Читать книгу Das Buch der Gaben - Micha Rau - Страница 3

Tommy

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Der Sommer lag endlos vor mir. Sechseinhalb Wochen, genau fünfundvierzig Tage, dehnten sich vor mir aus. An dem Tag, an dem ich Tommy kennen lernte, hatte ich ein ziemlich schlechtes Zeugnis bekommen und mich an meiner Mutter vorbei in mein Zimmer geschlichen.

Ich dachte, dass die Sommerferien unglaublich langweilig werden würden. Ich war zwölf Jahre alt und hatte, so sagte meine Mutter immer, nichts anderes als den blöden Computer im Kopf. Ich wäre kein normaler Junge und sie wüsste nicht, von wem ich das habe und so weiter. Na, da könne sie ganz beruhigt sein, meinte ich bei solchen Reden zu ihr, das hab ich von keinem, denn ihr habt ja damals noch mit Feder und Tinte geschrieben, und beim Surfen lerne ich sowieso viel mehr als bei Herrn Schulz. Und überhaupt, du weißt ja noch nicht mal, wie man reinkommt! Aber dann ging das Theater erst richtig los, und ich musste jedes Mal den Rückzug antreten, sonst hätte Mutter mir womöglich noch das Surfen verboten.

Ich heiße Joe Seefeld. Das heißt, eigentlich heiße ich Josef. Das verdanke ich meiner Oma, denn die war dafür zuständig, meinen Namen auf dem Standesamt anzumelden. Mein lieber Herr Vater war mal wieder auf einer seiner langen Dienstreisen. Handys gab es damals noch nicht (mein Gott!), und daher packte Mutter meine Oma ein und nahm sie mit ins Krankenhaus. Als ich dann auf der Welt war, war von meinem Vater immer noch weit und breit nichts zu sehen. Und so kam es, dass sich ein kleiner Streit um den Namen des Sohnes oder Enkels entwickelte, der sich dann darin entschied, dass meine Oma den Namen Josef anmeldete (schließlich konnte Mutter nicht aus dem Krankenhaus laufen). Oma meinte ganz einfach, Josef erinnere sie und damit den Rest der Familie so schön an ihren verblichenen Mann - also meinen schon nicht mehr vorhandenen Opa - und sei zudem ein heiliger Name. Also sagte sie dem Standesbeamten, Josef soll er heißen. Das war’s dann. Als ich das erfuhr, fing ich an zu schreien und hörte nicht mehr auf, obwohl ich da erst drei Tage alt war! Das erzählt mir meine Mutter heute noch lachend.

Ich war also mit dem Namen Josef gestraft und musste eine ganze Reihe von Jahren unter dem Gespött so mancher Kameraden leiden, bis wir das erste Mal Cowboy und Indianer spielten und ich meine Chance ergriff und zu Joe Cartwright wurde. Den Namen Joe habe ich nie wieder hergegeben.

Aber ich bin etwas abgeschweift. Kommen wir zurück zu dem Tag, der der Beginn einer endlosen Reihe langweiliger Tage zu werden versprach und der dann doch eine Wende einleitete, die mich hineinriss in einen Strudel wahnsinniger Abenteuer, von denen ich bis heute noch nicht richtig glauben kann, dass ich sie erlebt und vor allem überlebt habe.

Ich lehnte mit den Armen verschränkt auf dem Fensterbrett und starrte aus meinem Fenster im dritten Stock unseres Mietshauses nach unten. Neben mir lag mein Hund Lazy. Die beiden Schlappohren ruhten auf seinem Hundekissen, das eigentlich mal mir gehört hatte. Das ständige Sabbern hatte mich dann aber doch dazu bewogen, nachzugeben und Lazy mein Schmusekissen abzutreten. Ich hatte diesen Hund vor vier Jahren geschenkt bekommen, „ ... damit ich auch mal rausgehe ... “, wie Mutter mit fröhlichem Gesicht damals sagte.

