Читать книгу Schrift, Wort und Ikone - Micha Brumlik - Страница 8

I. Zwei Formen des Monotheismus

Оглавление

Das Wort »Gott« hat weder eine Bedeutung noch mehrere. Es ist die Bedeutung: das Wagnis des Sinns und des Scheiterns.

E.J.

Das abendländische Denken speist sich aus zwei Formen des Monotheismus. Das, was wir als »Philosophie« bezeichnen, geht auf den Monotheismus Platons zurück, während das, was hier als »jüdisches Denken« bezeichnet wird, sich aus dem Monotheismus des antiken Judentums speist. Beide Formen des Monotheismus sind zwischen dem achten und dem vierten Jahrhundert vor der christlichen Zeitrechnung entstanden, in jener frühhochkulturellen Epoche, für die Karl Jaspers den Begriff »Achsenzeit« gefunden hat, und zwar in jenen Ländern und Gesellschaften, die der Soziologe Talcott Parson als »Saatbeetgesellschaften« (nämlich der abendländischen, der okzidentalen Kultur) bezeichnet hat. Beide Monotheismen zeichnen sich zunächst dadurch aus, daß sie extrem bilderfeindlich sind und auf Abstraktion zielen.

In der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts vor der christlichen Zeitrechnung wirkte in Judäa König Josija, einer der wenigen Könige, denen die hochrealistischen und herrschaftskritischen Bücher der Könige und der Chronik nur Gutes nachsagen. Josija setzte fort, was judäische Könige und Propheten schon seit zwei Jahrhunderten immer wieder betrieben hatten: den Kampf gegen die auch von den Israeliten verehrten Götter und deren Bilderkult. In seiner Regierungszeit, so berichtet die Bibel, ließ Josija den Tempel Salomos renovieren; im Zuge dieser Renovationsarbeiten aber fand ein Priester das bis dahin als verschollen geltende »Buch der Gesetze Gottes« wieder. Aus dem Geist dieses angeblich erneut aufgefundenen, aber doch alten Buches wurde die vorfindliche israelitische Religion von Josija im Geist des Prophetentums reformiert und später – in der babylonischen Diaspora – als strikter Monotheismus artikuliert, um schließlich zu Beginn des 4. Jahrhunderts von Esra und Nehemia als Judentum kodifiziert zu werden. Religionshistorisch ist dies die Geburtsstunde des Judentums, seine Stifter sind weder Moses noch die Propheten, sondern Esra und Nehemia. Diese neue jüdische Religion stellte für die pagane Antike eine Revolution dar.

Wie fremdartig die Konzeption eines gestaltlosen, aber dennoch geschichtsmächtigen Gottes in dieser hellenistischen Antike wirken mußte, geht aus einer Bemerkung des zu Beginn des 3. vorchristlichen Jahrhunderts lebenden griechischen Autors Hekataios von Abdera hervor:

»Haben sie doch festgelegt, den Gott nicht menschengestaltig (anthropomorphon) sein zu lassen, sondern in ihm jenen zu sehen, der die ganze Erde und den ganzen Himmel umfaßt und der Herr von allem ist.«7

Diese Gottesvorstellung – die jüdische Gottesvorstellung – hat Hegel später als »Religion der Erhabenheit« bezeichnet:

»Die eigentliche Erhabenheit müssen wir hingegen darin suchen, daß die gesamte erschaffene Welt überhaupt als endliche, beschränkt, nicht selbst haltend und tragend erscheint und aus diesem Grunde nur als verherrlichendes Beiwerk zum Preise Gottes angesehen werden kann. «8

