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Vorwort Jüdisches Denken oder Denken des Judentums?

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Der Jude im Buch ist selbst Buch. Das Buch im Juden ist selbst jüdische Rede; denn das Buch ist für jenen weniger eine Bestätigung als vielmehr die Offenbarung seines Judentums.

E.J.

Seit einigen Jahren hat die abendländische Welt zweitausend Jahre ihrer Zeitrechnung hinter sich gebracht und blickt damit auf einen Zeitraum zurück, in dem nicht nur die von ihr geschaffene Zivilisation in der nationalsozialistischen Massenvernichtung moralisch zugrunde gegangen ist, sondern auch die von ihr gestifteten Weltdeutungen zur Disposition stehen. Vorstellungen einer kontinuierlich, heilsam oder unheilvoll verlaufenden Geschichte, eindeutiger Normen und eines minimalen Kanons von Werten; von Moral, Utopie und Geschichte; von Glaube, Liebe und Hoffnung, all dies ist von den Mühlen des historischen Prozesses kleingemahlen, zerstört und entwertet worden. Im Rückblick erst wird deutlich, welches die Züge einer geistigen Physiognomie gewesen sind, die sich – mißverständlich oder nicht – auf biblischem Monotheismus und hellenischer Bildungswelt gegründet hat. Große Entfernungen provozieren zur Prägnanz ebenso wie zur Oberflächlichkeit. Aus großer Ferne wird die Sicht flächiger, während das wenige, das noch sichtbar ist, an Kontur gewinnt. Die Versuchung, eine vielfältig gestaltete und geprägte Landschaft auf einige Landmarken und Strukturen zu reduzieren, wächst. Ob das so gewonnene Bild noch wesentlichen Bezug zu der Wirklichkeit, auf die es sich bezieht, hat, läßt sich erst abschließend beurteilen.

Der vorliegende Essay versucht zu zeigen, daß sich die abendländische Kultur: ihre Philosophie, ihre Ästhetik, ihre Religion, unter Bezug auf einige wenige, nicht direkt formale, aber auch nicht unmittelbar thematische Grundmotive konstituiert hat. Demnach sind wesentliche Vorentscheidungen durch je historisch bestimmte Konstellationen zwischen jenen Elementen geprägt worden, die in einem formalen Sinn Kultur erst ermöglichen. Gibt man sich mit einem Begriff der Kultur als einem Ensemble symbolischer Artikulationen von Lebensweisen zufrieden, dann zeigt sich, daß die angesprochenen Modi der Artikulation durchaus begrenzt sind. Die Rede ist immer wieder von Gedanken, von Worten, von Taten und Bildern. Denken, Reden, Schreiben, das Lesen und Bilden erscheinen damit als jene basalen Handlungen, durch die Menschen sich ihrer kulturellen Tätigkeit erst als solcher bewußt werden. Die in diesem Buch vertretene These besagt, daß sich die entscheidenden Selbstdeutungen der abendländischen Kultur in unterschiedlichen Bezügen auf diese wesentlichen Tätigkeiten auslegen. Je nachdem, ob sich eine Kultur im Modus der Rede und Wechselrede, des Lesens und Schreibens oder des Bildens und Schauens versteht, wird sich ihre Haltung zu Zeit und Geschichte, zu Sinn und Moral sowie zu ihren Gottes- und Menschenbildern ausprägen. Dabei steht nicht in Frage, daß in allen Kulturen gesprochen und gebildet, in manchen auch geschrieben und gelesen wurde, sondern in welchem Ausmaß diese Tätigkeiten das Selbstverständnis der in ihr wirkenden Menschen formten. So gefragt, könnten mögliche Antworten trivial klingen. Ein näherer Blick wird aber zeigen, daß es bei diesen Antworten nicht nur um Vorlieben oder Stilfragen, sondern um das geht, was überhaupt »Selbstverständnis«, »Weltbezug«, »Denken«, ja sogar, was »Glauben« heißen kann.

Diesen Fragen gehe ich in fünf Kapiteln nach, von denen sich das erste mit der spezifischen Form des jüdischen Monotheismus auseinandersetzt, während sich das zweite mit der Abbildbarkeit des Freiheit und Barmherzigkeit verbürgenden Gottes, also mit der Geschichte und Wirkungsgeschichte des alttestamentlichen Bilderverbots befaßt.

