Читать книгу Tödliche Klamm - Mia C. Brunner - Страница 10

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»Und ist deine Schätzung denn wirklich korrekt?« Florian hob die Hand und winkte der Kellnerin, die zwei Tische weiter ein älteres Ehepaar bediente, ihm jetzt aber freundlich zunickte und ihm so signalisierte, dass sie gleich an ihren Tisch kommen würde.

»Wenn ich eine Aussage treffe, ist das keine Schätzung, sondern eine exakte Bestimmung des Todeszeitpunktes. Außerdem wollten wir hier nicht über die Arbeit sprechen«, bemerkte Ewe leicht genervt und trank schnell den letzten Schluck des Bieres aus, denn die Kellnerin war schon auf dem Weg zu ihnen.

»Noch ein Weizen, bitte«, rief er ihr entgegen und sah dann zu seinem Freund.

»Für mich auch«, brummte Florian und hielt der jungen Frau an ihrem Tisch wortlos sein leeres Glas entgegen, ohne sie anzusehen.

Erwin Buchmann schüttelte verständnislos den Kopf. »Was ist denn los mit dir? Noch nicht einmal zwei Wochen bei der Arbeit und schon wieder urlaubsreif«, bemerkte er belustigt, als die Bedienung mit den leeren Gläsern und den Tellern abgezogen war. »In Zellamsi warst du eindeutig netter zu den hübschen Kellnerinnen. Und die eben war doch ganz süß.« Ihr gemeinsamer Urlaub im schönen Ort Zell am See in Österreich hatte eigentlich nur aus täglich zwei Stündchen Skifahren und vielen feuchtfröhlichen Stunden Après-Ski auf diversen Hütten bestanden. Florian konnte sich gar nicht erinnern, ob er in den zwei Wochen überhaupt mal richtig nüchtern gewesen war. Jedenfalls ist der liebevolle Begriff »Zellamsi« aufgrund der ständig schweren Zunge und der vielen arabischen und asiatischen Touristen, die es nicht besser wussten, einfach hängengeblieben.

»Zwölf Jahre liegt die Leiche der Frau schon in der Breitachklamm?« Florian ging auf die Bemerkung seines Freundes gar nicht ein. »Und die Todesursache?«

»Mein Gott, Florian, jetzt reicht’s aber.« Ewe sah ihn ärgerlich an. »Ja, zwölf Jahre. Todesursache war ein Genickbruch, DNA ist bestimmt. Steht alles im Bericht, den du dann morgen lesen kannst.«

»Aber …«

»Schluss jetzt. Trink!«, befahl Ewe, als die junge Kellnerin das Bier brachte und Florian zuzwinkerte. Der lächelte nur etwas gequält, griff nach dem Glas auf dem Tisch, aber anstatt einen Schluck zu nehmen, stellte er es zurück und ließ es gleich wieder los. Dann rieb er sich mit beiden Händen über das Gesicht.

»Mit der Arbeit lenkst du dich nur ab«, stellte Florians Freund besorgt fest. »Was ist los mit dir?«, wiederholte er, hob sein eigenes Glas und stieß es sanft klirrend gegen das zweite. »Trink!«

»Christian hat mich heute auf dem Präsidium besucht«, erwähnte Florian schließlich fast tonlos.

»Dass das Arschloch sich noch in deine Nähe traut, nach allem, was er dir angetan hat.« Ewe schüttelte fassungslos seinen Kopf. »Der ist sich wohl nicht bewusst, wie wir Allgäuer so etwas regeln. Der hätte sich leicht eine fangen können, der Idiot.«

»Hat er ja.«

»Was hat er?«

»Hab ihm voll eine …!« Ganz unbewusst rieb sich Florian die rechte Hand, die zur Faust geballt war, starrte dann auf seine Hände und fuhr sich schließlich nervös durchs Haar.

Als er aufsah, lächelte Ewe zufrieden und nickte. »Er hat es verdient«, schloss der junge Gerichtsmediziner und nickte zur Bekräftigung seiner Worte. »Niemand spannt einem Allgäuer ungestraft seine Freundin aus.«

»Das ist ja das Problem«, fuhr Florian nach kurzem Zögern fort. »Die Sache mit Jessica ist nie passiert.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Ach, scheiße, Mann. Jessica hat mich nicht betrogen. Das hat sie nur behauptet, um mich ganz schnell loszuwerden. Und ich habe nicht die leiseste Ahnung, warum.«

»Versteh mir einer die Frauen«, sagte Ewe nach kurzem Zögern und versuchte noch einmal, seinen Freund zum Trinken zu animieren, indem er sein Weizenglas anhob und ihm zuprostete.

