Читать книгу Kritik des Zionismus - Micha Brumlik - Страница 8
Kapitel II Zur Methode der Kritik
Оглавление„Zuerst müssen wir beachten, dass unser Gegenstand, die Weltgeschichte, auf dem geistigen Boden vorgeht.“
G. W. F. Hegel
Nach den einleitenden Bemerkungen zur innerjüdischen Debatte werden Leserinnen und Leser nicht mehr erwarten, als „Kritik des Zionismus“ eine weitere anklagende Bewertung der völker- und menschenrechtsverletzenden israelischen Besatzungspolitik im Westjordanland, in Gaza und auf den Golanhöhen zu lesen. Diese Politik ist durch die Medien reichlich bekannt und durch die Untersuchungen sowohl israelischer als auch internationaler Menschenrechtsorganisationen bestens belegt. Im Jahr 2006 etwa setzte die gegenwärtige israelische Regierung nicht nur gegen das Völkerrecht und wiederholte Resolutionen unterschiedlicher UN-Gremien die Besiedlung des Westjordanlandes weiter fort, nein, ihr als Polizei eingesetztes Militär tötete 2006 auch mehr als 670 Palästinenser, darunter 50 Kinder. Dem stehen 25 israelische Todesopfer gegenüber, während bei Kämpfen zwischen palästinensischen Gruppen 164 Menschen umgebracht wurden. Von jüdischen Siedlern an Palästinensern begangene Tötungsdelikte bleiben häufig straffrei, die Ausdehnung des gegen Selbstmordattentäter gerichteten Sperrzauns hält sich in vielen Fällen nicht an die Waffenstillstandsgrenze von 1948, die Konfiskation und Zerstörung palästinensischen Landbesitzes geht weiter wie seit Jahren und auch die Bewegungsfreiheit der im besetzten Westjordanland lebenden Palästinenser ist erheblich eingeschränkt – eine wesentliche Ursache für die hohe Arbeitslosigkeit und die damit verbundene, oft zu Hunger und Krankheit führende Armut unter Palästinensern. Derzeit leben aufgrund dieser Verhältnisse zwei Drittel der Palästinenser in den besetzten Gebieten unter der Armutsgrenze.1 Das Straßen- und Verkehrssystem im Westjordanland schikaniert die dort lebenden Palästinenser entweder durch den Ausschluss von bestimmten Straßen oder durch den Zwang zu nur schwer erhältlichen Sondergenehmigungen. Im von Israel wegen der Hamas-Regierung abgeriegelten Gazastreifen droht unterdessen ein wirtschaftlicher Kollaps mit unabsehbaren humanitären Folgen. In Israel selbst herrscht jedoch keine Apartheid, die dort lebenden palästinensischen Nichtjuden genießen bei geringfügiger Diskriminierung gegenüber dem jüdischen Bevölkerungsteil weitaus mehr demokratische und Menschenrechte als in sämtlichen anderen Staaten der Region, während umgekehrt die Lage der Palästinenser im besetzten Westjordanland trotz beginnender Lockerungen in vielen Hinsichten schlechter ist als die der Schwarzen im weiland rassistischen Apartheidsstaat Südafrika.2 Auch die Tendenz des israelischen politischen Systems, eine nun palästinensische Nichtjuden diskriminierende Ethnokratie mit demokratischen Zügen zu werden, sei erwähnt.3 Die seit Jahren vollzogenen, permanenten Rechtsbrüche, die Schikanen, die außergerichtlichen Tötungen, der Hunger, die Arbeitslosigkeit4 und die vom israelischen Militär vollzogenen Tötungen unbescholtener palästinensischer Zivilisten stehen nicht nur in eindeutigem Widerspruch zu international anerkanntem Völker- und Menschenrecht,5 sondern sind für einen Staat, dessen Gründungsurkunde sich auf die biblischen Propheten beruft,6 objektiv beschämend.