Religion des Buches, Bilderverbot und Religion der Erhabenheit stellen freilich – was Hegel noch nicht beachtet hat – unterschiedliche Facetten des gleichen Phänomens dar. Eine Religion des Buches setzt die Erfindung der Schrift ebenso voraus wie eine Kultur des Lesens. Dabei ist Schrift nicht gleich Schrift. Die zur Zeit Josijas bekannte und aller Wahrscheinlichkeit nach auch in Judäa verwendete Schrift war das damalige hebräische Alphabet, das seinerseits auf dem im 17. Jahrhundert vor der Zeitrechnung erfundenen protokanaanitischen Alphabet beruhte; ein Alphabet, das aus 27 Zeichen bestand, die aus ursprünglichen Piktogrammen entwickelt wurden. Die protokanaanäische Schrift9 ermöglichte im Unterschied zu den ursprünglichen Piktogrammen der babylonischen und den Hieroglyphen der ägyptischen Kultur10 eine Notation der Worte und nicht nur eine Fixierung einzelner Begriffe, von Namen oder Assoziationsfeldern. Während sich Piktogramme und Hieroglyphen über eine, wenn auch vereinfachte Abbildrelation unmittelbar auf die Welt beziehen, beziehen sich alphabetische Schriften auf die Begriffe und Namen der gesprochenen Sprache, die »ursprünglich« die Dinge und Ereignisse der Welt bedeuten. Mit der Entwicklung des den lautlichen Sprachfluß notierenden Alphabets ist das Medium Schrift mit der ganzen Kraft seiner kombinatorischen Möglichkeiten etabliert und hat sich seither – sieht man von den technischen Weiterungen des Buchdrucks sowie dessen mechanischen und elektronischen Fortentwicklungen ab – nicht mehr weiterentwickelt. Andererseits hat sich die Schrift damit unauffällig ihres eigenen Bildcharakters, ihrer eigenen dinglichen Gestalt entledigt und sich hinter die Mitteilungen des gesprochenen Wortes zurückgezogen. Daß mit der Präsentation der Bedeutung im gesprochenen Wort eine Weltsicht verbunden ist, die eine unmittelbare Gegebenheit des Mitgeteilten suggeriert und dabei auch noch den Zeichencharakter der Sprechsprache unterschlägt, war die wesentliche Einsicht Jacques Derridas.11

Derridas Kritik an einer »Metaphysik der Präsenz« öffnete die Sicht nicht nur auf den unabschließbaren Zeichencharakter allen Bedeutens in seinem Widerspiel von Zeichen und Bezeichnetem, zwischen Bedeutungsträgern und Bedeutung, sondern auch auf die Schriftlichkeit der Sprechsprache selbst. Der Hinweis auf die Schriftlichkeit der gesprochenen Sprache besagt nichts anderes, als daß auch hier eine Differenz – zwischen lautlich akustischen Bedeutungsträgern und intendierten Bedeutungen – waltet.12 Und so wie die akustische Lautgestalt in aller Regel als Zeichen bzw. Teil eines Zeichens gilt, läßt sie sich auch als Bedeutung verstehen, wenngleich diese Bedeutungen dann auf kein bewußtes Subjekt mehr zurückgeführt werden können. Mit der Erfindung und Durchsetzung des Alphabets wird demnach die ursprüngliche Schriftlichkeit der Sprache paradoxerweise verdeckt. Was in Piktogrammen, in Hieroglyphen, ja in der Onomatopoese noch aufschien, nämlich die Spannung von Zeichen und Bezeichnetem, von Welt und Bild, geht im Alphabet mit seinen scheinbar unbedeutenden, frei kombinierbaren Bedeutungsträgern verloren.

Dieser Befund – daß die alphabetische Schrift die Schriftlichkeit der Sprache zum Verschwinden gebracht hat – würde Derridas Kritik an einer Metaphysik der Präsenz zwar um eine Variante bereichern, jedoch in religionshistorischer, theologischer und religionsphilosophischer Hinsicht zu einem merkwürdigen Ergebnis führen. Die alphabetische Notation sprachlicher Bedeutungen und damit – in der Tradition der Hebräischen Bibel – auch jener Bedeutung, die als »Gott« erfahren wird, führt dazu, daß der im Rahmen eines Buches bekannte Gott als unmittelbar habhafte, präsente und gegenwärtige Größe geglaubt wird. Angesichts dieses Befundes muß es erstaunen, daß die Hebräische Bibel in einer ihrer Spitzenaussagen, nämlich in Ex. 3,14 Gott seinen Namen als »Ich werde sein, der ich sein werde« ausweisen läßt. Darüber hinaus konstatiert dieser Gott in Ex. 33,23 – 38, daß lebende Menschen seiner nicht ansichtig werden können bzw. allenfalls seine Rückseite wahrnehmen dürfen. Der sich so nach und nach seiner Vorstellung entziehende Gott, dessen Verborgenheit und Präsenz im Bild – d. h. in Piktogramm oder Hieroglyphe – seiner abstrakten Prozessualität wegen gar nicht darstellbar ist, konnte so nur im Rahmen einer die Sprechsprache notierenden Schrift bekannt werden. Das provoziert die Frage, ob diese so bekannt gewordene Gottesgestalt nicht konstitutiv auf die Schrift, genauer sogar auf die Kombinatorik des Alphabets verwiesen ist. Ließe sich nachweisen, daß diese Gotteskonzeption weder rein sprechsprachlich noch piktographisch hätte erdacht werden können? Die Beantwortung dieser Frage sei so lange zurückgestellt, bis die Gründe erläutert sind, derentwegen erst die Israeliten und dann die von ihren intellektuellen Eliten entwickelte jüdische Religion die Abbildung Gottes verworfen haben.

