Читать книгу Das Buch der Gaben - Micha Rau - Страница 5

Das Haus

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Für den nächsten Tag hatten wir verabredet, uns das verlassene Haus näher anzusehen. Tommy hatte den Mädchen einfach so davon erzählt.

Erst war ich stinksauer, hatte ich mich doch darauf gefreut, mit Tommy genau wie mit Andi früher allein durch dieses wilde Grundstück zu streunen und zu versuchen, das Haus zu erobern. Aber nach und nach freundete ich mich doch damit an, dass wir nun zu viert waren. Nicht etwa wegen meiner Schwester, nein, Sanne hätte von mir aus sechs Mal die Woche zum Ballett gehen können, die war sowieso nur im Weg. Ich dachte dabei eher an Janine, und ich wusste noch nicht einmal so genau, warum. Nicht, dass ich mich verliebt hätte, aber ich fühlte mich ziemlich wohl in ihrer Nähe. Das kann ich jetzt sagen, wo ich es aufschreibe, lange nach der Zeit mit uns Vieren, aber damals hätte ich natürlich alles vehement abgestritten.

Na, wie dem auch sei, ich traf zuerst bei Tommy ein, bei dem wir uns alle verabredet hatten. Das war ja auch nicht weiter schwierig, wohnte er doch nur eine Treppe über mir. Sanne wollte noch auf Janine warten.

Als ich geklingelt hatte und er die Tür öffnete, bekam ich große Augen. Tommy stand mir gegenüber, hatte einen großen Rucksack geschultert, eher die kleinere Ausgabe eines Seesacks, und in der Hand hielt er ein gebogenes Schwert.

Jever sprang mir wie immer in die Arme, und das lenkte mich erstmal ab. Kopfschüttelnd wehrte ich die nassen Leckattacken des kleinen Wirbelwindes ab und folgte Tommy in sein Zimmer. Allerdings erst, nachdem wir geduldig auf Lazy gewartet hatten, der sich sichtlich sauer die Treppe hinaufgeschleppt hatte.

„Woher hast du das denn?“, fragte ich, auf das Schwert oder den Säbel zeigend.

„Das ist eine Machete aus Madagaskar“, antwortete Tommy. „Die hat mir mal Man... , ich meine Jessie, mitgebracht. Du weißt, Jessie malt und verdient auch sein Geld damit. Er reist oft in die exotischsten Länder, um dort nach Motiven zu suchen. Die hier hat er von einer Familie aus Madagaskar als Bezahlung für ein Bild bekommen, das er von ihnen gemalt hat. Statt Geld. Es ist eine echte Machete, und man muss vorsichtig mit ihr umgehen, sie ist verdammt scharf.“

Er griff sich ein auf seinem Bett liegendes Futteral und steckte die Machete hinein.

„Hier ist sie sicher. Du hast gesagt, das Grundstück ist voller Brombeeren und Sträucher, da könnten wir das Ding vielleicht gut gebrauchen.“

Ich nickte, war aber skeptisch. Wenn ich so ein Ding hätte ...

„Und Jessie? Weiß er, dass du sie mitnimmst?“

„Ich habe ihn gefragt, und er hatte nichts dagegen. Ihr müsst nur weit genug von mir wegbleiben, wenn ich damit rumhacke.“

Ich dachte, toll, mein Vater hätte einen Anfall bekommen, wenn er gewusst hätte, dass wir so ein Ding mit uns rumschleppen wollten. Bei der schlechten Laune, die er dauernd hatte, durfte ich ihm auf keinen Fall was von dem Ding sagen. Ich zeigte auf Tommys Rucksack.

„Und was ist da alles drin?“

Er stellte das Ding auf den Boden, setzte sich aufs Bett und öffnete die Verschlüsse. Dazu machte er ein geheimnisvolles Gesicht und weidete sich an der Spannung, die mir wohl deutlich anzusehen war. Schließlich griff er ein halbes Dutzend Mal hinein und holte unglaublich viel Zeugs heraus.