All das wahrgenommen und eingestanden, sollen diese Verstöße gegen Völkerrecht und Menschenwürde gleichwohl nicht im Mittelpunkt der hier vorgetragenen Kritik stehen. Das scheint unzeitgemäß – hat man doch seit Jahren auch und gerade in der Ethik gelernt, die Andersheit der Anderen und ihre unverletzliche Würde zum Maßstab der Kritik zu machen. Indes: Eine rein menschenrechtliche – und das heißt in diesem Zusammenhang moralische – Kritik ist schon allein deshalb zurückzuweisen, weil sie nicht radikal genug, weil sie nicht tief genug, nicht bis zu den Wurzeln reicht, daher zu unspezifisch ist und somit ihrem Gegenstand – dem staatsbildenden, politischen Zionismus – äußerlich bleibt.
Die Kritik einer politischen Idee kann schon allein deshalb nicht nur nach diesem Maßstab erfolgen, weil alle Politik, die sich durchsetzen und nicht nur appellieren will, ohnehin und ganz unabhängig von ihren jeweiligen Zielen gewaltsam ist. Eine Politik, die nicht auf Widerstände stößt und sie gegebenenfalls gewaltsam zu überwinden sucht, so ließe sich sagen – ist gar keine. Die Ernsthaftigkeit politischen Wollens wird sich gerade darin erweisen, dass sie dem Willen und Wollen anderer entgegensteht. Vor allem aber übergeht die nur moralische Form der Kritik eine grundlegende Frage: ob – und wenn ja nach welchen Kriterien – es überhaupt einen legitimen Anspruch partikularer, ethnischer Gemeinschaften auf eigene staatliche Selbstbehauptung geben kann? Eine nur humanitäre Kritik, so unverzichtbar sie gerade in ihrer Unbedingtheit auch sein mag, übergeht dies wesentliche Problem zu schnell. Die physische und kulturelle Selbstbehauptung des Judentums war das Ziel des Zionismus. Der staatsbildende Zionismus aber war genau jene epochale politische Form, die das seit Jahrtausenden existierende Judentum der europäischen Moderne anverwandeln sollte; daher hat eine spezifische Kritik an eben diesem Anspruch und eben dieser Idee anzusetzen.
So soll die Frage nach den faktischen, moralischen und kulturellen Bedingungen gestellt werden, das jüdische Volk zu einer modernen Nation in einem modernen, ethnischen Nationalstaat umzubilden. Damit geht es hier ausschließlich um eine Kritik des staatsbildenden Zionismus, die von den vielen Formen dieser im 19. Jahrhundert entstandenen Weltanschauung wahrlich nicht die einzige ist. Neben dem Streben nach einem Judenstaat gab es gleichermaßen Vorschläge, auf dem Territorium des biblischen Landes Israel ein geistiges Zentrum zu gründen, das analog zum Verhältnis von Vatikan und Weltkatholizismus dem diasporischen Volk der Juden wesentliche geistige Impulse und eine Identität verleihen sollte, ohne dabei auf Staatsgründung, Souveränität und Masseneinwanderung zu setzen. Die immer wieder verwendete Rede vom „staatsbildenden Zionismus“ wird hier in bewusster Ablehnung und Absetzung von diesem „Kulturzionismus“ verwendet. Das Programm des Kulturzionismus wurde zuerst von dem jüdischen Publizisten Achad Haam7, geboren als Ascher Ginsberg, entfaltet. Doch Martin Buber, während des Ersten Weltkrieges noch durchaus ein überzeugter Parteigänger Deutschlands und Österreich-Ungarns,8 gab dem kulturzionistischen Programm seine radikalste Formulierung:
„Zionismus ist etwas anderes als jüdischer Nationalismus. Mit großem Recht heißen wir Zionisten und nicht jüdische Nationalisten, denn Zion ist mehr als Nation. Zionismus ist Bekenntnis zu einer Einzigkeit. ‚Zion‘ ist kein Gattungsbegriff wie ‚Nation‘ oder ‚Staat‘, sondern ein Name, die Bezeichnung für etwas Einziges und Unvergleichliches. Es ist auch keine bloße geographische Bezeichnung wie Kanaan oder Palästina, sondern es ist von urher ein Name für etwas, was an einem geographisch bestimmten Orte des Planeten werden soll. Was einst werden sollte und was noch immer werden soll; in der Sprache der Bibel: Der Anfang des Königtums Gottes für alles Menschenvolk.“9