Es hatte sich nur schnell herausgestellt, dass der süße Kerl (Lazy ist ein Basset) wohl der faulste Hund im ganzen Universum war, denn schon als Welpe blieb er nach dem ersten Pullern neben unserer Eingangstür sitzen und schaute mir nach. Und das merkte ich erst, als ich schon hundert Meter weitergelaufen war und mein neues Hundchen vermisste. Denn Laufen hasste Lazy genauso wie Kälte. Na, warm war es diesen Sommer wenigstens.

Soweit die Vorgeschichte zu meinem Hund.

Also, wir beide gammelten am Fenster und schauten nach unten. Unten, das hieß: direkt auf die Welfenallee. Wir wohnen, wie mein Vater zu sagen pflegt, in einer gutbürgerlichen Gegend. Ich muss zugeben, ich habe keine Ahnung, was das ist. Wenn gutbürgerlich stinklangweilig bedeutet, dann wohnen wir in einer gutbürgerlichen Gegend.

Da wir also nicht mitten in der Stadt wohnen, ist das Geschehen draußen auf der Straße nicht besonders aufregend. Aber was sollte ich machen? Mein bis dahin 1a-Freund Andi war mit seinen Eltern letzten Monat nach Bayern gezogen, und woher sollte man auf die Schnelle einen neuen 1a-Freund nehmen?

1a nannten wir den besten Freund, das war eben der, dem man alles anvertraute. So ein 1a-Freund ist ein Glücksfall, und wenn dieser nun nach Bayern zieht (ausgerechnet nach Bayern, ein Land, von dem ich mir wahrlich nicht vorstellen kann, dass es da auch nur einen einzigen 1a-tauglichen Freund geben könnte!), dann sitzt man dumm da.

Okay, 1b-Freunde gibt es haufenweise, aber alle, die ich dann so in Gedanken aufzählte und nacheinander anrief, fuhren bald in den Urlaub oder waren schon gleich am ersten Ferientag mit ihren Eltern sonst wohin abgezischt. Deswegen saß ich an diesem Tag stinksauer auf Andi, auf alle 1b-Typen, auf mein Zeugnis, eben sauer auf die ganze Welt, an meinem Fenster und starrte nach draußen. Das einzige, was mich jetzt noch aufrecht hielt, war die Musik, die aus meinen Boxen rieselte. Da ich schon ein ganzes Weilchen aus dem Fenster sah, fing ich wie so oft an zu träumen, sah mich als Superstar auf einer Bühne, die Arme in die Luft streckend einen Megahit singend, und die Welt (vor allem die Mädchen!) lag mir zu Füßen.

Leider reichte das Kabel meines Kopfhörers nicht vom Radio bis zum Fenster. Da Mutter nicht unbedingt die Bässe bis in die Küche hören sollte, denn dann kämen sie und das Thema Zeugnis auf mich zu, konnte ich also meinen Lieblingssender nur viel zu leise hören. Und das machte mich dann noch saurer.

Genau in dieser Stimmung erwischte mich Tommy. Das heißt, eigentlich erst einmal ein Lastwagen, der um die Ecke bog und die Straße entlangschlich. Ich las „Balleck-Umzüge“ auf der Seitenwand, und plötzlich wusste ich, wohin dieser Wagen wollte. Schließlich stand schon seit längerer Zeit die Wohnung über uns leer. Jeden Samstag kam dieser schleimige Hausverwalter mit einer Horde von Interessenten und hinterließ, wie meine Mutter zu sagen pflegte, eine Spur der Verwüstung in unserem Hausflur.

Anscheinend hatte der Fahrer die richtige Hausnummer entdeckt, denn er schaltete die Warnblinkanlage ein und parkte den Laster direkt vor unserer Hofeinfahrt. Na fein. Wenn der alte Tietzmann nach Hause kam – Tietzmann war unserer Hausmeister – würde der einen seiner Anfälle kriegen. Aber ich hoffte, dass die Möbelpacker auch eine entsprechende Packer-Figur hatten, dann würde Tietze endlich mal den Kürzeren ziehen. Jedenfalls, die Möbel-Leute sprangen aus ihrem Wagen, blickten beide wie auf Kommando zu mir nach oben, und ich winkte fröhlich. Sie guckten ein wenig nachdenklich, um nicht zu sagen, bedeppert, als ihnen aufging, dass dies ein Altbau ohne Fahrstuhl war.