Im dritten Kapitel geht es um die Frage, ob die Freiheit verbürgende Ohnmacht Gottes im Tod seines Sohnes oder in der demokratischen Erörterung der Weisung angemessen verstanden wird. Dazu wird eine talmudische Erzählung analysiert. Stets geht es um das Verhältnis von Begriff und Bild bzw. von unterschiedlichen Bildern für einen ähnlichen Sachverhalt. In beiden Fällen zeichnet sich eine grundsätzliche Differenz ab: Je nachdem, ob Gott über seine hinterlassene Schrift oder sein Fleisch gewordenes Wort verstanden wird, entscheidet sich, ob eine Kultur sich zu ihren Wahrheiten naiv oder reflektiert, im Glauben an Unmittelbarkeit oder im Wissen unvermeidbarer Vermittlung verhält. Medium und Prinzip dieser Vermittlung aber ist die Schrift.

Daß die Schrift als Prinzip der Vermittlung und Fixierung von Sinn mehr vorspiegelt, als sie bewahren kann, und Verläßlichkeit auch dort vortäuscht, wo sie ebenso fehlbar ist wie das gesprochene Wort, wurde ihr von alters her vorgehalten. Daß darum jene, denen es um Wahrheit und Freiheit ging, auf das eigene Denken zurückgingen und die Wahrheit ihres Denkens gerade darin erkannten, daß es Unabhängigkeit sowohl von täuschenden Worten als auch von deutbaren Schriften verbürgte, war einer der Impulse der Philosophie seit ihren Anfängen. Darum setzt sich das vierte Kapitel mit dem philosophischen Glauben Baruch de Spinozas auseinander, der als einer der ersten kritischen Philologen der Bibel die Beziehungen zwischen eindeutigen göttlichen Gedanken, fehlerhafter bildlicher Rede und von Interessen verzerrten Texten in den Blick genommen hat. Die Wahrheit ist demnach als Gedanke wort- und schriftlos und kommt allenfalls im rechten Handeln zum Ausdruck. Aber kann sich das rechte Handeln alleine am richtigen Denken orientieren? Unterliegt nicht auch Spinoza – wie vor ihm schon Platon – einer Täuschung, wenn er ein Denken anpeilt, auf das er sich nur deshalb beziehen kann, weil es geschrieben vorliegt? Daß das Denken sich nicht selbst genügt, hat sich seit der Aufklärung und damit seit Spinoza herumgesprochen. Daß es sich in der Sprache nicht nur ausspricht, sondern im wesentlichen eine Verinnerlichung gemeinschaftlichen Sprechens sei, schien die Erkenntnis der sprachanalytischen Philosophie des zwanzigsten Jahrhunderts zu sein.

Daß das Sprechen, das gesprochene Wort es aber war, das jenen Schein der Unmittelbarkeit, auf die sich das Denken berief, erst provozierte, ist die These Jacques Derridas, der eine weitere Wende in der Philosophie einleitete und den »Primat« der Schriftlichkeit proklamierte. Derrida verdankt seine Einsichten ganz wesentlich Emmanuel Levinas, dem er das Programm zuschreibt, aus der Perspektive der hebräischen Rede die Selbstverständlichkeiten des griechisch gestimmten Philosophierens in Frage zu ziehen. Levinas’ Zweifel am griechisch gestimmten Denken mündet im Auffinden eines ethischen Imperativs, der allem spekulativen Nachdenken vorausgeht, einem Imperativ, der sich aus der Lektüre jener Spuren ergibt, die das Antlitz des Anderen zeichnen. Die Schlüssigkeit nicht nur der Kritik an der Metaphysik, sondern auch der These von der Schriftlichkeit unserer Erfahrung hängt nicht zuletzt davon ab, ob Levinas’ Überlegungen auch dort nachvollziehbar sind, wo der vorgängige Glaube an die von ihm propagierte Ethik fehlt. Darum versucht das letzte Kapitel, Levinas’ Ethik als eine einsichtige Ethik mittelbarer Erfahrung zu entfalten. Diese Ethik beharrt auf Erfahrung, weil sie sonst nichts hätte, wovon sie handeln könnte, ohne doch zu verleugnen, daß ihr der Imperativ, wie sie zu handeln hat, nur als Zeichen von etwas Anderem entgegentritt.

