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Kapitel 1

Sonntag, 8. August 2021, 7:52 Uhr

Betzdorf/Villa Schmitz

Ninas Schädel fühlte sich an, als habe man ihn in einen Schraubstock eingeklemmt. Sie mochte „Eyes without a face“ von Billy Idol. Aber nicht mitten in der Nacht.

„Magst du nicht mal an dein Handy gehen?“, hörte sie Klaus hinter sich brummen.

Nein, Nina mochte jetzt nicht an ihr Handy gehen. Heute war Sonntag, da ging man nicht vor dem Aufstehen ans Telefon. Dennoch tastete sie nun auf dem Nachttisch nach dem Störenfried und nahm das Gespräch, ohne auf das Display zu sehen, an.

„Ja“, hauchte sie in das Gerät.

„Moin, Nina“, erkannte sie die Stimme ihres Kollegen Thomas Kübler.

„Sag mal, hast du eine Ahnung, wie spät das ist?“, fragte sie.

„Ja, gleich acht Uhr“, gab Kübler Auskunft.

„Okay … Danke für die Info“, erwiderte sie und schlug nun endlich auch die Augen auf. Durch die Ritzen der Rollläden drang spärlich Licht in das Zimmer. Draußen war es tatsächlich schon hell.

„Sieh zu, dass du in Wallung kommst, Nina. Ich bin in etwa zehn Minuten bei dir, um dich abzuholen“, meinte er, als sei dies ausgemachte Sache. Sie schwang sich aus dem Bett.

„Was? Nee … Warum das? Ich hab frei … Sonntag“, widersprach sie ihm und drückte mit der freien Hand gegen ihre Schläfe. Ein sinnloses Unterfangen, das die Kopfschmerzen auch nicht vertrieb. Sie vertrug einfach keinen Alkohol mehr. Vor zehn Jahren hätten ihr die paar Bier und Schnäpse überhaupt nichts ausgemacht.

„Wir haben einen Toten in Friesenhagen, und so, wie die Kollegen von der Streife den Fall schildern, möchtest du dir das bestimmt selbst ansehen“, antwortete er.

„Will ich das? Was ist denn los?“, wollte sie nicht wirklich wissen.

„Ja, willst du. Alles andere gleich im Wagen. Mach hin“, fand er und hatte, bevor Nina noch etwas fragen konnte, bereits aufgelegt.

„Musst du weg?“, fragte Klaus.

„Scheint so“, antwortete sie und überlegte dann tatsächlich kurz, sich noch einmal für eine Minute hinzulegen. Vielleicht hätte sie es auch getan, wenn da nicht ein Wort von Kübler gewesen wäre, das eine Unruhe in ihr verursachte. Friesenhagen! Hatte Sarika da nicht gestern am Abend noch hingewollt? Ja, hatte sie.

Nina erhob sich und tapste durch das Halbdunkel bis zur Schlafzimmertüre, wo sie noch einmal kurz stehen blieb.

„Bist du so lieb und kochst mir einen Kaffee, während ich mich anziehe?“

Sie wartete die Antwort gar nicht erst ab, da sie sich sicher war, dass Klaus ihrem Wunsch nachkommen würde. Stattdessen trat sie auf den Flur und warf erst einmal einen Blick über das Geländer nach unten in die Diele. Vor der Garderobe auf dem Boden lagen Sarikas Schuhe und ihre Lederjacke. Das war gut. Nicht, dass sie es toll fand, dass ihre Stieftochter ihre Klamotten auf den Boden warf. Nein, es erleichterte sie nur ungemein, dass Sarika überhaupt zu Hause war. Die Vorstellung, einmal zu einem Tatort oder Todesfall gerufen zu werden, an dem ein von ihr geliebter Mensch ums Leben gekommen war, verfolgte sie ständig.

Als Nina mit noch feuchten Haaren und einem großen Becher dampfenden Kaffees aus dem Haus kam, wartete Kübler bereits im Dienstwagen in der Einfahrt.