Auf jeden Fall setzen Stiftung und Durchsetzung einer Buchreligion nicht nur eine Kultur der Schrift voraus, mitsamt professionell sozialisierten und ausgebildeten Schreibern, die in einem eigenen Ethos und in eigenen Schulen erzogen wurden13, sondern zudem eine Kultur des Lesens, des Verlesens und des Vorlesens. Der Gott Israels erscheint – spätestens nach der josianischen Reform14 und der Gründung dezentraler Synagogen, die als solche ja erst entstehen konnten, nachdem der Opferkult in Jerusalem zentralisiert worden war – als verlesener bzw. vorgelesener Gott, der sich zwar in der Schrift, im Buch bezeugt, aber erst im verlesenen Wort Aktualität und Präsenz gewinnt.15

Diesem Umstand entspricht präzise der schon in der Zeit des Zweiten Tempels bekannte und gepflegte Kult des unaussprechlichen Gottesnamens, des Tetragrammatons, den allenfalls der hohe Priester einmal im Jahr – am Versöhnungstag, alleine in einem leeren Allerheiligsten – anrufen durfte.16 Indem das Judentum den Eigennamen des sich entziehenden Gottes in einem Tetragrammaton notiert, zugleich aber die Nennung dieses aus vier nicht lautbaren Konsonanten bestehenden Eigennamens bei der Verlesung der Schrift verbietet und anstatt dessen eine Fülle von Umschreibungen und Beschreibungen bemüht, wendet es sich nicht nur gegen ein magisches Mißverständnis im Sinne eines Beschwörungsverbots. Das Tetragrammaton läßt sich in lateinischen Buchstaben als JHWH notieren, ob Gottes Name, wie viele alttestamentliche Werke unterstellen, tatsächlich »Jahve«, »Jahwäh« oder gar »Jehova« lautete, ist gänzlich unbewiesen. Im unnennbaren, unlautbaren Namen kehrt lediglich auf kultischer Ebene wieder, was dem Gott Israels, der sich dem Moses als sich verwandelnder und sich entziehender Gott vorgestellt hat, eigen ist. Diese Paradoxie findet ihren deutlichsten Ausdruck in dem Umstand, daß beim Beten und Reden über Gott er selbst nur noch als »der Name«, »ha-schem«, bezeichnet wird. Handelt es sich dabei nun um einen Namen oder um eine Bezeichnung? Der Begriff »Name« bedeutet Worte, die ihrerseits keinen Bezug auf die Eigenschaften eines Dings oder Wesens nehmen, sondern es in seiner Einzigartigkeit unter allen anderen hervorheben. Dieser Begriff für Einzigartigkeit, »Name«, der ja selbst auf eine vielen Worten gemeinsame Bedeutungsfunktion verweist, wird damit selbst zu einem »Namen«. Indem die Juden Gott als »den Namen« anrufen, halten sie fest, daß dieser Gott einen ganz eigenen, einzigartigen und unverwechselbaren Namen besitzt, also ein Wesen höchster Einzigartigkeit ist, damit aber zugleich so heilig ist, daß jede Anrufung Gottes außerhalb seiner »üblichen« Funktionen als Herr der Geschichte oder Erbarmer Israels seinen innersten Wesenskern berührt. Dieser innerste Wesenskern äußert sich im Widerspiel von Verbergung und Entbergung, von Offenbarung und Verhüllung und – im Paradox von Bezeichnung und Benennung – in einem Namen, der »Name« lautet.17 Schriftlichkeit, Abbildungsverbot und Unnennbarkeit folgen alle dem gleichen Prinzip: der Präsentation eines Wesens, zu dessen vornehmsten Eigenschaften es gehört, nicht beschreibbar, nicht abbildbar und nicht benennbar zu sein.