Der eine verzog den Mund etwas säuerlich, dachte aber nicht daran, zurückzuwinken. Ich wusste auch, warum, denn die freie Wohnung lag im vierten Stock. Mir war es egal, ob der Mensch da unten unfreundlich war oder nicht. Er würde in den nächsten Stunden so einige Male zweiundneunzig Stufen nach oben und wieder nach unten stapfen müssen, während ich gemütlich weiter mit verschränkten Armen auf dem Fensterbrett hängen und ab und zu genüsslich die Hand zum Gruß heben würde.

Die beiden schienen noch auf jemanden zu warten, und ich wartete gespannt mit ihnen, denn schließlich wollte ich wissen, wer da wieder mal neu in unser Haus einziehen würde.

Eine Minute später kam ein Kombi um die Ecke gebogen. Ein Kombi, wie ihn vielleicht Columbo gefahren hätte. Dieses Auto musste in einer Zeit entworfen worden sein, als Henry Ford noch lebte. Ich dachte, der Wagen könnte auch durchaus aus Amerika sein, denn er war unglaublich breit und lang. Die Seitentüren schienen aus Holz gemacht, ehrlich, und als die Kiste an dem Möbellaster vorbei fuhr und der Fahrer ihn einige Meter weiter abstellte, konnte ich sehen, dass auch die Hecktür aus Holz war. Ja, es war eine Tür! Das Auto hatte hinten eine Tür, nicht etwa eine Klappe. Selbst von hier oben aus konnte man sehen, dass der Wagen hin- und herschaukelte. Als der Motor schon längst abgestellt war, spuckte der Vergaser noch sekundenlang nach.

Dann gingen die Wagentüren auf und zwei eigentlich ganz normal wirkende Leute stiegen aus. Die Frau sah recht hübsch aus, war aber ziemlich alt. So Mitte dreißig, würde ich sagen. Ihr Mann reckte seine wohl müden Glieder – die beiden mussten weit gefahren sein – und lachte seine Frau an. Er war mir sofort sympathisch, sah er doch ein bisschen so aus wie dieser Jessie aus der Serie „Full House“, und den fand ich immer am coolsten.

Er ging um den Wagen herum und öffnete die riesige Hecktür. Und da sprang etwas heraus, wovon ich zuerst dachte, es sei ein riesiger Flummi. Aber es war eindeutig ein Hund! Ein augenscheinlich völlig verrückter Kerl, denn er hopste und sprang auf die Straße, wieder zurück ins Auto und dann wieder auf die Straße. Und das Witzigste war, dass der kleine Kerl wohl überhaupt nicht richtig laufen konnte, sondern der sprang und hopste wie ein kleiner Springbock. Genau das völlige Gegenteil von Lazy.

Ich schubste meinen Hund.

„Sieh’ mal, da unten, mit dem müsstest du mal auf den Hundeplatz. Der könnte dir von seiner Energie noch einiges abgeben!“

Lazy starrte demonstrativ auf die gegenüberliegende Straßenseite, ignorierte diesen verrückt gewordenen Hampel-Hund da unten und bettete mit einer Art erhabener Überheblichkeit sein Haupt wieder aufs Schmusekissen.

Der Hund auf der Straße raste mit seinen Hüpfsprüngen in unsere Einfahrt, so dass ich ihn einen Moment lang nicht mehr sehen konnte. Zwei Sekunden später kam er wieder hervorgehopst und sprang zurück in den Kombi.

Ich fand das richtig spannend. Wann kriegt man schon mal neue Nachbarn, die aussehen wie Schauspieler, ein Auto fahren wie Columbo und einen Hund haben, der nicht ganz dicht ist.