„Moin“, begrüßte sie ihn, als sie die Tür öffnete und sich auf den mit Lammfell überzogenen Beifahrersitz fallen ließ. Seinen Blick auf den Kaffeepott bemerkte sie sofort.

„Eh, muss das sein?“, kam auch nun prompt die Frage.

Nina antwortete nicht. Sie wusste genau, was er meinte.

Kübler hasste es, wenn sie ihren Kaffee während der Fahrt im Wagen trank. Angeblich aus Angst, sie würde die Sitze einsauen. Wobei es auf einen Fleck mehr oder weniger in der Kiste wirklich nicht ankam. Niemand, der die Karre so sah, konnte sich auch nur im Ansatz vorstellen, wie die originalen Polster unter den alten Lammfellschonbezügen aussahen. Der rote Porsche 911 Turbo hatte nämlich zuvor einem Zuhälter gehört, der seinem Beifahrer bei einem Streit während der Fahrt ein Messer in die Halsschlagader gerammt hatte. Eine Wahnsinnssauerei. Flecke, die aus dem hellen Leder nie mehr rausgehen würden.

„Also, was gibt es denn, was ich mir bestimmt selbst anschauen möchte?“, kam sie, während sie sich anschnallte, lieber sofort zum Wesentlichen.

Kübler stöhnte recht theatralisch und fuhr los.

„Kennst du die rote Kapelle bei Friesenhagen?“, fragte er.

„Nein. Muss ich die kennen?“, entgegnete sie.

„Ja, als heimatverbundener Mensch solltest du die kennen“, meinte er.

„Ich bin Halbitalienerin. Da muss ich nur halb so viele Orte kennen wie du – oder warst du schon mal in der Via Santa Maria del Pianto?“

Sie bemerkte, wie er fragen wollte, was das sei.

„Kübler, was ist da in Friesenhagen los?“, wiegelte sie jedoch ab, bevor er den Mund aufmachen konnte.

„Unweit der Kapelle wurde heute Morgen von mehreren Personen ein Feuer gemeldet. Irgendwer hat einen Polder mit Holz angezündet. Die Feuerwehr ist ausgerückt, um zu löschen, und hat vor Ort einen oder eine Tote gefunden … genau kann man das wohl ohne einen Gerichtsmediziner nicht mehr feststellen“, berichtete er.

„So stark verkokelt?“, hakte sie nach und nippte an ihrem Kaffee, der gerade wirklich äußerst guttat. Es war verdammt spät geworden die letzte Nacht.

Bis Friesenhagen fuhren sie schweigend. Nina schlürfte ihren Kaffee und las dabei auf ihrem Mobiltelefon. Die Zwillinge, Chiara und Matteo, hatten ihr geschrieben. Natürlich nicht sie selbst. Die beiden gingen ja erst in die Kita und konnten weder schreiben noch besaßen sie ein Handy. Nein, Oma Inge, bei denen die beiden letzte Nacht geschlafen hatten, hatte das erledigt. Sogar mit einigen Fotos, die die beiden am Frühstückstisch mit Opa Hans Peter zeigten.

„Da oben ist die Kapelle“, meinte Kübler, als sie von Engelshäuschen kommend kurz vor Friesenhagen aus dem Wald kamen. Nina entdeckte die kleine rote Kirche auf dem Hügel hinter dem Dorf sofort. Sie war nicht zu übersehen, obwohl es bis dorthin vermutlich noch zwei bis drei Kilometer Luftlinie waren. Das rot angemalte Gebäude, mit den Bäumen und den Löschfahrzeugen der Feuerwehr daneben, hob sich vom ansonsten strahlend blauen Himmel ab.

„Warum muss man das Kapellchen eigentlich kennen? Von solchen Kapellen gibt es doch bestimmt Hunderte oder gar Tausende in ganz Deutschland?“, fragte sie und reckte sich nach hinten, um den leeren Kaffeebecher hinter den Fahrersitz zu stellen.

„Wegen der Vorgeschichte“, antwortete Kübler und verzog missbilligend das Gesicht.