»Wem sagst du das.« Florian nickte heftig. »Ich hab ja schon Schwierigkeiten, die Allgäuer Frauenwelt zu verstehen, aber die norddeutschen Frauen sind um Längen schlimmer. Es ist, als würde man eine andere Sprache sprechen.« Dann griff er endlich nach seinem Bierglas, hielt aber erneut inne. Der Ausdruck auf seinem Gesicht verriet, dass er angestrengt nachdachte. Schließlich nickte er erneut. »Es ist tatsächlich eine andere Sprache, die wir sprechen. Es ist nicht gut, sich mit Frauen einzulassen, die eine völlig andere Mentalität haben als man selbst. Schluss mit der Sache. Prost, Ewe.«

Der Gerichtsmediziner trank einen großen Schluck aus seinem Glas und sah seinen Freund dann lange und durchdringend an. Er begriff, dass Florian mit der Angelegenheit noch nicht abgeschlossen hatte und Jessica nicht so leicht aufgeben konnte, wie er behauptete.

»Du bist mein Freund, also darf ich es geradeheraus sagen: Du bist ein Idiot, wenn du nicht siehst, dass du und Jessica, dass ihr euch ähnlicher gar nicht sein könnt. Beide Sturschädel, beide rechthaberisch, beide starke Persönlichkeiten, die sich nie etwas sagen lassen. Gleiche Mentalität – gleiche Art Probleme zu lösen, nämlich durch Vermeidung und Weglaufen. Daran kann es also wirklich nicht liegen! Ihr sprecht absolut die gleiche Sprache!«

»Gibt es schon Neuigkeiten von der Staatsanwaltschaft?«, wollte Hauptkommissar Kern wissen. Er saß wie üblich in seinem bequemen Lederstuhl hinter seinem Schreibtisch und nippte vorsichtig an der Tasse mit dem heißen Kakao, den Jessica ihm aus der kleinen Teeküche im zweiten Stock mitgebracht hatte. »Sobald wir die Unterschrift haben, planen wir den Einsatz. Reischmann und Willig sind mir als Unterstützung zugeteilt.«

»Noch ist nichts gekommen. Ich kann noch mal anrufen«, bot Jessica an und griff schon nach dem Hörer.

»Himmel, nein. Es ist doch schon 14 Uhr«, fuhr Kern dazwischen. »Wenn wir den Wisch in der nächsten Stunde kriegen, dann müssen wir heute noch los.« Er schüttelte heftig den Kopf und lächelte dann wissend. »Sie müssen noch viel lernen, Fräulein Grothe.«

Jessica drehte sich um und rollte mit den Augen, atmete tief ein und aus und ging dann zurück zu ihrem Schreibtisch. Was dachte ihr Kollege sich nur dabei, sie »Fräulein« zu nennen. Sie war doch nicht seine Sekretärin oder gar Dienstmagd. Bereits mehrmals hatte sie daran gedacht, ihm das Du anzubieten, um diese ungeliebte Anrede zu umgehen, doch das konnte sie nicht tun. Er war beinahe doppelt so alt wie sie. Das gehörte sich einfach nicht.

»Wäre es nicht besser, wir würden abends die Razzia durchführen, Herr Kern?«, schlug sie zum wiederholten Male vor. »Immerhin geht es um einen Club. Da ist doch am Nachmittag noch nichts los.«

»Und das ist gut so«, bestimmte Hauptkommissar Kern und nickte. »Ich stürme bestimmt keinen Puff mit zwei Frischlingen und einer zierlichen Blondine, Fräulein Grothe. Haben Sie eine Vorstellung, was dort für ein Gesocks rumhängt? Da müsste ich um unser aller Sicherheit fürchten.«

»Erfahrungsgemäß kann ich da nur sagen, dass abends die Wahrscheinlichkeit höher ist, die großen Fische zu erwischen. Und das ist doch der Sinn der Sache, oder?«

»Nicht für mich«, sagte Kern lächelnd und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Ob wir jemanden verhaften oder nicht, ist völlig irrelevant. Die Kriminalitätsrate wird durch zwei oder drei Verhaftungen mehr kaum merklich sinken. Das ist wie ein Kampf gegen Windmühlen. Sie müssen da viel entspannter werden, Fräulein Grothe.«

»Hören Sie verdammt noch mal auf, mich ›Fräulein‹ zu nennen«, explodierte Jessica urplötzlich. »Ich heiße Frau Grothe, oder eben Jessica, Herr Kern!«

Der Hauptkommissar stand langsam von seinem Platz auf und ging mit versteinerter Miene um den Schreibtisch herum, verschränkte die Arme vor seiner Brust und starrte seine junge Kollegin wortlos an.

Und Jessica starrte ungeniert zurück.