Zuerst erschien ein Fernglas, danach ein dickes und klobiges Schweizer Taschenmesser, ein Kompass, eine Taschenlampe, eine kleine Wasserwaage, dann vier Halbe-Liter-Flaschen Mineralwasser - natürlich mit wenig Kohlensäure - und zum Schluss noch zwei große Tüten Chips, selbstverständlich die ohne Spielereien, die dünnen nur mit Salz.

„Die müssen wir uns teilen“, grinste Tommy. „Vier von den Tüten gingen da beim besten Willen nicht rein. Da sind nämlich auch noch zwei Handtücher drin. Aber ich bin ja nicht so, ich geb euch was ab“, meinte er gnädig.

„Handtücher?“

„Heute wird's heiß. Wir werden schwitzen.“

Ich griff mir das Fernglas und probierte es aus.

„Und wozu brauchst du das?“, fragte ich.

„Keine Ahnung“, gab Tommy zu. „Man kann nie wissen. Ich hab's halt gern dabei. Das Taschenmesser ist genial und hilft fast immer bei irgendwas, wenn man unterwegs ist. Na, und einen Kompass sollte man immer mitnehmen, für alle Fälle.“

„Ja, ja, das ist schon wichtig“, sagte ich mit gespieltem Ernst. „Wo doch das Grundstück am Ende unserer Straße liegt.“

„Ja, du kennst dich hier aus, aber wenn wir getrennt werden, was ist dann mit mir?“, fragte Tommy genauso ernst. Und dann mussten wir beide dermaßen lachen, dass unsere Hunde uns ganz verschreckt anschauten.

Als wir uns einigermaßen erholt hatten, packte Tommy den ganzen Kram wieder ein. Bei der Wasserwaage stockte er.

„Wie die hier reinkommt, weiß ich selber nicht. Die könnte ich eigentlich hier lassen.“

Als er noch unschlüssig darüber nachdachte, was man wohl auf einem zugewachsenen Grundstück mit einer Wasserwaage anfangen könnte, klopfte es an der Zimmertür, und gleich darauf steckte Tommys Mutter den Kopf herein.

„Hallo ihr beiden, Janine und deine Schwester sind da.“

Das nahm ihm die Entscheidung ab. Mit einem „Warum nicht?“ stopfte er die kleine Waage noch mit in den Rucksack, und wir konnten aufbrechen.

*

Wir standen vor dem Grundstück und versuchten, durch eine Lücke im dichten Gebüsch einen Blick auf das Haus zu erhaschen.

Es war das letzte in unserer Straße, danach begann der Wald. Der Abschnitt hier war eine Sackgasse, in die sich kaum ein Auto verirrte, und hier war nicht einmal asphaltiert worden. Es schien, als hätte man diesen Teil der Straße schlichtweg vergessen.

Gegenüber von diesem verlassenen Grundstück standen noch zwei, drei Einfamilienhäuser, aber es parkten keine Autos davor und man sah nie jemanden im Garten arbeiten. Ich wusste aber, dass es zumindest in der Richtung, in der unser eigenes Haus lag, einen Nachbarn geben musste, denn von dem waren Andi und ich doch das eine oder andere Mal verjagt worden, wenn wir irgendeinen Überfall zu laut nachgespielt hatten. Nur jetzt sah ich nichts von diesem Nachbarn. Weder sein Haus noch sonst was. Allerdings war unser Abenteuergrundstück ziemlich groß, ja sogar verdammt groß. Mein Vater hätte das wieder in Geld ausgedrückt: „Mein Sohn, so ein Grundstück in dieser Lage bringt zweihundert pro Quadratmeter, das wären bei zweitausend Quadratmetern ... , na?“ Aber das interessierte mich herzlich wenig bei meinem Taschengeld.

Tommy blickte links und rechts lang, sagte dann: „Wartet“ und schritt gleich darauf den Zaun an der Welfenallee ab, bog am Wald angekommen um die Ecke und verschwand aus unserem Blickfeld.

„Was macht er denn jetzt?“ fragte Sanne.