Die Bibel, der Talmud, Spinoza und Levinas im Widerstreit mit Platon, kirchlichen Theologen, naiven Dogmatikern und formalen Ethikern: In allen Fällen geht es um Motive, die einer Kultur der Schrift entsprungen sein könnten, einer Kultur, die dem, was gerne als »jüdisches Denken« bezeichnet wird, zugrunde liegt, aber in aller Regel übersehen wurde.

Das, was hier vorläufig als »jüdisches Denken« bezeichnet wird, hat im aphoristischen und schriftstellerischen Werk des 1912 im islamischen Ägypten geborenen Juden und ägyptischfranzösischen Autors Edmond Jabès einen unüberbietbaren Ausdruck gefunden. In diesem bisher zu wenig beachteten Werk finden sich – erstaunlich, unerwartet und unscheinbar – die Spuren einer negativen Theologie, auf die nicht nur dieser arg strapazierte Begriff auch zutrifft, sondern deren Gehalt Jabès über die üblich gewordenen Andeutungen hinaus tatsächlich darlegt. Daß diese Theologie nur noch die Gestalt von Aphorismen annehmen kann, wird dann nicht verwundern, wenn man Jabès’ Aussage akzeptiert, daß »Gott« ohnehin ein sinn-, d. h. referenzloser Begriff ist.

Diesen in ihrer Prägnanz erratisch wirkenden Aphorismen ist in der Sache nichts hinzuzufügen – um so mehr ist der Frage nachzugehen, ob sich die Sache, um die es Jabès’ geht, historisch begründen, systematisch entfalten und sachlich legitimieren läßt. Deshalb ist jedem der folgenden Kapitel ein Motto Jabès’ vorangestellt. In seinen Aphorismen fordert er die Leser auf, vom Juden nicht mehr zu verlangen, als er billigen könne. »Dieses ›Mehr‹ ist seine Wunde.« Wäre es denkbar, daß die Abneigung gegen Judentum und Juden zugleich Ausdruck einer tiefsitzenden Schriftvergessenheit und daß »Mehr« die Forderung nach einer Anerkennung von Bild oder Gedanke ist?

»Es muß endlich erlaubt sein, das Verhältnis von Juden und Deutschen unbefangen zu untersuchen, unbefangen von rechten und linken Vorurteilen (…). Zu dieser Unbefangenheit gehört aber auch, daß man nicht in alle Ewigkeit mit moralischem Zeigefinger auf die drohende Antisemitismusgefahr hinweist, sondern in einer Art Gegenbilanz danach fragt, was der Prosemitismus der Linken anrichtet. Denn die universal ausgerichtete Weltbürgerlichkeit, wie sie das heimatlose Judentum notgedrungen vertritt, hat auch ihre Kehrseite, die in der Auslöschung des jeweils Individuellen besteht.«2

So äußerte sich 1984 ein Tübinger Publizist in einem Sammelband unter dem Titel »Zur Kritik der palavernden Aufklärung”. Sein Angriff galt einigen Positionen des Werkes von Adorno und Horkheimer, deren Denken er Apokalyptik und Messianismus ebenso wie die Behauptung vorhielt, geschichtliche Wahrheit und Vernunft der Theologie geopfert zu haben. Welcher Art war diese Theologie?

Als sich Theodor W. Adorno und Max Horkheimer 1944 in der »Dialektik der Aufklärung«3 zur Negativität kritischen Denkens und seinem Verhältnis zur Utopie äußerten, bezogen sie tatsächlich – wissentlich oder unwissentlich – in einer theologischen Debatte Stellung, die schon mehr als zweieinhalb Jahrtausende währte:

»das Verbot, das Falsche als Gott anzurufen, das Endliche als das Unendliche, die Lüge als Wahrheit. Das Unterpfand der Rettung liegt in der Abwendung von allem Glauben, der sich ihr unterschiebt, die Erkenntnis in der Denunziation des Wahns (…). Gerettet wird das Recht des Bildes in der treuen Durchführung seines Verbots.«4

Kaum anders als jener gegen Horkheimer und Adorno polemisierende Tübinger Publizist äußerte sich 1991, fünf Jahre nach dem Historikerstreit, der philosophierende Historiograph Ernst Nolte in einem Werk über das Geschichtsdenken im 20. Jahrhundert.5 Er fragt dort unverblümt, ob das schreckliche Ereignis des Zweiten Weltkriegs nicht in einem engen Zusammenhang mit dem Geschichtsdenken stehe, »ob hier nicht eine bestimmte Geschichtsphilosophie, die in der modernen Geschichte nur ›Auflösung‹ und ›Zersetzung‹ wahrnahm, eine andere Geschichtsphilosophie, diejenige des ›jüdischen Messianismus‹, gewaltsam aus der Welt zu schaffen versuchte«6.