„Aha“, meinte sie nur, da sie immer noch nicht verstand, was er ihr damit sagen wollte.

„Da, wo heute die Kapelle steht, war früher eine Richtstätte. Im siebzehnten Jahrhundert wurden dort verurteilte Hexen verbrannt“, legte Kübler nach.

Nina blickte ihn an.

„Nicht dein Ernst, oder? Hexenverbrennung? Hier bei uns?“

„Doch, klar. Hier war es sogar besonders schlimm. Wenn ich es richtig in Erinnerung habe, wurden da, wo heute die Kapelle steht, an die zweihundert angebliche Hexen hingerichtet“, wusste er.

„Und du meinst, der oder die Tote da oben …“, Nina deutete den Hügel hinauf. Sie fuhren nun durch den Ort. Von hier aus konnte man die Kapelle wegen der Häuser gerade nicht sehen.

„Ich mein gar nichts … Erst mal schauen, was da genau los ist“, winkte Kübler ab.

Nina musste zugeben, dass sie nun doch irgendwie neugierig auf diesen Fall war. Dennoch war ihr mulmig zumute, und auch diese seltsame nicht zu beschreibende Nervosität war nun wieder da. Als sie mit gerade mal zwanzig zu ihrem ersten Tatort fuhr, hatte sie diese Unruhe zum ersten Mal gespürt. Damals hatte sie noch geglaubt, es würde sich irgendwann legen – dass der Tod eines Menschen irgendwann zur Normalität werden könnte. Heute wusste sie, dass dies niemals so sein würde. Der gewaltsame Tod eines Menschen war nicht normal und könnte es, zumindest für sie, niemals werden. Ja, sie war Profi. Ein alter Hase. Doch selbst Gesichter aus Fällen, die schon lange zurücklagen, kamen sie gelegentlich in ihren Träumen besuchen. Das Einzige, was sie als Polizistin für die Verstorbenen noch tun konnte, war, deren Mörder zu finden. Darin waren sie und ihr Team gut. Ihre Aufklärungsrate überdurchschnittlich.

Auf der Bergkuppe angekommen, ging es nach links in einen geteerten Forstweg. Nina fiel ein Schild an der Abzweigung auf. Bis Wildenburg, dem kleinen Ort mit der Burg, die ihm den Namen gab, war es nur noch ein Kilometer. Dort war sie schon seit Jahren nicht mehr gewesen. Das Wildenburger Land war ein Zipfel des Landkreises, in dem sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagten. Kleine Orte, einzelne Höfe, eine Burg, das Wasserschloss Crottorf. Ein Paradies für Wanderer und Menschen, die bergige Natur liebten.

Die verkohlten Überreste des Holzpolders, auf dem der verbrannte Körper lag, strahlten immer noch Restwärme aus, als Nina den Platz mit der mächtigen Linde vor der kleinen Kapelle betrat.

Gerichtsmediziner Doktor Sebastian Wagner beugte sich gerade über die Überreste.

„Moin, Sebastian“, begrüßte sie ihn freundlich und fragte sich, warum der Pathologe eigentlich fast immer vor ihr an den Tatorten war. Hatte der einen siebten Sinn oder waren sie und Kübler einfach immer nur zu langsam?

„Guten Morgen, liebe Nina … guten Morgen, Herr Kübler“, grüßte der Arzt froh gelaunt mit den Worten zurück, die Nina sich gerade verkniffen hatte. Heute war nämlich gar kein guter Morgen. Vor ihr lag eine Leiche, und ihr Kopf fühlte sich immer noch an, als wäre sie gegen eine Wand gerannt. An Tagen wie heute reichte ein einfaches Morgen oder Moin.

„Ohne dass ich drängeln möchte, Sebastian, was können Sie denn schon sagen?“, erkundigte Nina sich vorsichtig.

„Ich kann mit Sicherheit sagen, dass der Mann bereits tot war, als man ihn angezündet hat“, antwortete Wagner.