„Er misst aus“, murmelte Janine, die wie angewurzelt dastand und durch den Zaun und das Gestrüpp auf das Haus starrte. Es schien mir, als hätte sie Bedenken, sich auf die Sache heute mit uns Jungs und Sanne eingelassen zu haben. Ich gewann etwas Hoffnung, mich nachher vielleicht noch als starker Begleiter zu etablieren. Doch ehe ich mir das weiter ausmalen konnte, kam Tommy zurück.

„Etwa dreitausend Quadratmeter. Das ist riesig für unsere Wohngegend.“

„Und was sagt uns das?“, fragte Sanne herausfordernd.

„Das sagt uns, dass dieses Haus und dieses Grundstück hier schon sehr lange in diesem Zustand existieren müssen. Denn bei euch in der Gegend gibt es eigentlich nur kleine Grundstücke, vielleicht vierhundert, maximal sechshundert Quadratmeter groß. Allein schon deswegen, weil es hier am Stadtrand am teuersten ist. Man hat bestimmt fast alle diese großen Grundstücke verkauft und in kleinere aufgeteilt.“

„Aha“, machte Sanne. „Und?“

„Es gibt eigentlich nur zwei Möglichkeiten. Entweder der Eigentümer hat genug Geld und Grundstücke und es ist ihm egal, was damit passiert.“

„Oder?“, drängte Janine, die sich jetzt von dem Haus losriss und Tommy anblickte.

„Oder der letzte Besitzer ist tot.“

„Tot?“, fragten die beiden Mädchen fast gleichzeitig und guckten Tommy entgeistert an. „Du meinst, da drinnen könnte ein Toter liegen? Vielleicht schon völlig verfault? Und da willst du rein?“

Tommy wandte sich an mich.

„Wie lange kennst du dieses Haus schon in dem Zustand?“

Ich überlegte.

„So lange, wie ich hier wohne. Es war nie anders. Wir sind hier rausgezogen, da war ich sechs. Also vor sechs Jahren.“

„Tja, Leute“, machte Tommy, „dann ist er nicht nur verfault, dann liegen höchstens noch ein paar Knochen rum. Aber ich denke eigentlich nicht, dass eine Leiche da drin liegt. Selbst wenn jemand keine Verwandten mehr hat, kommt doch irgendein Amt nach so langer Zeit dahinter, dass derjenige nicht mehr lebt und lässt Nachforschungen anstellen. Fast jeder hat doch ein Auto, Rechnungen, die er nicht mehr bezahlt und so weiter.“

„Vielleicht ist es auch ein Erbstreit. So was zieht sich manchmal über Jahre“, grübelte Janine.

„Das wäre dann die dritte Möglichkeit“, sagte Sanne und schaute mich triumphierend an. „Siehst du, Tommy weiß doch nicht alles!“

Tommy lachte. „Hat er das gesagt? Na, da kann ich euch beruhigen. Ich merk’ mir nur viel von dem, was ich mal gehört oder gelesen habe. So was wie ein fotografisches Gedächtnis. Aber ... “ sagte er und tippte sich dabei an den Kopf, „ ... ein bisschen Denken gehört immer noch dazu! Janine hat Recht. Das mit dem Erbstreit ist nicht schlecht. Aber wollen wir nun rein oder nicht? Joe war doch mit seinem Freund hier schon oft und es ist nie was passiert.“

Das leuchtete den Mädchen ein, und ihre Bedenken schwanden erst einmal. Endlich konnte auch ich mal was beitragen.

„Andi und ich sind immer vom Wald aus reingekommen. Da gibt es ein Loch im Zaun. Ich glaube, da sind auch ab und zu mal Wildschweine durch.“

„Na, dann man los“, sagte Tommy entschlossen, und ich ging voraus, um unserer Bande den Weg zu zeigen.

Ich fand das Loch auf Anhieb wieder und es war wider Erwarten nicht sonderlich schwer, die wild wuchernde Buchsbaum-Hecke zu durchdringen und ehe wir groß über die Konsequenzen nachdenken konnten, waren wir durch und fanden uns inmitten dieses unglaublich wilden und abenteuerlich anmutenden Gartens wieder.