Auf einmal bewegte sich der Wagen wieder und wippte bedenklich auf seinen uralten und vermutlich längst nutzlosen Stoßdämpfern. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie der komische kleine Hund das wohl hinkriegen sollte, als sich auf einmal zwei nackte Beine aus dem Kofferraum schwangen. Ein Junge erschien auf der Bildfläche. Während ich noch gespannt nach unten starrte, ob der vielleicht wie jemand aussah, mit dem man sich anfreunden könnte, sprang der kleine Hunde-Flummi raus aus dem Wagen, wieder rein in den Wagen, dann auf den Schoß des Jungen, dann wieder runter, flitzte in unsere Hofeinfahrt, kam zurück, flitzte in unser Haus - die Tür musste wohl offen stehen - und dann wieder ins Auto. Und das Ganze ging wieder von vorne los. Ich dachte, dieser Hund ist schwer gestört, mit dem würde meine Mutter niemals fertig werden. Ich warf noch mal einen Blick auf Lazy, aber da hatte sich nichts geändert. Lazy lag nach wie vor mit gelangweiltem Blick auf seinem Kissen, die Ohren rechts und links von seinem Kopf ausgebreitet und sagte mir auf seine Art „Siehst du, ist doch besser, man hat einen faulen Hund“.

Ich konnte von meinem Standort aus gar nicht richtig erkennen, um was für eine Rasse es sich überhaupt bei dem Kerlchen handelte, aber ich war sicher, dass ich das schon noch rausbekommen würde. Schließlich würden die neuen Nachbarn ja nicht morgen schon wieder ausziehen. Den Jungen konnte ich schon besser erkennen, und als er seine Beine über den Rand des Kofferraums baumeln ließ und sich dann schließlich schwungvoll mit den Händen abstieß und mit einem Satz auf die Straße sprang, genau in diesem Augenblick wusste ich, der hat genau meine Wellenlänge. Ich hätte noch nicht einmal sagen können, warum, aber die Art, wie er da erschien und überhaupt nicht ein bisschen zögerte oder vielleicht unsicher wirkte, zog er doch schließlich von seinem bisherigen Zuhause in ein neues, zeigte mir, dass da genau der Richtige über mir einzog.

Und dann noch dieser Hund! Als sein Herrchen endlich aus dem Wagen war, sprang das tobende Etwas in die Höhe, direkt in die Arme des Jungen. Die Eltern schienen das zu kennen, denn die Mutter lächelte nur, und der Vater ging rüber zu den Möbel-Fahrern und gab ihnen Anweisungen. Dann sahen alle drei (und der Hund!) zu mir nach oben und überraschten mich beim Zuschauen. Doch ehe ich wusste, was geschah, machte sich mein Arm selbständig und winkte den Vieren da unten ziemlich heftig zu. Lazy erschreckte sich richtig, hob den Kopf und bettete ihn einen Zentimeter weiter rechts von mir wieder nieder.

Ich weiß nicht, warum, aber ich wollte unbedingt, dass mich dieser Junge gut fand und er vielleicht gleich bei uns klingeln möge. Ich hatte das unbestimmte Gefühl, mit einem Freund wie diesem könnte die sonst unweigerlich auf mich zukommende Langeweile dieser Ferien doch noch abgewendet werden. Die neuen Nachbarn winkten genauso heftig zurück und verschwanden dann aus meinem Blickfeld ins Haus, um ihre neue Bude in Beschlag zu nehmen.

Ich dachte, der Vater käme noch mal zurück, aber das tat er nicht, und so blieben die drei Türen des alten Columbo-Kombis sperrangelweit offen. Vielleicht sollte er lüften, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass diese Familie einfach anders war als alle, die ich bisher kannte. Und genau deswegen blieben die Türen offen.

Hätte der Wagen springen können, er wäre ums Haus gehopst.

*

„Josef!“

Meine Mutter stand mit funkelnden Augen und in die Hüften gestemmten Armen im Rahmen der Zimmertür. Ich hatte in meinem Eifer gar nicht bemerkt, dass die Tür aufgegangen war, und jetzt hatte ich den Salat. Lazy ließ sich vom Fensterbrett zurück auf den Boden fallen, was wie immer mit einem Geräusch verbunden war, das an einen herabfallenden nassen Wischlappen erinnerte. Schließlich war er ein fauler und zudem noch recht schwerer Hund und federte nicht sportlich nach. Dann trabte er in die für diesen Zweck von ihm auserkorene Ecke hinter meinem Bett und kringelte sich zusammen. Wenn irgendjemand in unserer Familie wütend und die Stimmung gereizt war, zog sich mein Hund immer in diese gemütliche Kuhle zurück und ließ mich allein. Hund müsste man sein.