Dann lächelte Kern etwas überheblich. »Eine andere Anrede als diese müssen Sie sich bei mir erst einmal verdienen, Fräulein Grothe!«

Alexander Richter sah den Hauptkommissar kritisch von oben bis unten an.

»Falls du vorhast, am Training teilzunehmen«, begann er und grinste breit, »kann ich dir sagen: Gegen meine Jungs siehst du echt alt aus, Flo.«

»Sehr witzig, Alex.«

Die letzten zwei Arbeitstage waren hart gewesen. Das lag weniger daran, dass die Arbeit besonders stressig war, als vielmehr an der Tatsache, dass er nach dem Abend mit Ewe einfach zu wenig Schlaf bekommen hatte. Heute hatte er frei, hatte endlich mal wieder sieben Stunden am Stück geschlafen und genoss den Tag bei einer ausgiebigen Joggingrunde durch Durach und am Sportplatz vorbei. Die kalten Temperaturen machten ihm wenig aus. Es hatte seit zwei Tagen nicht mehr geschneit und die Wege waren gut geräumt und gestreut.

»Warum trainierst du draußen? Ich dachte, Rugby ist so ein Ding mit auf den Boden werfen und sich im Dreck suhlen. Das könnte bei den Minusgraden und dem gefrorenen Rasen sehr schmerzhaft werden.« Florian beobachtete die Jungs, die in einer großen Runde am Rand des Spielfeldes entlangliefen und sich dabei lachend miteinander unterhielten. Keiner der jungen Männer war älter als 25 Jahre, schätzte er, doch nahezu alle waren muskelbepackt und extrem durchtrainiert und breitschultrig.

»Die Jungs laufen sich nur ein wenig warm, dann geht’s zum Krafttraining«, erklärte Alex und brüllte ein paar Befehle über den Sportplatz. »Außerdem verwechselst du diese Sportart wohl mit American Football. Rugby ist ein sehr taktisch geprägter Sport. Gibt es eigentlich schon etwas Neues im Wiedemann-Fall?«

Florian schüttelte den Kopf. »Auf den Überwachungsvideos, die du uns gegeben hast, ist nichts Verwertbares zu finden. Einmal sieht man einen Schatten, mehr nicht. Wieso ist die Haustür eigentlich nicht visuell überwacht, wenn doch ansonsten das ganze Haus von allen Seiten gefilmt wird?«

»Ja, das ist auch so eine Sache.« Alexander Richter lehnte sich rückwärts an den Zaun, der den Sportplatz von der Straße abtrennte, und rieb sich mit der rechten Hand über das Gesicht.

»Das Gerät ist zwei Tage vor dem Vorfall ausgefallen, ausgerechnet«, fluchte Alex und ballte die Hände zu Fäusten.

»Ist euch das bei Richter Security denn nicht aufgefallen?«, fragte Florian und begann, ein wenig auf der Stelle zu hüpfen. Wenn er sich bei diesen Temperaturen nicht bewegte, war es trotz langer Unterhose, Schal und Mütze in seiner Joggingkleidung ziemlich kalt.

»Natürlich ist es uns aufgefallen«, erklärte der Rugbytrainer. »Wir haben Dr. Wiedemann auch umgehend informiert, doch er wollte aufgrund seiner mehrtägigen Abwesenheit die Reparatur erst eine Woche später vornehmen lassen. Jetzt allerdings behauptet er, er hätte nicht einschätzen können, wie gefährlich so eine ausgefallene Kamera für die Sicherheit seines Hauses und seiner Frau ist. Er droht, Richter Security zu verklagen, weil wir die Situation unterschätzt und ihm nicht eindringlich genug die Risiken vermittelt hätten.« Nun seufzte er vernehmlich.

»Glaubst du, die Kamera ist absichtlich zerstört worden?«, fragte Florian. »Das würde hervorragend zu einem geplanten Einbruch passen.«

»Kann sein. Wir überprüfen das Gerät gerade. Aber ist denn überhaupt etwas gestohlen worden?«

»Monika Wiedemann, die Ehefrau, vermisst ihre Kette. Irgendein mit Diamanten besetztes Teil aus Platin. Ist laut Expertise über 25.000 Euro wert. Mehr fehlt scheinbar nicht.«

»Oh Mann, das ist nicht gut für das Image meiner Firma«, bemerkte Richter, rieb sich mit Daumen und Zeigefinger über den Nasenrücken und kniff die Augen fest zusammen. »Scheiße.«

»Wird schon, Alex.« Florian boxte ihm aufmunternd gegen den Oberarm. »Ich muss weiter. Ruf mich an, wenn du weißt, was mit der Kamera passiert ist, okay?«

Als Alexander Richter nickte, hob Florian zum Gruß noch einmal die Hand und setzte seine Joggingrunde fort.

Tödliche Klamm

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