„Es ist also ein Mann?“, schlussfolgerte Nina.

„Ja, ich denke, das ist ziemlich eindeutig. Der Körper ist bei Weitem nicht so stark verbrannt, wie es auf den ersten Blick scheint“, erklärte der Arzt.

„Was ist das denn da auf seiner Brust?“, wollte Kübler wissen und deutete auf die Stelle. Nina wusste sofort, was das war, glaubte aber ihren Augen nicht zu trauen.

„Das ist sein Kopf. Er wurde enthauptet, bevor man ihn verbrannt hat – daher auch die Annahme, dass er tot war, bevor man ihn anzündete“, bestätigte Wagner recht sarkastisch, was sie bereits vermutete.

„Dann würde ich mal sagen, dass es nichts mit dem Ort und diesem alten Hexenglauben zu tun hat“, schlussfolgerte Thomas wie immer ziemlich voreilig.

„Thomas, wir sind noch keine Minute hier und du schließt irgendetwas aus. Meinst du nicht, das wäre ein wenig voreilig?“, rügte sie ihn deshalb.

„Nee, mein ich nicht. Aber jeder weiß doch, dass Hexen immer an einem Stück und lebendig verbrannt wurden“, erwiderte er.

„Und das weiß jeder woher?“, wurde sie nun schon etwas grantig. Sie hasste diese Art von Diskussionen mit ihm. Kübler war belesen und bestimmt nicht dumm. Dennoch erinnerte er sie gelegentlich an dieses Schweinchen Schlau aus den Cartoons.

„Das weiß man eben!“, ließ er nicht locker.

„Seltsam, einer der Feuerwehrleute hier aus dem Ort hat mir eben berichtet, dass bei den damaligen Hexenverbrennungen an dieser Stelle die Delinquenten zuerst enthauptet wurden, bevor man sie verbrannte“, mischte sich nun Doktor Wagner ein.

„Na, dann hat der eben keine Ahnung“, beharrte Kübler.

„Soll angeblich so in den Gerichtsakten stehen, die gibt es als Buch veröffentlicht“, legte Wagner noch einen drauf.

Es war dem Mediziner anzusehen, dass es ihm einen Heidenspaß machte, Kübler zu belehren. Ein Spaß, der Nina in Anbetracht des verkohlten Leichnams doch sehr makaber und nicht angebracht erschien.

„Ich denke, wir sollten uns erst einmal das nähere Umfeld ansehen. Vielleicht finden wir ja noch Spuren, die nicht vom Löschwasser hinfortgespült oder von den Feuerwehrleuten zertrampelt wurden. Besser, du rufst den Rest der Truppe zusammen. Wir brauchen hier das gesamte Team und am besten noch eine Hundertschaft, um das Gelände weiträumig abzusuchen“, schlug Nina an Kübler gewandt vor. Der Kollege nickte und zückte sein Handy. Nina ging derweil zu den beiden uniformierten Kollegen der Schutzpolizei, die abseits bei einem Streifenwagen standen und sich mit einem Feuerwehrmann unterhielten. Dabei überschlugen sich die Gedanken in ihrem Kopf. Die dringlichste Frage war derzeit, um wen es sich bei dem Toten handelte. Seine Kleidung, soweit er welche getragen hatte, schien das Feuer bereits komplett vernichtet zu haben. So etwas ging immer sehr schnell. Ein Körper hingegen brannte nur äußerst schlecht. In Filmen wurde das immer ziemlich simpel dargestellt. Da reichte oft schon ein Kanister Benzin, um einen Leichnam zu verbrennen. In der Realität sah dies allerdings anders aus. Es brauchte eine Menge Energie und Brennstoff, um einen Leichnam zu beseitigen. Sollte der Tote Ausweispapiere dabeigehabt haben, waren diese vermutlich vollständig verbrannt oder lagen vielleicht noch irgendwo in der Umgebung. Sie würden alle Kräfte benötigen, die sie zusammenziehen konnten, um jeden Stein und jeden Grashalm im näheren Umkreis umzudrehen. Außerdem würden sie checken müssen, ob in den letzten Stunden jemand als vermisst gemeldet worden war. Alles in allem wartete eine Menge Arbeit auf sie und das Team.