„Mein lieber Sohn, ich habe überhaupt nicht bemerkt, dass du wieder da bist. Könnte das bedeuten, dass du mir etwas zu verheimlichen hast? Vielleicht ein kleines Stück Papier? So ein ähnliches, wie es heute ein paar tausend Leute in die Hand gedrückt bekommen haben? Und dann finde ich es sehr traurig, dass du nicht einmal mehr das Vertrauen in uns hast, auch schlechte Nachrichten mit uns zu besprechen.“

Mann, wenn sie mit dem „ ... ich finde es sehr traurig ... “ und „ ... kein Vertrauen ... “ anfing, dann vergrößerte sich mein sowieso schon vorhandenes schlechtes Gewissen noch um ein Vielfaches. Dabei hatte ich es ja nur gut gemeint.

„Ich wollte doch nicht, dass ihr euch aufregt“, versuchte ich es. „Es ist so ein schöner Tag.“

Mutter ließ die Arme herabfallen und schüttelte verzweifelt den Kopf.

„Du solltest eigentlich langsam wissen, dass wir uns nicht aufregen, sondern die Dinge gemeinsam besprechen.“

„Und was ist dann mit dem Fernseh- und Surfverbot, das Vati mir immer reinhaut?“

Sie wollte noch etwas erwidern, und ich konnte deutlich sehen, wie sie sich in Gedanken etwas zurechtbog, was meinen Vater entlasten und was gleichzeitig ihrer Argumentation nicht widersprechen durfte, als ich wie von göttlicher Fügung Hilfe von unerwarteter Seite bekam. Es klingelte an der Wohnungstür.

Meine Mutter holte tief Luft, aber an ihren Augen sah ich, dass sie mir doch nicht ernsthaft böse war. Sitzen geblieben war ich schließlich nicht, denn das hätte man meinen Eltern in einem extra Brief mitgeteilt. Allerdings, viel gefehlt hatte nicht. Und wie knapp es war, das konnte man schon an meinen Noten im Zeugnis ablesen. Tja, also fürs Sparbuch würde dieses Jahr garantiert nichts herausspringen. Es sei denn, ich würde Oma mal ohne meine Eltern besuchen. Da bräuchte ich nicht mal schwindeln, Oma war schon zufrieden, wenn ich jetzt in die Siebte ging, denn viel weiter hatte sie es selbst nicht geschafft. Sind doch gewaltige Unterschiede zwischen Eltern und Großeltern. Für den Augenblick jedoch war ich recht froh, dass ich die heikle Angelegenheit erst noch einmal verschieben konnte.

„Das sind die Neuen!“, rief ich und drängelte mich an meiner Mutter vorbei.

„Welche neuen?“, fragte sie verwundert.

„Na, die von oben, die mit dem durchgedrehten Hund!“

Ich wollte nicht noch länger mit Mutter diskutieren, denn wenn sie gemerkt hätte, wie lange ich eigentlich schon zu Hause gewesen sein musste, konnte die später folgende Diskussion doch noch recht unangenehm werden. Ich rannte förmlich zur Tür, um die höchst willkommenen Gäste begrüßen zu können.

Als ich öffnete, hatte ich genau eine Sekunde, um den Jungen, der da vor mir stand, als den zu registrieren, der mir von der Straße aus zugewinkt hatte, und dann dachte ich noch: Wo ist der Hund? Doch schon im selben Augenblick bemerkte ich aus den Augenwinkeln heraus eine Bewegung. Ich hörte einen merkwürdig quiekenden Laut, und ehe ich mich versah, sprang mir genau dieser verrückte Hund mitten ins Gesicht!