Wollte man Derridas Theorie der Schrift abwandeln, so wäre in diesem Zusammenhang nicht von einer Urschrift zu sprechen, die es gemäß dem Widerspiel von Zeichen und Bezeichnetem gar nicht geben kann, sondern von einer Urbedeutung, die sich vor allem dadurch auszeichnet, daß jeder Versuch, sie festzulegen, schon alleine daran scheitern muß, daß das, was da bedeutet werden soll, überhaupt nur dadurch entsteht, daß der Beziehung zwischen Bedeutung und Bedeutungsträger alle Eindeutigkeit genommen ist.

Auf jeden Fall: Die jüdische Religion wurde historisch durch die Schrift, genauer gesagt, durch das althebräisch-phönizische Alphabet mitermöglicht, wenn nicht gar konstituiert. Daß sie unter der Regierung Josijas als Buchreligion verfaßt wurde, gibt Anlaß, die von Religionssoziologen immer wieder aufgestellte Behauptung ernst zu nehmen, daß »Religion« und Literalität einander bedingen.18 Diesem Befund scheinen auf den ersten Blick zwei historische Daten zu widersprechen: Ein radikaler Monotheismus entwickelte sich ebenfalls und doch deutlich früher als der israelitische Monotheismus im Schoß der ägyptischen Kultur. Die von Amenophis IV., genannt Echnaton, gestiftete Amarnareligion der einen und einzigen göttlichen Sonne wurde im Medium der Hieroglyphen artikuliert.19 Nahezu gleichzeitig mit der Ausbildung des reinen biblischen Monotheismus im Deuteronomium, in der Zeit der babylonischen Gefangenschaft, entwickelte sich im 6. Jahrhundert im antiken Hellas ein philosophischer Monotheismus, der – anders als in Israel – nicht in Konkurrenz zur Volksreligion trat. Der Monotheismus der ionischen und attischen Philosophie, wie er schließlich in Platons Werk etwa 150 Jahre nach der Entstehung des Deuteronomiums seine ausgereifte Gestalt annahm, scheint sich nicht im gleichen Ausmaß sozialen und politischen Auseinandersetzungen zu verdanken wie der Monotheismus des entstehenden Judentums. So gilt: Kritik an der Abbildung der Götter, an der Vorstellung, daß das Göttliche oder Gott menschen- oder tiergestaltig sei, war kein Privileg der israelitischen Religion und des auf ihr fußenden Judentums. Schon die vorsokratischen Philosophen, die im Raum Großgriechenlands etwa zur Zeit der babylonischen Gefangenschaft wirkten, vertraten entsprechende Thesen. So zum Beispiel Xenophanes von Kolophon, der von 570 bis 475 vor der Zeitrechnung lebte und als Kritik am Götzendienst folgendes feststellte:

»Wenn aber die Rinder und Pferde und Löwen Hände hätten und mit diesen Händen malen könnten und Bildwerke wie Menschen schüfen, so würden die Pferde die Götter abbilden und malen in der Gestalt von Pferden, die Rinder in der Gestalt von Rindern, und sie würden solche Statuen meißeln, ihrer eigenen Körpergestalt entsprechend.«20

Auf der Basis dieser Kritik konnte Xenophanes die Idee eines höchsten, wahren Gottes äußern. Diese Gottesvorstellung konnte die Befreiung von der Bildhaftigkeit freilich nur um den Preis erzielen, Gott wesentliche Züge eines handelnden Subjekts abzusprechen:

»Ein einziger Gott ist unter Göttern und Menschen der Größte, weder dem Körper noch der Einsicht nach den sterblichen Menschen gleich. (…) Als ganzer sieht er, als ganzer versteht er, als ganzer hört er. Immer verbleibt er am selben Ort, ohne irgendwelche Bewegung, denn es geziemt sich für ihn nicht, bald hierhin, bald dorthin zu gehen, um seine Ziele zu erreichen, sondern ohne Anstrengung des Geistes lenkt er alles mit seinem Bewußtsein.«21