Natürlich hatten unsere beiden Hunde längst nicht so viele Bedenken wie ihre zweibeinigen Besitzer. Jever tobte über die Wiese und Lazy erschnüffelte sich diese wilde Welt mit der ihm eigenen erhabenen Übersicht, sprich: Langsamkeit. Die beiden schienen sich richtig wohl zu fühlen, und so fiel das mulmige Gefühl, das uns vielleicht noch kurz vorher bei dem Gedanken an eine faulige Leiche überkommen war, recht schnell von uns ab.

Langsam gingen wir um das Haus herum. Ab und zu schlug Tommy uns den Weg mit der Machete frei. Aber im großen und ganzen schien es mir, als wären die Bereiche rund um das Haus weit weniger mit stacheligen Brombeerhecken oder sonstigem Unkraut zugewuchert, als ich das von früher her in Erinnerung hatte.

„Achtet auf einen Eingang!“, rief ich über die Schulter zurück zu den Mädchen. Ich war zwar sicher, dass es keinen gab, aber ich wollte, dass sie sich fühlten, als ob sie zu uns gehörten an diesem spannenden Nachmittag. Und ich fand, das taten sie bereits.

Das Haus war graubraun verputzt, so wie viele in der Gegend. Soweit ich von meinem Vater wusste, mussten diese Häuser in den dreißiger Jahren erbaut worden sein, kurz vor dem zweiten Weltkrieg. Es waren stabile Bauten mit Kellern, die man noch Keller nennen konnte. Allerdings, so mein Vater, waren sie nicht isoliert und wenn man so eins kaufte, musste man erst gegen den Schimmel und die Mäuse ankämpfen.

Eigentlich war es ein recht kleines Haus, es bestand nur aus dem Erdgeschoss und einer ersten Etage, die gleich auch das Dach trug. Die Fenster waren etwa anderthalb Meter über dem Erdboden, und die Dachfenster in den Gauben waren für uns sowieso unerreichbar. Stellenweise wuchs Wein und Efeu am Putz empor, und der eine oder andere kleine Vogel ließ sich aus dem Gestrüpp vernehmen.

Langsam umrundeten wir das Haus, und nichts, aber auch gar nichts, deutete auf einen Eingang hin. Als wir wieder an unserem Ausgangspunkt angelangt waren, fühlte ich eine Art Resignation in mir aufsteigen, obwohl es doch eigentlich keinen Grund für so ein Gefühl gab, schließlich konnte man auch so auf diesem Grundstück einiges anstellen.

Tommy verscheuchte meine Gedanken.

„Gut. Das wäre der erste Schritt. Machen wir den zweiten.“

Wir schauten ihn gespannt an.

„Jeder von uns nimmt sich in Ruhe eine Seite des Hauses vor, und wenn euch irgendetwas auffällt, egal was, ruft ihr. Alles klar?“

Sofort waren wir wieder Feuer und Flamme und verteilten uns. Ich nahm mir einen Stock, der von einem morschen Baum abgefallen war, um auf meiner Seite des Hauses die stacheligen Äste beiseite schieben und näher an die Wand herankommen zu können. Ich ging äußerst gründlich vor, trat Gestrüpp zur Seite, entfernte einigen Unrat, den vielleicht ein paar Landstreicher hier hinterlassen haben mochten, und suchte so genau wie möglich die Wand nach Anzeichen ab, ob hier nicht vielleicht doch irgendwann einmal eine Tür zugemauert worden war. Aber nichts. Nicht einmal die Spur einer abweichenden Färbung des Putzes oder einer vielleicht sich vorwölbenden Linie, die einen ehemaligen Eingang verraten hätte.

Ich war kurz davor, der Versuchung nachzugeben, hoch zu springen und mich auf eines der Fensterbretter zu ziehen, um wenigstens einen Blick hinein zu werfen, obwohl ich auch das früher schon probiert hatte, da gellte ein Schrei von der anderen Seite des Hauses zu mir herüber.