Mir blieb nichts anderes übrig, als dieses zappelnde und quirlige Etwas mit beiden Armen festzuhalten und mich so gut ich konnte, vor der schlabbernden Zunge zu schützen.

Nach der ersten wilden Begrüßung wurde der kleine Hund auf einmal ganz ruhig und schmiegte seinen Kopf an meinen Hals.

„Entschuldige, aber das macht Jever nur bei Leuten, die er mag“, sagte der Junge vor unserer Tür mit verschmitztem Lächeln. „Dann allerdings jedes Mal, wenn er dich trifft. Da wirst du wohl jetzt immer mit rechnen müssen.“

Während ich den kleinen Kerl auf meinem Arm streichelte, hatte ich endlich Zeit, mir sein Herrchen in Ruhe anzusehen. Er war ein kleines bisschen größer als ich, aber das ändert sich ja in unserem Alter von Monat zu Monat. Wenn er lachte, und das tat er ja gerade, als er sah, wie ich etwas ungeschickt mit seinem Hund umging, dann bildeten sich zwei kleine Grübchen neben seinen Mundwinkeln. Ich glaube, niemand auf der Welt hätte ihm dann böse sein können, ganz egal, was er vorher gerade angestellt haben mochte. Er stand vor mir mit einer Ausstrahlung wie einer aus den Fernsehserien, die für alles eine Lösung haben und immer die richtigen Worte finden. Ich selbst hätte niemals so selbstbewusst dagestanden, hätte ich mich bei neuen Nachbarn vorstellen müssen. Seine schwarzen Haare waren unglaublich dicht und kraus. Sie waren auch recht lang. So lang, dass ich, wären das meine gewesen, sicher Ärger mit meinen Eltern bekommen hätte. Aber der Vater von diesem Jungen hier (Jessie!) trug die Haare ja auch so lang. Allerdings meinte ich, dass er im Gegensatz zu seinem Sohn glattes Haar hatte. Jedenfalls, soweit ich das vom Fenster oben hatte sehen können.

Ich wollte ihn nicht zu lange anstarren, aber mir fiel nichts ein, was ich ihm sagen konnte. Doch das Problem löste sich von selbst.

„Ich wollte dich fragen, ob du uns vielleicht kurz helfen könntest, ein paar Sachen nach oben zu tragen. Natürlich nur, wenn du Zeit und Lust hast. Ich dachte, da du vorhin am Fenster so ausgesehen hast ...“

„Als hätte er nichts zu tun“, ergänzte meine Mutter. Meine Mutter hatte ich total vergessen. Und noch jemanden hatte ich völlig verdrängt. Aus einer Ecke unseres Flurs kamen merkwürdige und doch irgendwie beleidigt klingende Laute an mein Ohr. Lazy!

Ich drehte mich um und entdeckte meinen eigenen Hund vor meinem Zimmer sitzend, die Ohren herabhängend (das taten sie allerdings immer, aber jetzt sah er dadurch noch viel beleidigter aus!) und leise vor sich hin jammernd. Tja, da hatte ich wohl den unverzeihlichen Fehler begangen und einen anderen Hund auf den Arm genommen!

Meine Mutter nahm wie immer das Heft in die Hand.

„Wie ich merke, habt ihr euch ja schon bekannt gemacht. Es kann ja wohl nicht schaden, wenn du ein wenig hilfst, Josef. Vor allem in Anbetracht dessen, worüber wir vorhin gerade gesprochen haben und worüber wir heute Abend noch einmal in Ruhe mit Vati sprechen werden.“

Mann, sie blamierte mich hier vor meinem vielleicht neuen Freund, und ich hatte nicht den Mut, irgendetwas Cooles zu erwidern. Und sie war noch nicht fertig, doch Gott sei Dank vermied sie das Thema Zeugnis.