Der Kulturzionismus, dem es nicht um die Errichtung eines jüdischen Staates, sondern um die Einrichtung eines geistig-kulturellen, ja eines spirituellen Zentrums für die Juden der Moderne im Land Israel ging, wurde in den oft bitteren Debatten der letzten Jahrzehnte häufig dazu verwendet, Einwände gegen israelische Politiken, die unter dem Etikett einer Kritik am Zionismus vorgetragen wurden, die Spitze zu nehmen. Der völlig richtige Hinweis, dass „Zionismus“ auch etwas ganz anderes, sehr viel minder Konfliktträchtiges sein kann, verdeckt dabei, dass der Stein des Anstoßes in aller Regel das Staatsgründungsprogramm und nicht die Idee einer ethnisch-kulturellen Erneuerung gewesen ist. Tatsächlich verdiente der „Kulturzionismus“, wie wir ihn heute mit den Namen von Achad Haam, Martin Buber, Ernst Akiba Simon10, Jehuda Magnes11 oder Gershom Scholem12 verbinden, eine ausführliche eigene Würdigung – die aber hier um der Deutlichkeit der Argumentation willen unterbleibt. Ein prägnantes, freilich kurioses Beispiel für einen noch jugendlichen, radikalen, ausdrücklich nicht auf Staatsbildung abzielenden Zionismus findet sich in Aufzeichnungen des jungen Gershom Scholem aus dem Jahr 1917:
„Wir wollen Revolution vor allem im Judentum. Wir wollen den Zionismus revolutionieren und den Anarchismus predigen, das ist die Herrschaftslosigkeit … Wir sind Zionisten, und das heißt: wir wollen mehr als das reine Nationaljudentum, das uns noch leer und schematisch erscheint … Wir wollen, wie Achad ha Am, ein Judentum mit jüdischen Inhalten … Den (Herzls Judenstaat, M.B.) lehnen wir ab. Denn wir predigen den Anarchismus. Das ist: wir wollen keinen Staat, sondern eine freie Gesellschaft … Wir wollen nicht nach Palästina, um einen Staat zu gründen, – o du kleinliches Philistertum – und in neue Fesseln aus den alten zu geraten, wir wollen nach Palästina aus Freiheitsdurst und Zukunftssehnsucht, denn dem Orient gehört die Zukunft.“13
Die als „Kulturzionismus“ bezeichnete Strömung wiederum ist idealtypisch von linkszionistischen Konzepten zu unterscheiden, die die Entfremdung der verbürgerlichten und verelendeten Juden West- und Osteuropas durch Rückgang zur Scholle und den Aufbau sozialistischer Lebensweisen auf dem Boden des Landes Israel aufheben wollten. Freilich verdient der sogenannte Linkszionismus seinen Namen nicht – zumindest nicht in dem Sinn, in dem der Begriff „links“ herkömmlicherweise verwendet wird. Tatsächlich war der etwa von Ben Gurion vertretene „Arbeits-“ oder „Arbeiterzionismus“ in keinem vertrauten Sinn sozialistisch: Weder vertrat er universalistische, internationalistische Werte, noch trat er für eine gerechte Verteilung gesellschaftlicher Güter ein. – Demokratie und Partizipation interessierten ihn ebenso wenig wie der Kampf gegen das Kapital. Erhebliche Einkommensunterschiede nahm er ebenso willig hin, wie er die Privilegien von Funktionären der Arbeiteraristokratie schützte. Wenn überhaupt, so gehörte der „Sozialismus“ der zionistischen Arbeitsparteien zu jener Gruppe „nationaler Sozialismen“, die im Europa zwischen den Kriegen zum Nährboden faschistischer Bewegungen wurden, ohne damit identisch zu sein. Dem widerspricht auch nicht der Umstand, dass es diese Spielart des Zionismus war, die in den Gemeinschaftssiedlungen der Kibbuzim eine freiwillige, freiheitliche Form kommunistischer Lebensweisen schuf, die allerdings nur einem einzigen Ziel untergeordnet waren: der Besiedlung der Böden Palästinas. Für Ben Gurion und seine Anhänger waren die Gewerkschaft „Histadruth“ und die mit ihr eng verzahnten, nicht- oder strikt antimarxistischen Arbeiterparteien Institutionen, die ausschließlich dem Ziel dienten, die Infrastruktur für einen sobald wie möglich zu gründenden Staat auszubauen.14 Damit gehört gerade der „Linkszionismus“ zu jener politischen Bewegung, die hier im Unterschied zum „Kulturzionismus“ als staatsbildender Zionismus bezeichnet wird.