An derlei Überlegungen schloß später Platon an, indem er die Idee des Monotheismus so weit radikalisierte, daß er dem höchsten Gott, der Idee, auch noch die letzten Eigenschaften eines handelnden Subjekts absprach. Anders als der Monotheismus der ionischen Naturphilosophen kann Platons Denken – einschließlich seines Monotheismus – nicht anders verstanden werden denn als Reaktion auf die intellektuellen und sozialen Zerfallsprozesse der attischen Polis vor und nach dem Peloponnesischen Krieg. Auf diese Krise hat Platon bekanntlich mit seinem Werk über den Staat, mit einer erziehungsphilosophischen Utopie reagiert.22

Der politische Pädagoge Platon hat in seinem Werk über den Staat bekanntlich ein Erziehungswesen abgelehnt, in dem Kinder und Jünglinge in affirmativer Weise mit der Götter- und Mythenwelt des von Platon selbst so geliebten Homer vertraut gemacht werden. Dies solle sogar dann nicht geschehen, wenn diesen Mythen in irgendeinem Sinne ein höherer allegorischer Sinn zukäme. Welcher Art die prinzipiell höhere Wahrheit der Mythen sein könnte, verschweigt Platon. Daß die Geschichten, die diese Wahrheiten verhüllen, auch von Kindern geliebt werden, hat er selbst einbekannt. Das Grausame und das Unschickliche, das Abgründige und das Erschreckende – all dies möge in gewisser Weise einen höheren Sinn enthalten und sei doch zu vermeiden: »Denn der Jüngling ist nicht imstande zu unterscheiden, was dieser verborgene Sinn ist und was nicht; aber was er in diesen Jahren in seine Vorstellung aufnimmt, das pflegt schwer auszuwaschen und umzuändern zu sein.«23

Sogar wenn den abgelehnten Mythen ein höherer Sinn zuzuerkennen wäre, dürften sie den Jünglingen nicht zugemutet werden, weil sie von ihrer Erkenntnisfähigkeit nach Platons Überzeugung gar nicht in der Lage seien, Wesentliches und Unwesentliches auseinanderzuhalten. Was ist das Wesentliche, um das es Platon hier geht? Das Wesentliche bzw. jenes, das in einer bestimmten Form Platons Anstoß erregt, ist die Idee Gottes bzw. die Idee der Götter, wie sie in den anschaulichen homerischen Mythen präsentiert werden. Die erzählenden, Gott und die Götter selbst als leidenschaftliche Akteure darstellenden Mythen verdunkeln demnach eine angemessene Idee Gottes. Denn die Götter der homerischen Mythen, sie lieben und leiden, sie kämpfen und betrügen, tragen menschliche Gestalt und sind zudem jederzeit in der Lage, ihre Gestalt zu ändern. Damit stellen sie das exakte Gegenteil zu einem ewigen, unwandelbaren und guten Gott dar.

Die – auch in den volksreligiösen Mysterien, trotz aller allegorischen Deutung immer wieder bekräftigte – Lehre von den Göttern24 widerspricht einer philosophischen Sicht, die in Gott die Idee des Wahren und des Guten sieht. Platon stellt sich Gott als Inbegriff des Wahren und des Guten und somit als das genaue Gegenteil der in den Mythen überlieferten olympischen Götter vor. Sie sind viele, »er« ist einer; sie lügen, »er« ist das Prinzip der Wahrheit: »Offenbar also ist Gott einfach und wahr in Wort und Tat und verwandelt weder sich selbst, noch hintergeht er andere, weder in Erscheinungen noch in Reden noch indem er ihnen Zeichen sendet, weder im Wachen noch im Schlaf.«25