Ich fuhr herum und handelte mir dabei von den Dornen eines Brombeerstrauchs ordentliche Kratzer am Arm ein.

„Joe!“, schrie jemand, und ich glaubte, es war Janine. Mir fuhr es durchs Herz. Sie schrie Joe und nicht etwa Tommy! So schnell es ging, arbeitete ich mich durch das Dickicht nach draußen und rannte um das Haus herum. Jever und Lazy spürten sofort, dass etwas hier ganz und gar nicht normal war und rannten mir nach.

Als ich ankam, war Tommy schon dabei, die kleine Gasse, die Janine wohl frei getreten hatte, um an das Haus zu kommen, mit der Machete zu vergrößern. Schließlich standen wir alle schwer atmend und ziemlich aufgeregt bei Janine und schauten uns gehetzt nach irgendwas um, von dem wir nicht wussten, was es denn eigentlich war.

„Was hast du?“, fragte Tommy, „Was ist passiert? Hier ist doch gar nichts!“

Janine blickte uns mit einem triumphierenden Lächeln an und kostete ihre folgenden Worte so richtig aus. Schließlich passierte es nicht ständig, dass man mehr wusste als Tommy. Ich fand es richtig schade, dass sie nicht in Gefahr war, schwand schließlich die Möglichkeit, sie in den Arm nehmen zu können.

Janine weidete sich noch ein paar Sekunden an unseren fragenden Gesichtern. Schließlich nahm sie meine Hand, was mir einen Schlag versetzte und führte mich ein paar Meter weit an der Wand entlang. Dann blieb sie stehen, blickte zurück und zeigte auf eine Stelle an der Hauswand etwa einen halben Meter über unseren Köpfen.

„Schau dir diese Stelle an und geh dann langsam an der Wand entlang.“

Zuerst sah ich nichts, doch als ich die Stelle fixierte und langsam und mit möglichst gleichmäßigen Schritten am Haus entlang zurück zu den anderen lief, entdeckte ich es: Eine Zahlenreihe erschien an der Wand, und sie wirkte, als trete sie aus der Wand hervor. Als ob man hochspringen und sie greifen könnte. Ich war völlig verblüfft und blieb stehen. Doch genau in dem Moment, wo ich mich nicht mehr bewegte, verschwanden die Zahlen, als wären sie niemals an der Wand gewesen.

„Mann!“, sagte ich und ging langsam weiter.

„Was ist?“, drängten die anderen.

„Einen Moment“, sagte ich souverän und schritt mit so gut es ging gleichmäßigen Schritten weiter, wobei ich den Blick immer auf die geheimnisvolle Stelle halten musste und so langsam aber sicher den Kopf verdrehte.

Nach etwa zehn Metern traten die Zahlen zurück und waren schließlich gar nicht mehr zu sehen. Ich drehte mich um und versuchte das Ganze aus der anderen Richtung noch einmal. Und wieder erschien die Zahlenreihe, plastisch und zum Greifen realistisch vor meinen Augen.

Sanne und Tommy traten vor Ungeduld von einem Fuß auf den anderen. Ich fand es nicht schlecht, für einen Moment lang mehr zu wissen. Aber Janine hatte das zuerst entdeckt, und ich wollte nicht unfair sein.

„Janine hat tatsächlich etwas entdeckt. Man kann es ganz deutlich sehen. Probiert es aus!“

Tommy und Sanne schritten nun ihrerseits die Wand ab und starrten verblüfft nach oben. Das sah recht lustig aus, wenn man nur so dabei stand und ihnen zuguckte. Lazy und Jever saßen zu meinen Füßen und versuchten zu verstehen, was diese komischen Zweibeiner da anstellten.

Da wir alle es kaum glauben konnten, ging jeder von uns die Strecke noch zwei Mal ab. Doch die Erscheinung blieb, ja es schien, als verstärke sie sich bei jedem Abschreiten noch. Schließlich blieben wir in der Mitte stehen und beratschlagten.