Der Grund dafür, sich in diesem Essay auf den staatsbildenden und staatsgründenden Zionismus zu beschränken und nicht auf die utopischen Entwürfe einzugehen, liegt darin, dass allein er vor dem Hintergrund der jüdischen Geschichte eine substanzielle Neuerung darstellte und damit den Begriff einer „jüdischen Erneuerung“ auch wirklich erfüllte. Tatsächlich wurde das säkulare, kulturzionistische Programm lange vor der Moderne seit Jahrhunderten immer wieder von frommen Einwanderern nach Palästina, sei es nach Galiläa in die Stadt Safed, sei es nach Jerusalem, in traditioneller Weise vorgelebt – die religiöse Überzeugung, dass das Erfüllen der Weisung im Land Israel allemal größeren Wert habe als im Exil, spielte dabei eine ebenso große Rolle wie die Hoffnung auf eine unmittelbare Auferstehung dort Gestorbener nach Ankunft des Messias.15
Es versteht sich, dass die idealtypisch verschiedenen Formen des Zionismus in der historischen Wirklichkeit so gut wie niemals in reiner Form vorkamen, sondern sowohl in Personen als auch in Organisationen die vielfältigsten, oft genug auch merkwürdigsten Mischungs- und Kreuzungsverhältnisse eingingen. Am Ende aber war es nicht zufällig der staatsbildende Zionismus, der gegenüber seinen Konkurrenten obsiegte. Politische Ideen gewinnen ihr ganzes Gewicht in den Versuchen ihrer Verwirklichung, d. h. ihrer institutionellen Umsetzung. Ob es dabei immer fair ist, von den Kontingenzen der Institutionalisierung auf den Kerngehalt der Idee zurückzuschließen, lässt sich nicht von vorneherein ermitteln. Ohne das Ernstnehmen einer Wirklichkeit zunächst erstrebenden und schließlich Wirklichkeit werdenden Idee bleibt die Kritik eines politischen Programms allemal ein nur erbauliches Geschäft. In ihrer Absicht weiß sich die hier versuchte Kritik einig mit dem brillanten Versuch Jacqueline Roses16, den Zionismus nicht zu verurteilen oder zu verteidigen, sondern ihn jenseits von Ablehnung und Affirmation zunächst zu verstehen. Doch während Rose den zionistischen Gedanken am Beispiel seines ersten bedeutenden Urhebers, Theodor Herzl, gleichsam psychoanalysiert und in ihm – unter Bezug auf den mystischen Messias Sabbatai Zvi – die kollektive Form einer bipolaren, „messianischen“ Depression, geboren aus kaum verarbeiteten Traumata,17 erkennt, soll es hier nicht um die Aufdeckung unbewusster Motive und Energien, sondern um die beanspruchte Rationalität dieses Programms, seiner Voraussetzungen und Folgen gehen.