Sarika ging es mies. Wenn sie nicht so nötig aufs Klo gemusst hätte, wäre sie auch nicht aufgestanden, sondern hätte vermutlich den ganzen Tag verpennt. Sie schlurfte zur Toilette, erledigte, was zu erledigen war, und trottete dann weiter in die Küche, um ein Glas Wasser gegen ihren Mordsdurst zu trinken.

„Guten Morgen, mein Sonnenschein“, begrüßte ihr Papa Klaus sie.

Sie presste etwas hervor, das entfernt an ein „Moin“ erinnerte, und nahm sich ein Glas aus dem Schrank. Wie konnte einer am frühen Sonntagmittag nur so gut gelaunt sein, wie ihr Erzeuger es immer war?

„Und wie war dein Abend noch?“, wollte er nun auch noch wissen.

„Ganz nett“, antwortete sie jetzt einfach mal. Was sollte sie auch sonst sagen? Sie hatten bis spät in die Nacht bei ihrer Freundin Selina im Garten gefeiert. Außer der Band war auch noch so ziemlich ihre komplette Abistufe dort gewesen. Irgendwann hatte Sarika dann keinen Bock mehr gehabt und nur noch nach Hause gewollt. Leon Balke, ein Schulkamerad von ihr, der, warum auch immer, ebenfalls auf der Fete gewesen war, hatte sich angeboten, sie nach Hause zu fahren. Eine nette Geste des Jungen, mit dem sie in den letzten anderthalb Jahren, seit sie auf diese Schule ging, noch kein Wort gewechselt hatte. Eine Konversation auf dem nächtlichen Nachhauseweg war ebenfalls gescheitert, da sie, kaum bei ihm eingestiegen, auch zum ersten Mal weggenickt war und er sie erst hier in der Einfahrt wieder geweckt hatte.

Sie füllte das Glas randvoll mit Leitungswasser, tapste zum Tisch und ließ sich auf die Eckbank sinken.

„Es gibt auch noch Kaffee“, sagte Klaus.

Sarika nickte. Ein Kaffee käme nach dem Wasser ganz gut. Der trockene Geschmack in ihrem Mund war widerlich.

„Mit Milch und einer Kopfschmerztablette dabei?“, erkundigte Klaus sich. Sie sah ihn an und zwang sich zu einem Lächeln.

„Boahhhh, Papa … Das is echt nicht komisch“, sagte sie und trank dann einen Schluck. Er kicherte und erhob sich.

Sarika legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Sie hörte, wie er eine Tasse aus dem Schrank nahm, sie füllte und die Milch einrührte.

„Bitte schön“, sagte er schließlich und stellte die Tasse vor sie auf den Tisch. Als Sarika hinsah, lagen neben dem Kaffeepott tatsächlich eine weiße Tablette und ihr Handy.

„Danke, Papa. Wo kommt denen jetzt mein Handy her?“, wunderte sie sich. Vorhin in ihrem Zimmer war ihr zwar kurz aufgefallen, dass es nicht da war, den noch hatte sie keinen weiteren Gedanken daran verschwendet.

„Das steckte noch in deiner Jeansjacke. Zusammen mit deinem Portemonnaie, einigen Schmierzetteln und benutztem Kaugummipapier“, erwiderte er und setzte sich wieder zu ihr an den Tisch. Erst jetzt bemerkte sie die Gitarre, die neben Werk- und Reinigungszeugs vor ihm lag. Es handelte sich um ihre pinkfarbene Jem 777 Steve Vai Signature. Die, die sie gestern beim Auftritt gespielt hatte.

„Ähm … Warum wühlst du in meinen Taschen? Und was machst du da mit meiner Ibanez?“, erkundigte sie sich leicht irritiert.