„Es handelt sich um eine Holografie“, sagte Tommy.

„Was bedeutet das?“, fragte Janine.

„Der Begriff Holografie stammt aus dem Griechischen und bedeutet vollständige Aufzeichnung. Das darf man hier natürlich nur im übertragenen Sinn verstehen. Eigentlich versteht die Wissenschaft unter einer Holografie ein Bild dreidimensional wiederzugeben, also nicht etwa nur gemalt, das wäre dann zweidimensional.“

Tommy wartete einen Moment, ob jemand eine Frage hätte, aber so weit waren wir mitgekommen. Tommy übertraf sich wieder mal selbst.

„Ich denke, ihr alle kennt Hologramme von Geldscheinen, da sind Bilder berühmter Persönlichkeiten eingearbeitet, um das Fälschen schwerer zu machen. Bewegt man den Schein, scheint es, als käme das Gesicht heraus. Und genauso funktioniert es, wenn man an dem Schein vorbei geht.“

„So wie hier am Haus“, nickte Sanne.

„Genau. Hat jemand eine Idee, wozu das hier gut sein soll?“, fragte Tommy. „Ich weiß ja einiges, aber dazu fällt mir nichts ein.“

In diesem Moment fand ich ihn wieder mal richtig sympathisch, und ich glaube, da ging es mir nicht allein so. Tommy wusste zig Mal mehr als wir, aber er würde sich niemals etwas darauf einbilden. Einige Minuten standen wir an der Wand herum, die Hunde gingen derweil wieder auf Erkundung und nichts, aber auch gar nichts fiel uns ein. Dann kam ausgerechnet meiner Schwester die Erleuchtung.

„Es sind Zahlen, stimmt's?“

„Klar, Zahlen“, stimmte Tommy zu, „Alle irgendwo zwischen sechzig und neunzig, wenn ich mich recht erinnere.“

„Wie wär's, wenn wir sie aufschreiben?“

Wir schauten uns an und ich konnte sehen, wie es in Tommys Kopf arbeitete.

„Das ist eine richtig gute Idee, Sanne. Wenn wir sie ruhig vor uns sehen, könnten wir vielleicht mehr damit anfangen. Hat jemand was zum Schreiben dabei?“

Es stellte sich heraus, dass niemand an einen Stift gedacht hatte, wozu auch, in einem Garten? Selbst Tommy mit seinem unergründlichen Rucksack musste passen. Schließlich kam ich auf die Idee, ein Stück von dem frei gelegten Weg als Tafel zu benutzen und mit einem Stock die Zahlen in den Sand zu kratzen.

„Bingo!“, sagte Tommy und fing an, die Strecke nochmals abzugehen.

Während er hin und her stapfte, rief er mir die Zahlen zu und ich schrieb sie mit dem Ast auf den Weg. Schließlich war er fertig, und eine recht ansehnlich lange Zahlenkolonne verzierte den Sand. Wir scharten uns um die geheimnisvolle Botschaft und machten ratlose Gesichter. Für einige Minuten herrschte tiefes Schweigen und jeder von uns Vieren zermarterte sich das Gehirn, was diese merkwürdige Reihe wohl bedeuten mochte:

68 73 69 83 69 87 79 82 84 69 83 73 78 68 68 73 69 84 85 69 82

„Es muss einen Sinn geben“, murmelte Tommy. „Es muss!“

Janine hockte sich vor die Zahlenreihe in den Sand und murmelte etwas vor sich hin. Ich meinte, etwas verstanden zu haben, das eine Erinnerung in mir auslöste, und auf einmal wurde mir ganz kribbelig.

„Was hast du gesagt? Wiederhol' das noch mal!“, rief ich.