Daß der Gott der Philosophen keine Zeichen sendet, also keiner Vermittlung bedarf, ist eine seiner vornehmsten Eigenschaften und wird auch noch später, über die Jahrhunderte, in allen Entwürfen sowohl mystischer als auch rationaler Frömmigkeit – am Ende bei Spinoza – hervorgehoben. So jedenfalls, wie die homerischen Götter sich verhalten, kann sich der eine Gott der Philosophen, der Gott als Prinzip des Guten und moralisch Wahren, nicht verhalten. Weder steht er mit den Menschen in unmittelbarem Kontakt, noch gibt er ihnen vermittelt und vermittelnd Zeichen. Der Gott Platons ist ein Prinzip, das hinter allem steht und das den Menschen durch Erkenntnisanstrengungen auf der Basis ihrer Liebe zur Weisheit zugänglich wird. Entsprechend kann dieser Gott auch unter keinen denkbaren Umständen die Ursache von Übeln in der Welt sein:

»Also auch Gott, weil er ja gut ist, kann nicht an allem Ursache sein, wie man insgemein sagt, sondern nur von wenigem ist er den Menschen Ursache, an dem meisten aber unschuldig; und das Gute zwar darf man auf keine andere Ursache zurückführen; von dem Bösen aber muß man sonst andere Ursachen aufsuchen, nur nicht Gott.«26

Ein Hauptmotiv und Hauptproblem des biblischen Monotheismus, das Theodizeeproblem, entfällt damit von Anfang an.

Die Frage nach der Entstehung des ionisch-attischen Monotheismus, des abstrakten Denkens und der Philosophie hat insbesondere die materialistische Philosophie immer wieder beschäftigt. Daß der analytische Blick entsprechend den marxistischen Voraussetzungen dieses Denkens bald auf die Geldwirtschaft bzw. auf die Trennung von Hand- und Kopfarbeit fiel, kann nicht erstaunen.27 Bei dieser Erklärung ist jedoch dem Umstand zu wenig Rechnung getragen worden, daß das Entstehen der Geldwirtschaft, vor allem in Form der Münzprägung, das normierte Verwenden von Zahlen und Buchstaben schon voraussetzt. Damit ist zugleich die Frage nach den Bedingungen gestellt, unter denen in Hellas die Schrift übernommen wurde.28

Daß es sich dabei um eine Übernahme des phönizischen Alphabets handelt, das nur Konsonanten kannte, steht dabei ebenso fest wie die Tatsache, daß das griechische Alphabet im Unterschied zu seinen semitischen Vorlagen auch die Vokale gleichberechtigt notierte und damit eine noch größere Geschmeidigkeit bei der Wiedergabe gesprochener Sprache erzielte.29 Das griechische Alphabet, von seinen Benutzern ursprünglich als »Phoinikeia« bezeichnet, dürfte sich in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts in Griechenland verbreitet haben, in einem geographischen und zeitlichen Rahmen, der parallel zu Verbindungen griechischer Händler nach Syrien läuft.30 Darüber hinaus vertritt Martin Bernal die weitreichende und bisweilen als provokativ empfundene These, daß die wesentlichen Grundlagen der griechischen Zivilisation von ägyptischen und syrischen Kolonisten in Hellas gelegt worden seien.31

Die materialistische Herleitung und Reduktion des abstrakten Denkens aus den funktionalen Erfordernissen der Geldwirtschaft wäre damit ein weiterer Fall jenes logozentrischen Denkens, das unter Umgehung der prinzipiellen und historischen Vorgängigkeit der Schrift den Vorrang von Gedanken, logischen Operationen oder gesellschaftlichen Praxen postuliert. Die Frage nach der Herkunft, der Reichweite und Verbreitung des attisch-ionischen Monotheismus dürfte ihre Antwort indes weniger in den Erfordernissen der Geldwirtschaft finden als in der kulturellen Übernahme des monotheistischen Gedankens. Dieser Auffassung war jedenfalls der im 1. Jahrhundert der Zeitrechnung wirkende jüdische Historiker und Apologet Flavius Josephus, der in seiner Schrift »Gegen Apion« dem Moses folgende Verdienste um Gott zurechnete:

»Ihn selbst stellte er als ungeschaffen und in alle Ewigkeit unveränderlich dar; an Schönheit sei er erhaben über jede vergängliche Gestalt, und offenbar werde er uns durch das Wirken seiner Macht, wiewohl wir ihn seinem Wesen nach nicht zu erkennen vermöchten. Daß solche Gedanken über Gott die Weisesten bei den Griechen erst fassen lernten, nachdem er den Anfang damit gemacht, will ich jetzt nicht weiter erörtern; daß es aber vortreffliche, dem Wesen und der Herrlichkeit angemessene Gedanken sind, davon legen sie lautes Zeugnis ab. Haben doch, wie bekannt, Pythagoras, Anaxagoras, Plato nach ihnen die gleichen Ansichten über die Natur Gottes gehabt.«32