Die vorliegende Kritik des staatsbildenden Zionismus versucht dabei einem vergleichsweise strengen, philosophischen Begriff der Kritik zu folgen, wie ihn etwa Immanuel Kant vorgelegt hat. Dabei wird vorausgesetzt, dass die Kritik einer Erkenntnisart nicht mit der Kritik eines politischen Projekts gleichgesetzt werden kann; gleichwohl soll es um Überlegungen gehen, die „nicht zur Erweiterung, sondern zur Läuterung unserer Vernunft dienen, und sie von Irrtümern freihalten“, womit, wie Kant anmerkt, „schon sehr viel gewonnen ist“.18 Die Kritik eines politischen Projekts ist etwas grundsätzlich anderes als eine Kritik des Erkenntnisvermögens, allerdings hängen die Bedingungen der Erkenntnis mit ihren Erkenntnisgegenständen auf das Engste zusammen. Denn – so Kant an anderer Stelle: „die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung …“19 Überträgt man diese Überlegung auf den Bereich historischer und moralischer Erkenntnis sowie politischer Urteilskraft, so bedeutet das, dass die jeweils zugrunde gelegte Theorie des jüdischen Volkes auch die Weise bestimmt, wie sein geschichtliches Schicksal und seine politische Organisation gesehen, erzählt und gewertet wird. Solche Theorien aber entfalten sich in besonderer Weise darin, wie jüdische Geschichte geschrieben wird.20 Dabei fällt auf, dass die Geschichte des Zionismus sowie der Staatsgründung Israels im Wesentlichen mythologischen und theologischen Deutungsmustern21 wie „Verheißung und Erfüllung“, „Tod und Wiedergeburt“ sowie „Untergang und Aufgang“ folgt – Narrativen, die dem tatsächlichen Geschichtsverlauf mit seinen Kontingenzen, Zufälligkeiten und ungeplanten Nebenfolgen des Handelns vielfältiger Akteure in keiner Weise entsprechen. Daher wird die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen dieses politischen Projekts zweifach ausfallen: als immanente und als transzendente Kritik. Die immanente Kritik orientiert sich ausschließlich an den Zielen und Methoden, die die Idee des staatsbildenden Zionismus selbst vorgegeben hat, während sich die transzendente Kritik an vor allem theologisch ausgerichteten Theorien des jüdischen Volkes orientieren wird. Damit ist noch nichts über die Angemessenheit oder Wahrheit dieser theologisch-philosophischen Theorien gesagt. Wie aber in Übereinstimmung mit frühen Schriften des als Begründer des Neokonservativismus zu Unrecht verschrieenen Leo Strauss22 gezeigt werden soll, stellen theologische Theorien die einzigen, ebenso gehaltvollen wie normativ anspruchsvollen Entwürfe zu einer Theorie des jüdischen Volkes dar. Gewiss lässt sich auch eine normativ anspruchslose, empirisch gehaltvolle, von starken gesellschaftswissenschaftlichen Theorien gestützte Perspektive auf Juden und Judentum finden, eine Perspektive, deren Befunde im Einzelnen unerlässlich sein mögen – gleichwohl: Eine Kritik des Zionismus muss schon allein deshalb normativ vorgehen, weil der Zionismus selbst ein normatives Vorhaben ist. Gewiss wäre eine immanente Kritik auch als empirische denkbar: Normative Projekte lassen sich nämlich durch empirische Befunde falsifizieren. Schließlich setzt jedes Sollen ein Können voraus – wo das Können nicht vorliegt, verliert jedes Sollen seinen Sinn. Aber auch eine schwache empirische Kritik bedarf, da der Zionismus als normatives politisches Projekt kritisiert werden soll, einer normativen Bezugsgröße, nämlich des Judentums. Um der erkenntnisverhindernden Falle zu entgehen, eine zu anspruchsvolle und somit zu enge Definition dessen zu wählen, was „Judentum“ heißt, empfiehlt sich eine möglichst voraussetzungslose Theorie, die einerseits viele Phänomene und Aspekte des Lebens von Jüdinnen und Juden fassen kann, die aber andererseits der Tatsache gerecht wird, dass das „Judentum“, wie jedes religiöse oder kulturelle Phänomen durch einen normativen Kerngehalt ausgezeichnet ist. Dem entspricht der Vorschlag des im frühen 20. Jahrhundert aus Osteuropa in die USA eingewanderten Gelehrten und Rabbiners Mordechai Kaplan23, der als Begründer des (nur in den USA beheimateten) „Reconstructionism“ in seiner erstmals 1934 erschienenen Programmschrift „Judaism as Civilization“24 unter Bezug auf den Soziologen Émile Durkheim und den Philosophen John Dewey folgenden Vorschlag machte:
„Judaism as otherness is thus something far more comprehensive than the Jewish religion. It includes that nexus of history, literature, language, social organization, folk sanctions, standards of conduct, social and spiritual ideals, aesthetic values, which in their totality form a civilization.“25
Dabei war Kaplan klar, dass die einzelnen Elemente dessen, was er als „Zivilisation“ bestimmte, in unterschiedlichen dieser Zivilisation zugehörigen Gemeinschaften unterschiedlich ausgeprägt und entfaltet waren. Kaplans Vorschlag überzeugt durch die Annahme, dass es zwischen den einzelnen Elementen einer so verstandenen Zivilisation keine eindeutige Hierarchie gibt und dass die Beziehung der einzelnen Elemente untereinander eher dem entspricht, was Wittgenstein in den „Philosophischen Untersuchungen“ als Familienähnlichkeit beschreibt, als klaren, gewissermaßen deduktiven Ableitungsverhältnissen.26
Eine Theorie des jüdischen Volkes vor dem Hintergrund von Kaplans Lehre vom „Judentum als Zivilisation“ kann hier allenfalls angedeutet werden – eine daran anschließende „Kritik des Zionismus“ kann heute nicht mehr leisten, als zu zeigen, dass der zionistische Entwurf des jüdischen Volkes mindestens zeitgebunden und inzwischen überholt ist, wenn er sich nicht sogar als falsch erwiesen hat. So liegt der hier vorgetragenen Kritik eine massive geschichtsphilosophische Annahme zugrunde. Ohne einem emphatischen Fortschrittsbegriff zu huldigen, geht sie doch davon aus, dass Ideen objektiv – als Ideen – veralten können, nämlich dann, wenn sie zu einer insgesamt gewandelten Umgebung nicht mehr in einem angemessenen Passungsverhältnis stehen. Ideen können veralten und damit unwirklich werden; existieren sie – zu brüchigen Institutionen geronnen – dennoch weiter, so persistieren sie als Schemen, gespenstisch – gerade so wie z. B. das Patriarchat, die Sklaverei, der Feudalismus oder auch ein magisches Weltverständnis empirisch durchaus folgenreich weiter existieren können und dennoch vom Gang des Geistes und der Realität überholt, unwirklich geworden sind. Dem widerspricht nicht, dass es „lost causes“ geben kann, die mehr Wahrheit und Würde enthalten als jeder vermeintliche Fortschritt, gleichwohl: Die Idee des ethnischen Nationalstaats, ja sogar des ethnisch weitgehend indifferenten, republikanischen Nationalstaats hat sich, wissentlich oder auch willentlich, verändert. Spätestens seit der Gründung der UN und der EU sind andere politische Organisationsmodelle auf den Plan getreten, die den Nationalstaat unterspülen, überwölben, ihn merklich oder auch unmerklich verändern; eine Entwicklung, die ihrer gravierenden Demokratiedefizite wegen durchaus gefährlich, aber nicht notwendig unkorrigierbar sein muss. Es scheint, als sei die in Europa entstandene, etwa zweitausend Jahre alte Geschichte des Staats, der seit der Französischen Revolution im Nationalstaat einen neuen Aufschwung nahm und in den entgegengesetzten Formen des demokratischen Sozialstaats hier und des totalitären Staates dort ihren Abschluss fand, an ihrem Ende angelangt – einem Ende, das durch neue, trans- und subnationale Formen politischer Vergemeinschaftung gekennzeichnet ist.27 Angesichts dieses grundsätzlichen Endes aller nationalstaatlichen Vergemeinschaftungen in der entstehenden Weltgesellschaft28 scheint der zionistische Versuch zwar nicht unbedingt misslungen, aber doch historisch obsolet. Wie unter diesen Bedingungen eine umfassende Theorie des jüdischen Volkes in der Gegenwart auszusehen hätte, kann allenfalls Gegenstand einer Skizze sein; dass derlei alternative Theorien tatsächlich vorgelegt worden sind, zeigt die deutsch-jüdische Philosophie der Krise, aus der im Folgenden verschiedene Positionen vorgestellt werden. Zunächst aber soll es um den Begriff der Nation und des Nationalstaats gehen.