„Ich sagte, vielleicht ist das hier so was wie eine Geheimschrift. Vielleicht sind die Zahlen Buchstaben oder ganze Wörter. Man müsste einfach Papier haben, um das auszuprobieren.“

„Geheimschrift ... “, sinnierte Tommy, „Warum nicht? Nur welche? Damit, liebe Freunde, habe ich mich noch nie befasst. Vielleicht sollte einer von uns nach Hause gehen und was zum Schreiben organisieren?“

Noch während er dies sagte, durchzuckte mich ein Gedanke und mir wurde heiß.

„Halt!“, rief ich oder wohl besser, schrie ich, denn die anderen fuhren bei meinem Ausruf zusammen. „Ich glaube, ich weiß, was das bedeuten könnte!“

„Mensch, Joe! Erschreck mich nicht so! Wenn du so schreist, machen wir noch die Nachbarn auf uns aufmerksam!“ Sanne redete schon wie meine Mutter.

„Passt auf, ich habe doch ständig Ärger mit meiner Mutter, weil ich stundenlang vor dem Computer hocke. Aber wenn ich jetzt Recht habe, dann sollte mir Mutti stattdessen einen größeren Arbeitsspeicher spendieren!“

„Nun mach schon“, rief Sanne ungeduldig, „Von dem Haus hier dürfen wir unseren Eltern sowieso nichts erzählen.“

„Also, ich hatte mal den Ehrgeiz, mir Programmiersprachen beizubringen. Eine davon ist Java. Ich hab' das ganz schnell wieder bleiben lassen, denn das ist wahnsinnig umständlich und langweilig. Aber ich bin damals auf was gestoßen, das man ASCII-Code nennt.“

„Was bitte?“, fragte Tommy ungläubig, und meine Brust schwoll richtig an, denn es war eine der seltenen Gelegenheiten, in denen ich Tommy was beibringen konnte.

„Genau weiß ich das auch nicht mehr, aber Java kann mit diesem Code umgehen. Und schaut mich bitte nicht so an! Wie das funktioniert ... keine Ahnung! Aber ich bin bei diesem Kurs im Internet auf eine Anwendung gestoßen, die ganz und gar nicht langweilig war. Und Janine, du hast mich wieder darauf gebracht!“

Janine schaute mich erwartungsvoll an, und die folgenden Worte kostete ich so richtig aus, um ein klein wenig in ihrer Achtung zu steigen.

„Man kann diesen Code als Geheimschrift verwenden!“

Sechs Augen starrten mich ungläubig an. Ich spannte sie ein wenig auf die Folter, aber dann platzte es aus mir heraus.

„Und der Code besteht aus Zahlen zwischen sechzig und neunzig. Jedenfalls, soweit es Großbuchstaben angeht.“

„Mann!“, entfuhr es Tommy. „Kannst du das noch zusammenbringen?“

„Klar“, sagte ich souverän. „Das ist so einfach wie genial. Eine simple Formel belegt die Buchstaben mit Zahlen. Bei Großbuchstaben ist es zwei hoch sechs und dann plus die Stelle, an der der jeweilige Buchstabe im Alphabet steht. Also ... “, erklärte ich meinen staunenden Zuhörern, „brauchst du ein A, rechnest du zwei hoch sechs gleich vierundsechzig plus eins für das A als ersten Buchstaben im Alphabet und heraus kommt fünfundsechzig für die Geheimschrift. Das B ist dann die sechsundsechzig, und so weiter.“

Während die Mädchen noch über der Aufgabe brüteten, malte Tommy bereits das Alphabet in den Sand, schrieb die fünfundsechzig unter das A, die sechsundsechzig unter das B und so weiter. Schließlich verfügte jeder Buchstabe über sein Gegenüber als Zahl, und wir betrachteten das Ergebnis voller Spannung.

„Alles Zahlen zwischen achtundsechzig und neunzig. Dann wollen wir mal. Ach Joe ... “

Irgendetwas war ihm noch eingefallen.

„Wie ist es mit dem Ä oder dem Ü?“

„Die schreibt man als AE oder UE“, erwiderte ich.