„Willst du nicht einen Moment reinkommen und etwas trinken? Ihr seid doch sicher ziemlich lange unterwegs gewesen und habt wahrscheinlich noch nicht mal einen Kühlschrank oben, stimmt’s? Und wenn ihr beide jetzt ordentlich schleppen wollt, solltet ihr vorher Energie tanken.“

„Das ist sehr nett von Ihnen, Frau Seefeld.“ Aha, er hatte sich vorher unseren Namen auf dem Türschild eingeprägt! „Ich muss mich entschuldigen, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt, mein Name ist Thomas Garcia, aber alle nennen mich Tommy.“

Und dann sah er mich an und grinste.

„Und dich nennen sicher alle Joe, habe ich Recht, Josef?“

„Bingo!“, sagte ich und grinste ebenfalls. „Hast du auch eine Oma gehabt, die deinen Namen auf dem Standesamt eingetragen hat?“

„Nein, dafür war mein Vater zuständig. Aber das ist eine lange Geschichte.“

Während er dies sagte, bekamen seine Augen einen seltsamen Glanz, und ich konnte mir keinen rechten Reim darauf machen. Ich wurde etwas unsicher, aber da kam mir jemand zu Hilfe, der immer noch auf meinen Armen saß und schmuste. Jever wurde unruhig und fing an zu zappeln, also stellte ich ihn vorsichtig auf die Beine und wartete darauf, was für einen Anfall der Kleine jetzt wohl wieder bekam. Tommy kam inzwischen zur Tür rein und Mutter machte sich daran, uns etwas zu trinken zu holen.

„Was möchtet ihr denn?“ rief sie uns über die Schulter zu. „Cola, Apfelsaft oder Wasser?“

„Wenn es Ihnen nichts ausmacht, ich hätte gern ein Mineralwasser mit wenig Kohlensäure.“

Ich musste wohl ein ziemlich verblüfftes Gesicht machen, denn Tommy lachte.

„Wasser ist das Beste zum Trinken. Wusstest du nicht, dass Mineralwasser Calcium, Magnesium und Hydrogencarbonat enthält, alles Bausteine, die unser Körper zum Leben braucht?“

Ich lachte jetzt auch.

„Ich lebe auch mit Cola! Sag’ mal, redest du eigentlich immer so?“

„Klar“, sagte er völlig ernst, und ich dachte tatsächlich für einen Moment, au weia, ein Besserwisser! Doch dann grinste er von einem Ohr zum anderen, und ich kapierte, dass er mich reingelegt hatte.

„Nein, natürlich nicht. Ich mag halt nur Wasser. Das andere klebrige Zeugs macht nur noch mehr Durst. Aber keine Angst, ich habe auch Schwächen!“

„Nein!“, rief ich mit gespieltem Ernst.

„Doch! Ich esse Chips. Ich liebe Chips! Ich bin abhängig von Chips! Ich kann keinen Tag ohne sie sein. Das ist doch eine ziemliche Schwäche, findest du nicht?“

Ich nickte andächtig. Ja, in Chips konnte ich mich auch reinlegen.

„Welche magst du am liebsten?“, fragte ich.

„Nur die ganz dünnen ohne irgendwelche Spielereien. Kein Paprika, kein Käse, keine Sour Cream. Nur gesalzen müssen sie sein.“

Mann, genau die liebe ich auch! Ich bekam Hunger. Mutter kam aus der Küche mit zwei Gläsern zurück. Zweimal Mineralwasser!

„Möchte dein Hund auch ein bisschen Wasser?“

„Vielen Dank, Frau Seefeld, aber Jever trinkt jeden Abend eine halbe Flasche Bier. Das reicht ihm. Deswegen heißt er übrigens auch Jever.“

Meine Mutter guckte völlig entgeistert.

„Was? Bier? Aber ein Hund kann doch nicht ... “ Aber dann bemerkte sie Tommys lachende Augen und musste mitlachen.

„Das stimmt gar nicht!“

„Na ja“, meinte Tommy, „Gleich am ersten Tag, als wir ihn bekamen, hat er in der Küche Unsinn gemacht und eine Flasche Bier umgestoßen. Und dann hat er sich leider auch ein wenig betrunken. Seitdem heißt er Jever, und wehe, er sieht eine Flasche Bier! Sie müssen gut aufpassen, Frau Seefeld!“

„Du nimmst mich auf den Arm!“, lachte Mutter, aber ich konnte sehen, dass sie sich da ganz und gar nicht so sicher war. Dann reichte sie Tommy und mir die beiden Gläser mit dem Mineralwasser und schaute von Jever zu Lazy und wieder zurück.