„Die Jacke lag total verdreckt auf dem Boden vor der Garderobe. Ich hab’ die Taschen entleert und sie zusammen mit der anderen Wäsche in die Waschmaschine gesteckt“, antwortete er und hob dann die Gitarre ein Stück an, damit sie die Oberfläche sehen konnte. Das Instrument war, um es gelinde auszudrücken, total versifft. Schweiß, Bier und Haare klebten auf dem neonpinken Lack. Die Saiten waren bräunlich angelaufen. Der ganz normale Wahnsinn nach einem Gig bei fünfunddreißig Grad im Schatten.

„Ich dachte, ich mach sie mal sauber und zieh dir neue Saiten auf.“

„Ohhh“, antwortete sie nur, beugte sich dann zu ihm hinüber und küsste ihn auf die Wange.

„Danke, Paps. Wär’ aber nicht nötig gewesen. Ich hätte, solange die Ibanez dreckig ist, halt eine von deinen Klampfen benutzt“, unkte sie.

„Jepp, und genau deshalb hab’ ich mir gedacht, ich erledige das eben schnell für dich“, lästerte er zurück.

Mit dem letzten Schluck Wasser nahm sie die Tablette ein und nahm sich dann des Kaffees an. Er tat wahrlich gut. Zwar half der nicht gegen den Kater, doch zumindest der pelzige Geschmack auf ihrer Zunge ließ ein wenig nach.

„Sag mal, Sarika, war das Blut auf deiner Jacke eigentlich von dir? Hattest du wieder Nasenbluten?“, fragte Klaus, während er den Body der Gitarre mit einem feuchten Tuch abwischte.

„Ach das … Nee, das war nicht von mir“, antwortete sie und musste nun automatisch wieder an den kleinen Eklat am gestrigen Abend denken.

Klaus nickte zufrieden, schien aber immer noch auf eine Erklärung zu warten. Obwohl Sarika ihren Vater erst seit etwas über anderthalb Jahren kannte, waren da ein sehr inniges Band und eine große Vertrautheit zwischen ihnen beiden. Ständig bekam sie mit, dass Freunde und Bekannte in ihrem Alter Stress mit den Eltern hatten. Bei ihr war das nicht so. Vielleicht lag es daran, dass sie Klaus erst kennengelernt hatte, als sie bereits erwachsen war. Er war mehr ein guter Freund als ihr Vater. Sie beide hatten so viel gemeinsam. Nicht nur die Musik. Wobei die schon einen besonderen Stellenwert zwischen ihnen einnahm. Musik war einfach ihr beider Ding. Auch das Verhältnis zu ihrer Stiefmutter Nina würde Sarika als ausgesprochen gut bezeichnen. Nina hatte sie, die Tochter aus einer früheren Beziehung ihres Mannes, mit offenen Armen aufgenommen und respektierte sie so, wie sie war. Klar waren sie nicht immer einer Meinung. Gelegentlich krachte es auch schon mal. Doch nach Regen kam bekanntermaßen auch immer wieder Sonnenschein. Kurzum, Sarika war gerne hier bei ihrem Vater und dessen Familie im Westerwald.

„Das Blut stammt von Fabrice“, gab sie deshalb zu.

„Eurem Gesangstalent?“, höhnte Klaus.

„Ja … nee … Das hat sich gestern Abend ausgesungen mit dem Arsch“, erklärte sie.

„Ihr habt ihn also endlich gefeuert?“ Die schadenfrohe Erleichterung in seiner Stimme war überdeutlich zu vernehmen. Sarika wusste, dass ihr Vater Fabrice vom ersten Moment an nicht hatte leiden können. Sie hatte das zuerst anders gesehen … anders sehen wollen. Der Typ sah gut aus, seine Gesangsstimme war nicht schlecht, taugte aber für die Art von Musik, die sie machen wollten, nicht wirklich. Fabrice wäre vermutlich in einer Schlagercombo besser aufgehoben. Wenn er lauter oder höher sang, wie es im Metal häufig vorkam, kippte seine Stimme und war nur noch Geschrei abseits der Tonlage. Sarika hatte sich von ihm blenden lassen. Ja, sie hatte sogar einen Moment geglaubt, etwas für ihn zu empfinden. Doch da war sie nicht die Einzige gewesen. Fabrice hatte alles angegraben, was nicht bei drei auf den Bäumen war.