„Gut“, sagte er nur und begann, die Zahlenreihe mit den nun vorhandenen Buchstaben zu unterlegen. Ich war unglaublich aufgeregt, und auch die anderen traten ungeduldig von einem Bein aufs andere. Und noch bevor Tommy fertig war, wusste ich, dass meine Eingebung richtig gewesen war. Die ersten Buchstaben formten sich zu einem Wort, und nach wenigen Minuten waren es fünf, die dort durch Tommy in den Sand gekratzt erschienen. Als Tommy fertig war, richtete er sich langsam wieder auf, und wir vier standen schweigend vor dem Ergebnis.

DIESE WORTE SIND DIE TUER

„Joe“, sagte Tommy plötzlich und schlug mir auf die Schulter. „Ab sofort nenne ich dich Einstein!“

Das ging runter wie Öl, und ich hoffte nur, dass ich nicht rot wurde, während Janine und Sanne mich bewundernd anguckten. Ich konnte mich allerdings nicht lange in meinem Erfolg sonnen, denn das Rätsel der Zahlen gelöst zu haben, war eine Sache, doch was hatten wir nun davon, dass sie da vor uns in den Sand geschrieben standen und uns das nächste Rätsel aufgaben?

„Wie können Worte eine Tür sein?“, fragte Sanne.

„Vielleicht als Codeworte, so wie beim Handy, wenn du die Sprachwahl programmiert hast?“, überlegte Tommy.

Ich schüttelte zweifelnd den Kopf.

„Das ist doch blöd. Oder könnt ihr euch vorstellen, dass man sich hier vor die Wand stellen und „Diese Worte sind die Tür!“ rufen soll? Also, ich weiß nicht.“

Janine verlor die Geduld.

„Warum denn nicht? Wozu haben wir denn rausgekriegt, was die Botschaft bedeutet, wenn wir es jetzt nicht ausprobieren? Ich versuch’s jedenfalls!“

Es war zwar etwas albern, aber gespannt schauten wir zu, wie Janine sich vor der Hauswand aufbaute, die Hände in die Seiten stemmte und so laut „Diese Worte sind die Tür!“ rief, dass ich mich unwillkürlich umblickte und einen Blick über die Hecke warf, ob uns nicht jemand kopfschüttelnd zuschaute. Doch es war niemand zu sehen.

Einige Sekunden vergingen, in denen wir wie gebannt auf den graubraunen Rauputz starrten und darauf warteten, dass sich eine Öffnung auftat. Aber natürlich tat sich nichts.

Janine war sichtlich enttäuscht. Schließlich war sie es gewesen, die die Holografie entdeckt hatte und die sich obendrein getraut hatte, einen eigentlich dummen Satz gegen eine Wand zu rufen. Wütend stampfte sie mit dem Fuß auf.

Und dann geschah etwas, das mir bis heute noch eine Gänsehaut den Rücken hinauf kriechen lässt, wenn ich nur daran denke. Als es geschah, erstarrte wohl jeder von uns anderen Dreien, die das mit ansehen mussten, zur grauenhaften Unbeweglichkeit, und das Blut gefror uns in den Adern.

Janine sprang in ihrer Enttäuschung vor und wollte mit den Fäusten gegen das Haus hämmern.

„Mach auf, du blödes ... “, rief sie, und noch während sie dies rief und auf das Haus einschlagen wollte, verschwanden ihre Arme in der Wand. Völlig überrascht davon, dass sie keinen Halt fand, verlor Janine das Gleichgewicht und fiel kopfüber in das Haus. Mit eisigem Schrecken und weit aufgerissenen Augen mussten wir mit ansehen, wie ihr Körper in der Mitte zweigeteilt wurde. Ihr Bauch schien wie mit einem Messer abgeschnitten zu sein, und der noch sichtbare Unterkörper fiel auf den Boden. Die Beine strampelten grauenhaft und wirbelten Staubwolken aus feinem Sand auf. Doch das Allerschlimmste war, dass nach dem ersten erstickten Schrei kein einziger Laut mehr von Janine zu uns nach draußen drang.

In diesem Moment war ich mir sicher, Janine müsste sterben.

*

Das Buch der Gaben

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