„Ihr beiden scheint euch ja schon zu verstehen, und was ist mit euren Hunden?“

Seit ich Jever wieder abgesetzt hatte, saß der Kleine zu meiner Verblüffung seelenruhig auf den Dielen und sah sein Herrchen mit schiefem Kopf von unten her an. Lazy grummelte immer noch vor meiner Tür vor sich hin, machte aber keine Anstalten, seinen neuen Hundenachbarn zu begrüßen.

Tommy sagte nur: „Na, geh’ schon!“, und schon sprang Jever auf, raste auf Lazy zu und hüpfte in seiner zwar mir schon, aber Lazy noch nicht bekannten Manier um meinen Hund herum. Dabei stubste und leckte er den armen Lazy, dass der nicht mehr wusste, was er denn tun sollte: kläffen, knurren oder mit rumtollen. Er saß nur da, ließ es mit sich geschehen, und es schien, als sei ihm das Gehabe ein wenig peinlich. Doch endlich bequemte sich mein fauler Hund dann doch, seinen schweren Körper hoch zu hieven und ehe ich mich versah, waren die beiden in eine richtige tolle Rauferei übergegangen.

„Tja“, sagte ich zu Tommy, „Ich denke, mein Hund wird in nächster Zeit etwas abnehmen müssen!“

Tommy nickte völlig ernst.

„Da kann er ja gleich mit anfangen. Jever hilft nämlich unheimlich gern, irgendetwas zu tragen. Er wird deinem Hund, wie heißt er eigentlich ...?“

„Lazy“, erwiderte ich etwas peinlich berührt, wo ich doch den Unterschied zwischen den beiden so deutlich wahrnahm.

„Also wird er Lazy beibringen, beim Umzug zu helfen“, bekräftigte Tommy. Während er meiner Mutter sein leeres Glas zurückreichte, besah er sich unsere dekorativen Bilder neben der Garderobe und nickte dann anerkennend.

„Hm, das Haarlemer Meer von van Goyen und die Rhonebarken von van Gogh. Es sind zwar nur Kunstdrucke, aber Sie haben einen exzellenten Geschmack, Frau Seefeld.“

Meiner Mutter klappte die Kinnlade runter.

„Woher weißt du das denn?“, fragte sie verblüfft. „Ich hatte keine Ahnung, von wem die Bilder sind.“

Tommy wurde rot. „Ich ... ich wollte nicht ... ich weiß ein bisschen über Bilder Bescheid, weil Manfred malt.“

„Das braucht dir nicht peinlich sein“, beruhigte meine Mutter meinen neuen Freund. „Ich finde es gut, wenn ein Junge in deinem Alter so etwas weiß.“

Tommy war sichtlich verlegen. Dann wandte er sich an mich.

„Was ist, Joe, können wir loslegen?“

Ich nickte begeistert und wusste gar nicht, warum. Noch gestern hätte ich die Idee, bei einem Umzug helfen zu müssen, als völlig abwegig bezeichnet. Tommy schnalzte kurz mit der Zunge, und Jever ließ sofort von Lazy ab und stürmte aus der Tür. Mein Hund guckte genauso verblüfft wie meine Mutter und ich, aber oh Wunder, dieses eine Mal war er schneller als ich, raffte sich auf und rannte, na ja, lief hinterher.

Ich drückte meiner Mutter, die jetzt unsere Bilder unter ganz neuen Gesichtspunkten betrachtete, mein Glas in die Hand und folgte Tommy, der schon eine halbe Treppe tiefer war.

Dies war der erste Tag mit Tommy, der erste Tag der Sommerferien und der Beginn einer Reihe von unglaublichen Erlebnissen.

Ich hatte in diesem Moment begonnen, gefährlich zu leben. Aber noch wusste ich es nicht.

Das Buch der Gaben

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