„Ja, haben wir“, bestätigte sie, obwohl es nicht ganz dem entsprach, was geschehen war. Doch was zählte, war schließlich das Endergebnis.

„Und? Habt ihr schon jemand Neuen?“, wollte Klaus wissen. Sarika verdrehte die Augen. Irgendwie war ihr das heute Morgen viel zu viel Konversation.

„Nee, wir überlegen noch. Es gibt Ideen, is aber jetzt auch nicht so wichtig“, wich sie aus und griff sich ihr Mobiltelefon vom Tisch, um zu schauen, ob es eventuell Kommentare oder Posts zu dem gestrigen Auftritt bei Instagram, Facebook und Co. gab.

Bereits einer der ersten Beiträge in ihrer Timeline erweckte Sarikas Aufmerksamkeit. Fabrice, ihr Ex-Frontmann, hatte ein Video auf der Fanpage der Band hochgeladen und geteilt. Sie klickte darauf und schaltete den Ton ein. Der würde doch jetzt hoffentlich nicht öffentlich über seinen Abgang aus der Band lamentieren. So ein Mist. Sie hätte ihm gestern Abend noch die Adminrechte auf die Witchwar-Page aberkennen sollen.

Das Filmchen war von schlechter Qualität. Alles viel zu dunkel. Das Einzige, was man erkennen konnte, war Fabrices Gesicht. Sein Auge war zugeschwollen und blutunterlaufen. Hatte sie tatsächlich so hart zugeschlagen? Vielleicht wegen des Schlüsselbundes? Auf seiner Stirn war, vermutlich mit Blut, die Zahl 666 geschmiert oder sogar eingeritzt worden. Das Licht flackerte auf seinem ansonsten blassen Antlitz. Sarika kniff die Augen zusammen und sah genau hin. Ja, das schienen eindeutig Kerzen zu sein, die sich in seinen glasigen Pupillen spiegelten. Fabrice weinte. Wobei das nichts heißen musste, da er dies, wie Sarika glaubte, auf Kommando konnte. Der Typ war ein Waschweib sondergleichen.

„Mein Name ist Fabrice Gladenberg. Ich bekenne mich schuldig der Hexerei. Ich habe dem Zauberlaster gefrönt und mehrfach bösen Zauber getan. Ich habe mit dem Teufel gebuhlt und bin von Gott abgefallen“, wimmerte Fabrice. Sarika starrte mit aufgerissenem Mund gebannt auf den kleinen Bildschirm. So eine Wahnsinnsshow und ein schauspielerisches Talent hätte sie dem Depp gar nicht zugetraut. Die Frage war nur, was er damit bezweckte. Sie merkte, wie Klaus sich erhob und sich zu ihr auf die Eckbank schob, und hielt das Gerät nun so, dass er mitschauen konnte.

„Auf den Tanzplätzen habe ich mit den anderen Hexen und Hexern unzüchtig getanzt, getrunken und gebuhlt. Gesehen habe ich dort Lena Binenbacher, Selina Marksdorf, Fabienne Luca und Sarika Zielner“, stammelte er nun auch noch die Namen der kompletten Bandmitglieder herunter. Dann war das Video zu Ende.

Sarika zitterte vor Wut. Was zum Kuckuck sollte dieser Mist?

„Spiel das bitte noch mal ab“, bat Klaus sie. Sarika wollte schon den Play-Button betätigen, als das Telefon in ihren Händen zu vibrieren begann. Der Anruf kam von Selina. Sarika konnte sich denken, was die Bassistin wollte. Vermutlich hatte sie das Video ebenfalls gerade gesehen.

666 Der Tod des Hexers

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