Beinahe resignativ resümiert Nolte, daß man in metaphorischer Redeweise tatsächlich sagen könne, »der Jude« habe den Zweiten Weltkrieg gewonnen und die nationalsozialistische Untat gegenüber weithin hilflosen Menschenmassen sei das vergeblichste und sinnloseste Unterfangen der Weltgeschichte gewesen. Mit diesen kulturantisemitischen Äußerungen ist die Mitte des Themas und seine zentrale Schwierigkeit berührt: Läßt sich überhaupt ebenso unbefangen und sachlich von »jüdischem Denken« sprechen, wie man unbefangen und sachlich von der Gattung der »Italienischen Oper« bzw. von der »attischen Tragödie« spricht? Verfängt sich nicht jede Rede vom »jüdischen Denken« – wie etwa bei Ernst Nolte – in den Fallstricken des Kulturantisemitismus, der dann so heterogene Gestalten wie den Technikphilosophen und Politiker Walther Rathenau, den Denker des Utopischen Ernst Bloch, den Lebensphilosophen Henri Bergson, den Wissenssoziologen Karl Mannheim, den Begründer der Psychoanalyse Sigmund Freud, den kritischen Rationalisten Karl Popper, die existentiell denkende Praxisphilosophin Hannah Arendt, die Begründer der Kritischen Theorie Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, den Dialogphilosophen und Linkszionisten Martin Buber, den Zivilisationstheoretiker Norbert Elias und den Denker globaler Verantwortung, Hans Jonas, unter dem Begriff »Judentum« rubriziert? Dieses identifizierende Denken führt bei Nolte gerade angesichts des Eingeständnisses, welch ein antiutopischer Denker Hans Jonas doch war, zu der Bemerkung, daß sich gerade an dessen Beispiel ein anderer Grundtatbestand bestätige: »daß die nationale und religiöse Solidarität weitaus stärker war als das Empfinden klassenmäßiger Zusammengehörigkeit, und keineswegs nur bei Juden«. Vor allem die generalisierende Abschwächung im zitierten Satz verweist auf die spezifische These, daß in letzter Instanz das Denken von Denkerinnen und Denkern, die aus jüdischem Hause stammten, denn doch der Selbsterhaltung des ethnischen Kollektivs diente. Mit dieser ethnozentrischen Perspektive ist aber die Beantwortung der sachlich interessierenden Frage, ob es so etwas wie »jüdisches« Denken gibt, von Anfang an verspielt. In tautologischer Weise wird aus dem Umstand, daß ein Philosoph Jude gewesen sei, geschlossen, daß sein Denken jüdischen Selbstbehauptungsinteressen diene, womit die Frage nach einem spezifischen, benennbaren Inhalt dieses Denkens gerade verdeckt wird.

Dagegen sei die Behauptung aufgestellt, daß wir es mit jüdischen Denkern immer dann zu tun haben, wenn diese Denker und Denkerinnen in der Regel selbst Juden oder Jüdinnen waren, sie zudem zu ihrem Judentum in einem bewußten und reflektierten Verhältnis standen und sie schließlich in den Spuren eines Gedankens dachten, der sich folgendermaßen umschreiben läßt:

Das Denken des Judentums besteht in der Entfaltung des Glaubens an den einen, gestaltlosen und geschichtsmächtigen Gott, dessen Taten und Worte zum Buch wurden. Nach dieser vorläufigen Bestimmung wäre etwa Walter Benjamin mit seinen »Geschichtsphilosophischen Thesen« sehr wohl ein jüdischer Denker gewesen, obwohl und gerade weil er im Unterschied zu seinem Freund Gershom Scholem kein Zionist war, während die Heideggerschülerin Hannah Arendt, die eine Zionistin war und ein durchaus gelebtes Verhältnis zur jüdischen Tradition hatte, das prägnante Beispiel für eine Jüdin abgibt, deren aristotelisch-existentielles, aus der griechischen Philosophie gespeistes Denken sich soweit wie nur möglich vom Denken des Judentums entfernt hat. Diese These sei zunächst anhand zweier genealogischer Skizzen verdeutlicht.

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