Die frühe, apologetische Philosophie des Christentums hat in ihren Bemühungen, auch bei einem paganen Publikum Gehör zu finden, diesen Gedanken aufgenommen und entfaltet.33

Handelt es sich dabei um eine unbegründete Unterstellung vor dem Hintergrund einer gemeinsamen Schriftkultur, oder gibt es darüber hinaus irgendwelche Hinweise, die auf eine direkte Beeinflussung des griechischen durch den jüdischen Monotheismus schließen lassen? Während sich die antiken Griechen ihrer Ursprünge in der ägyptischen Kultur deutlich bewußt waren,34 läßt sich Vergleichbares für die Beziehungen zur israelitischen Kultur nicht sagen.35 Immerhin lassen sich kommerzielle Verbindungen zwischen Griechenland und Israel schon im 8. und 5. Jahrhundert vor der christlichen Zeitrechnung nachweisen. Immerhin bezeichnen einige griechische philosophische Schriftsteller des 3. und 4. Jahrhunderts vor der christlichen Zeitrechnung syrische Philosophen als »Juden« bzw. die Juden insgesamt als ein »Volk von Philosophen«.36 Daß dabei der Name »Philosoph« nicht – wie heute üblich – als akademische Bezeichnung, sondern als Name einer religiösen Gruppierung verwendet wird, mag fremdartig anmuten, gewinnt aber dann an Plausibilität, wenn man Hinweise ernst nimmt, daß es den »Philosophen« in erster Linie um ein neues Gotteskonzept ging.37 So behauptet etwa eine antike Überlieferung, daß Pythagoras der erste »Philosoph« gewesen sei.38

»Am Anfang jedes Philosophierens pflegen doch wohl zumindest alle Besonnenen«, beginnt der Neuplatoniker Iamblichos im frühen 4. Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung seine Biographie des Pythagoras, »einen Gott anzurufen; ganz besonders ist dies bei derjenigen Philosophie angebracht, die, wie man glaubt, mit Recht den Namen des göttlichen Pythagoras trägt.«39 Damit habe Pythagoras nicht nur einen neuen Namen für eine geistige Haltung geschaffen, sondern zugleich jene Sache verdeutlicht, um die es ihm ging. Die Philosophie, die der Neuplatoniker Iamblichos dem Pythagoras zuschreibt, habe darin bestanden, »das Weltall im ganzen zu betrachten und die Ordnung, nach der sich darin die Gestirne bewegen, zu erkennen«. Diese Sicht der Dinge sei deshalb schön, weil die Welt an jenem ersten Wesen, das nur im Denken erreichbar sei, Anteil habe.40 Damit schreibt Iamblichos im 4. Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung dem Pythagoras, der angeblich im späten 6. Jahrhundert vor der Zeitrechnung gelebt hat, eben jenen Gottesbegriff zu, den später Platon und Aristoteles systematisch entfaltet haben.

Daß die Pythagoräer selbst nicht unbedingt dieser abstrakten Gotteskonzeption anhingen, sondern jedenfalls zum Teil einer Vorstellung verpflichtet waren, die stark an den biblischen Gott erinnert, wird deutlich an Iamblichos Ausführungen über die eine der beiden pythagoräischen Sekten, der »Mathematiker« (der Wissenden) und der »Akumismatiker« (der Hörenden). Während jene in die Geheimlehre eingeweiht waren, bauten diese auf nicht weiter begründete Aussprüche des Meisters. Die Akumismatiker folgten so einer Lebensweise, die auf das Göttliche zielt und sich entsprechend distanziert zur Welt der Menschen verhält. »Denn da es einen Gott gibt und da dieser über alle Herr ist, muß man – darüber sind sich alle einig – vom Herrn das Gute fordern.«41

