Читать книгу Kritik des Zionismus - Micha Brumlik - Страница 6
Vorbemerkung
Оглавление„Der nationale Begriff des Judentums führt nach Palästina, der jüdische nach Zion.“
Gershom Scholem1
2008 wird der Staat Israel mit seiner 1967 zur Hälfte annektierten Hauptstadt Jerusalem sechzig Jahre alt. Mehr als hundert Jahre nach ihrem ersten Auftritt befinden sich Idee und Staat der jüdischen Nationalbewegung nicht nur in der Krise – gegenwärtig zeichnet sich nicht weniger als die Selbstzerstörung des zionistischen Vorhabens ab. Diesem Selbstzerstörungsprozess liegen jene widersprüchlichen Tendenzen des modernen Judentums zugrunde, die zu lösen die zionistische Bewegung mit ihrem Nationalgedanken angetreten war.2 Der Zionismus trat in Konkurrenz zu anderen Entwürfen zur Behebung der je unterschiedlich ausgeprägten „Judennot“: zum westeuropäischen Assimilationismus, der das Judentum konfessionalisieren wollte, zu unterschiedlichen Spielarten des jüdischen Sozialismus, die alle darauf setzten, mit der Lösung der sozialen Frage zugleich jede Form der Judenfeindschaft zum Verschwinden zu bringen, sowie zu Varianten eines ethnisch verstandenen Kulturjudentums, das sich im Russland des späten Zarismus als ethno-kultureller Sozialismus verstand (die jiddisch sprechende Gewerkschaftsbewegung) oder als hebräischsprachiger, aber nicht staatsbildender „Kulturzionismus“ auftrat. Tatsächlich gingen diese idealtypisch so verschiedenen Motive in der Realität beinahe beliebige Kombinationen ein, die zu entfalten hier nicht der Ort ist. Von ihnen allen unterschied sich der politische Zionismus sowohl durch seinen Territorial- als auch durch seinen Staatsgedanken, wobei keineswegs immer klar war, dass als einziges Territorium für einen Judenstaat Regionen des biblischen Landes Israel in Frage kamen.
Als Reaktion auf die Judenfeindschaft entstanden – voneinander zunächst unabhängig – zuerst in Russland,3 dann nach der französischen Dreyfus-Affäre4 und mit dem Auftreten des Wiener Journalisten Theodor Herzl5 auch in England, Deutschland und Österreich kleine jüdische Nationalbewegungen, die die Judenfeindschaft als mittelfristig oder überhaupt nicht behebbare gesellschaftliche, ja sogar biologische Tatsache ansahen und daher den Exodus der bedrohten Juden in ein ungefährdetes, selbstregiertes Territorium am Rande der Einflusszonen der damaligen Großmächte erwogen, also den Exodus in eine nationale Heimstätte im südlichen Lateinamerika, Argentinien, in Ostafrika oder eben im osmanischen Reich: im Sinai oder dem biblischen Land Israel, in Palästina.6 Die ersten zionistischen Einwanderergruppen nach Palästina – vor und nach dem Ersten Weltkrieg – trachteten zudem nach der Erlösung des in der Diaspora deformierten jüdischen Körpers durch kollektive Arbeit an der Scholle.7 Schließlich verband sich dieser lebensreformerische Sozialismus8 nicht nur mit einem romantischen Nationalismus9, sondern eben auch mit einem bürgerlichen Machtstaatsdenken, das die Rettung des in Europa bedrohten jüdischen Volkes allein durch den Aufbau einer jüdischen Armee, die militärische Eroberung des künftigen Territoriums beiderseits des Jordans und die Masseneinwanderung in Städte und nicht-sozialistische Siedlungen garantiert sah.10 Es war endlich der Junikrieg des Jahres 196711 und die mit ihm verbundene Eroberung der Sinaiwüste, der Golanhöhen, Ostjerusalems und der Klagemauer sowie des Westjordanlandes, die die Selbstzerstörung des zionistischen Vorhabens einleitete.12 Der auf Vertreibungs- und nicht auf Vernichtungsantisemitismus hin angelegte jüdische Staat – ein Staat, der den Holocaust auch dann nicht hätte verhindern können, wenn er vor 1933 gegründet worden wäre13 – sah sich 1967 einer Vernichtungsdrohung ausgesetzt, gewann aber mit seinem raschen Sieg jene Territorien, um die es dem religiösen Judentum immer gegangen war. Seither stellt Jerusalem14 – politisch gesehen – nicht die Lösung, sondern das Problem in seiner intensivsten Form dar. An der Frage, wie der Staat Israel, der sich seit mehr als sechzig Jahren durch mindestens fünf Kriege und eine prekäre Besatzungsherrschaft selbst erhalten hat, mit den von ihm beherrschten Palästinensern, seinen Nachbarn, Frieden finden soll, scheiden sich seither immer wieder die Geister, nicht zuletzt auch unter den Juden selbst.15
Der Zionismus und der Staat Israel sind für den Autor dieser Zeilen immer wieder Anlass zu Diskussion und persönlicher Reflexion gewesen. Der vorliegende Essay schließt sowohl an seine Studie „Weltrisiko Naher Osten“ aus dem Jahr 1991 als auch an biographische Aufzeichnungen an, die 1996 unter dem Titel „Kein Weg als Deutscher und Jude“ erschienen sind. Doch geht es diesmal, anders als in den biographischen Aufzeichnungen, nicht darum, persönlich über das Verhältnis zu Zionismus und Antizionismus Rechenschaft abzulegen, sondern um den Versuch einer geschichtsphilosophischen Kritik. Anhand der neu entbrannten innerjüdischen Debatte zum Staat Israel und seiner Politik gegenüber den Palästinensern führt das erste Kapitel in die Thematik ein, während im zweiten Kapitel die Grundsätze einer geschichtsphilosophischen Kritik skizziert werden. Das dritte Kapitel klärt den Begriff des „Nationalstaats“, während das vierte Kapitel die Gründe des internen Scheiterns der zionistischen Idee über jenen Jahrzehnte währenden Dialog nachzeichnet, den die deutsch-jüdische Philosophie der Krise geführt hat. Das fünfte Kapitel gilt dem Versuch, die Perspektive zu weiten und zu belegen, dass das externe Scheitern dieses europäischen Expansionsversuchs aus seiner Ungleichzeitigkeit mit anderen Entwicklungen zu erklären ist. Das letzte, sechste Kapitel ist der gegenwärtigen Epoche des Postzionismus gewidmet und soll zeigen, dass nach vermeintlichem Erfolg und letztendlichem Scheitern des Zionismus, also nach dem Ende dieser Weltanschauung, nur noch die Sorge um die jüdische und arabische Bevölkerung Israels und Palästinas sowie eine dem entsprechende entschiedene Solidarität bleibt – eine Solidarität, die sich freilich nie anmaßen darf, den verfeindeten Akteuren, seien sie nun Juden oder Palästinenser, Ratschläge zu erteilen, deren Folgen die Ratgeber ja selbst nicht auszutragen haben.