid! Aber zurzeit solltest du dich vielleicht auch darauf konzentrieren, was vor uns liegt … Oder eher, was halt nicht vor uns liegt!«

Nakim wusste erst nicht, was Nuvay meinte. Als er es endlich auch erkannte, stolperte er vor Entsetzen.

»Nakim!«, schrie Nuvay verängstigt auf. Er fand schnell wieder sein Gleichgewicht und rannte weiter.

»Verdammt!«, fluchte er.

Simôn bemerkte es jetzt auch. »Deswegen hat Kaleb uns gewarnt, in Richtung der Strömung zu laufen«, sagte er und lachte.

Was gab es denn da zu lachen, bitteschön? Langsam drang das Geräusch von fallendem Wasser zu ihnen herüber und Nuvay spürte, dass die Luft feuchter wurde. Plötzlich bremsten beide Jungs ab, denn vor ihnen lag eine Schlucht, die genauso gigantisch war wie alles in diesem Wald. Der Fluss trennte sich in unzählige Wasserfälle und alle stürzten in eine Tiefe, deren Grund sie, durch all das Wasser und den Nebel, der dabei entstand, nicht erkennen konnten.

Nuvay stieg von Nakims Rücken ab und sah hinunter. Sie spürte sofort, wie der Boden vibrierte. Es fühlte sich an wie ein wildes Untier, das unter ihnen wütete. Hätte man ihr gesagt, dass dies das Ende der Welt sei, dann hätte sie es ohne Zweifel geglaubt. Ihr Blick wanderte nach rechts.

Dicke bunte Fische sprangen nacheinander oder zusammen den gigantischen Wasserfall hinunter. Sprangen sie in den Tod? Als sie näher hinsah, bemerkte sie, wie sie kleine Flügel ausbreiteten und im Nebel und Wasser verschwanden. Unter anderen Umständen hätte sie dieses Wunder der Natur zutiefst genossen. Aber dafür blieb jetzt keine Zeit. Denn hinter ihr wetzte schon das Rudel Säbelzahntiger die Krallen …

»Was nun?«, fragte sie nervös.

»Ich glaub, es gibt nur eine Lösung!«, sagte Simôn gelassen.

Das war doch nicht sein Ernst? Erschrocken wandte sie sich an Nakim. Er stimmte ihm mit einem Nicken zu. Dann sah er sich um. Es würde nicht lange dauern und die Tiger würden sich auf sie stürzen, es sei denn, sie sprangen.

Simôn griff nach Nuvays Hand, sah sie eindringlich an und sagte etwas, was sie nicht verstand. Der Wasserfall war zu laut.

»Du brauchst keine Angst haben, Nuvay!«, wiederholte er lauter. Sie nickte ihm benommen zu. Simôn griff nach ihrem Kopf und drehte ihn in Richtung Fluss.

»Siehst du den dicken gelben Fisch da?«, fragte er sie laut. Ein gelblicher Fisch schwamm, immer mal wieder aus dem Wasser springend, auf den Wasserfall zu. Er war ganz in ihrer Nähe.

»Ja?«, antwortete sie.

»Dann schnapp ihn dir!«, fügte er hinzu und bevor Nuvay verstand, was er damit meinte, rannte er auf den Abgrund zu, zog Nuvay hinter sich her und warf sie mit einem kräftigen Schwung auf den gelben Fisch, der gerade elegant mit ausgebreiteten Flügeln den Wasserfall heruntersprang.

Schon in der Luft, schrie Nuvay: »Ihr seid doch wahnsinnig!«

Der Wind sauste ihr um die Ohren. Wie soll ich dieses blöde Vieh denn fangen, dachte sie noch, als der gelbe Fisch ihr immer näher und näher kam. Da klatschte sie gegen ihn und versuchte sich irgendwo festzuhalten. Er war glitschig. Immer wieder rutschte sie ab. Dann hatte sie endlich an einem der Schuppen einen festen Halt. Bloß nicht abrutschen, ging ihr durch den Kopf. Einfach war es nicht, denn der Fisch hatte angefangen erschrocken zu zappeln. Es kam ihr vor wie ein Rodeo mit einem Fisch in der Luft. Schon der Gedanke war schräg, musste sie zugeben. Sie wurden vom Wassernebel verschluckt.

Simôn atmete erleichtert aus. »Ging doch gut.«

»Selbst kurz vor dem Tod kann dieses Mädchen nicht aufhören zu reden«, brummte Nakim besorgt.

Simôn sah zu Nakim. »Gut, jetzt du!«, sagte er und wollte gerade nach seiner Hand greifen, um auch ihm den nötigen Schwung mitzugeben, als Nakim seine Hand wegzog.

»Glaubst du doch selber nicht!«, erwiderte er und packte sich Simôn. Er hob ihn über seinen Kopf und rannte auf den Abgrund zu.

»Nakim warte! Du blutest! Lass dir helfen!«, wandte Simôn ein. Das stimmte. Sein Arm schrie schmerzvoll auf. Doch er ignorierte es und warf Simôn auf einen grünen Fisch, der soeben den Wasserfall heruntersprang.

Auch Simôn bekam den Fisch nach anfänglichen Schwierigkeiten zu packen. Nakim atmete erleichtert aus. Er sah nach hinten und bemerkte, dass die Tiger nur noch einige Schritte entfernt waren. Seine Wunde pochte und er atmete schnell. Langsam verließ ihn die Kraft, und auch sein Verstand schien allmählich zu versagen. Er fokussierte einen grauen Fisch, ging in die Knie, sammelte all seine Kraftreserven und sprang ab.

Der Tiger schlug mit seinen Krallen nach dem Menschen aus, doch Nakim entwich ihm um Haaresbreite und der Tiger fauchte frustriert hinter ihm her. Er sah, wie der Mensch versuchte, den grauen Fisch zu packen, doch sein schwacher Arm ließ es nicht zu und er rutschte ab. Im nächsten Moment verschluckte ihn der Wasserfall.

»Fischfutter …«, flüsterte der Tiger enttäuscht und drehte sich zu seinem Rudel.

Nuvayla 2

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