Dabei fällt nicht nur der erklärte Monotheismus dieser Passage auf, sondern insbesondere die Bezeichnung »Herr« für Gott – im Griechischen »Kyrios« – eine Bezeichnung, die sich ansonsten vor allem in der Septuaginta42 und schließlich in den neutestamentlichen Schriften für den Messias Jesus findet. Das hellenistische Judentum jedenfalls umschrieb das unnennbare Tetragrammaton seit dem 2. Jahrhundert vor der Zeitrechnung mit »Kyrios«. Nun war Iamblichos ein nachchristlicher Autor, und so läßt sich nicht ausschließen, daß er sich unbedacht der Begriffe des Christentums bediente und diese den Pythagoräern rückwirkend in den Mund legte. Andererseits finden sich in seinem Werk vielfältige und deutliche Zeugnisse polytheistischen Götterglaubens, bei denen der Autor ebenfalls eine interpretatio christiana hätte vornehmen können. Dies hat er nicht getan. Vor diesem Hintergrund ist nicht plausibel, warum ausgerechnet die genannte Passage hätte christlich interpretiert werden müssen. Wenn es sich aber bei diesem Bericht um eine halbwegs authentische Mitteilung über eine kleine Sekte handelt, liegt es nahe, die Überschneidungen und Berührungen zwischen biblischem und philosophischem Monotheismus stärker als bisher in den Blick zu nehmen. Für die Alten schien die strikte Trennung zwischen einer Religion der Vernunft und einer Religion des Glaubens, die sich in Europa im Zeitalter der Aufklärung, beginnend mit Pascal und Spinoza über Kant und Hamann bis zu Kierkegaard abzeichnete, nicht zu gelten. Einig waren sich Philosophie und biblischer Glaube auf jeden Fall darin, daß Gott nicht abbildbar sei. Daß »die Philosophie« ganz zwanglos mit der Existenz von Göttern rechnete und darin keinen Widerspruch zu ihrem Monotheismus sah, liegt einfach daran, daß die Existenz der »Götter« in der Ontologie eines Teils der griechischen Kultur43 schlichtweg als Tatsache galt, als Tatsache, die in gleicher Weise existierte wie Menschen, Tiere, Dämonen und Orakel. Auf diesen Volksglauben bezogen sich Dichter, Philosophen und Rhetoriker in unterschiedlichen Brechungen und Vermittlungen. Darin unterscheidet sich das griechische Denken nicht einmal unbedingt von der biblischen Botschaft: Auch dem Judentum wurde erst im 5. vorchristlichen Jahrhundert klar, daß es nicht nur darum ging, einen unter mehreren Göttern anzubeten, sondern daß dieser eine unter mehreren in Wahrheit nur einziger sein konnte. »Das Göttliche« der Philosophie aber existierte auf einer anderen Ebene und mußte deshalb auch nicht mit den »empirischen« Göttern konkurrieren.

Die beiden unterschiedlichen Formen des Monotheismus, des philosophischen, die Gott als Prinzip des Guten erkannte, und des jüdischen, die in Gott den gerechten und barmherzigen Herrn der Geschichte bekannte, zogen unterschiedliche Konzeptionen der Faßbarkeit Gottes nach sich. Während die philosophische Gottesschau Gott nicht anders denn als Prinzip sehen konnte, erfuhr der jüdische Glaube Gott als handelnde Person. Für das griechische Denken war die Annahme eines handelnden Prinzips ebenso unsinnig, wie dem jüdischen Glauben die Annahme eines nicht souveränen, d. h. freien und somit handelnden Gottes widersinnig erschien. Der Gedanke eines unsichtbaren, nicht anthropomorphen Akteurs war dem philosophischen Gedanken ebenso unzugänglich wie dem Glauben die Annahme eines höchsten Wesens, das sich nicht von sich aus auf die Menschen bezog. Beide jedoch kommen darin überein, daß Gott – sei es als Prinzip des Guten, sei es als barmherziger Herr der Geschichte – in großer Distanz zu den menschlichen Machenschaften zu stehen habe. Es ist allein diese Distanz, aus der die Menschen in einer heillosen Welt Hoffnung schöpfen können. Der abendländische Streit um Bilder oder Bilderverbot dreht sich um die Frage, wie diese Distanz angemessen zu verstehen und darzustellen sei.

Schrift, Wort und Ikone

Подняться наверх