Читать книгу Urlaub inklusive Mord - Michael Aulfinger - Страница 3
Petri Heil
ОглавлениеNils spürte zuerst Widerstand an der Rute, und gleichzeitig darauf das zappeln eines großen Fisches. Sofort schlug er an, und begann mit dem Anhieb. Aber der Fisch suchte sein Heil in der Flucht. So pumpte Nils den Fisch heran, bis sich die Rute extrem bog. Der andauernde Kampf ließ keinen Kräfteverschleiß beim Fisch erkennen. Es dauerte länger als gewohnt, bis Nils den Fisch an die Uferböschung ziehen konnte, und geschickt den Kescher unter den nun zu erkennenden Zander bugsierte.
Schnell warf er die Angelrute zur Seite und hob gekonnt mit beiden Armen, den gefüllten Kescher auf das trockene Land. Mit einem Hammer aus seinem Angelkasten versetzte er dem Zander einen gezielten Schlag auf dem Kopf, der dessen Leben beendete. Nun entwirrte er den Zander aus dem Netz des Keschers, wobei er den Haken eines kleinen Meppsblinkers noch aus dem gierigen Maul des Raubfisches Stizostedion lucioperca entfernte.
Als seine Beute vor ihm lag, und sich nun wieder eine Ruhe nach den letzten aufregenden Minuten in ihm breit machte, überkam ihn Stolz. Er war stolz auf sich selbst, und mit sich sichtlich zufrieden. Er maß seine Beute, und zählte 60 cm. Dann hatte sich das anfüttern am gestrigen Abend mit einer Hand voll Boilies, die aus Honig und Bananenstücken bestanden, doch gelohnt.
Nils räumte seine Angelausrüstung zusammen, denn nach diesem erfolgreichen Abschluß des Angeltages freute er sich nun auf seine Abendmahlzeit. Diese bestand heute aus frischem Zander, der wegen seines geringen Fettgehalts so bekömmlich war. Das Fleisch des Zanders mundete ihm besonders. Gleichzeitig konnte er es als Diätkost verwenden. Für einen so begnadeten Hobbykoch wie ihn, gab es deshalb vielfältige Zubereitungsmethoden.
Als er alles zusammen gepackt hatte, wandte er sich dem Raubfisch zu. Routiniert weidete er ihn mit seinem Messer aus, und ließ die Innereien und den Kopf zurück, indem er sie in großem Bogen in den See warf. Somit war er den Abfall ledig. Zusätzlich warf er noch einige Boilies in den See, damit er für den morgigen Tag schon angefüttert hatte. Dann machte er sich auf dem Weg zu dem Campingplatz, wo er seit drei Tagen verweilte. Den Fisch in einer Plastiktüte verstaut, und mit seinen Angelruten und Zubehör beladen, ging er von seiner Angelstelle zurück. Diese befand sich am östlichen Ufer des Sees, und war direkt vom Trampelpfad, der sich am Ufer des Sees entlang schlängelte, nicht direkt zu sehen. Seine kleine Angelstelle lag dadurch abseits gelegen, was Nils sehr gelegen kam. Denn so hatte er seine Ruhe, und die Einsamkeit die er begehrte. Menschlicher Trubel war ihm zur Zeit ein Gräuel. Das er über einen Kilometer in nördlicher Richtung diesem Weg folgen mußte, um zu dem Campingplatz zu gelangen, störte ihn deswegen nicht.
Es gab am Campingplatz auch eine Stelle, wo er sich und seine Angel hätte niederlassen können, doch wäre er dort nie alleine gewesen. An- und abfahrende Kanuten, spielende Kinder, und besserwissende Angelkollegen hätten ihn in seiner Ruhe gestört. Ruhe, das war ihm wichtig. Dies war das dringendste, was er zur Zeit benötigte, nach alldem was er die letzten Jahre durch gemacht hatte. Und diese Abgeschiedenheit und das dadurch mögliche abtauchen in seine ureigenste Gedankenwelt brauchte er im Moment so dringend wie ein Fisch Wasser zum Leben benötigt. So konnte er zu sich selbst finden.
Pfeifend schlenderte er zu seinem VW-Camping-Bus, und verstaute seine Ausrüstung. Sein Stellplatz war abseits von anderen Campern ausgesucht. Auch auf diese Weise demonstrierte er seine Sehnsucht nach Einsamkeit und Abgeschiedenheit. Den Gaskocher zündete er an, und legte die tranchierten Filetseiten auf die Pfanne. Er würzte den Fisch nach seinem Geschmack, und bald umhüllte sein Stellplatz ein köstlicher Duft frisch gebratenen Fisches. Mit großem Appetit genoß er seine Mahlzeit, und gönnte sich ein Bier dazu. Bald war er gesättigt, und schlug sich mit beiden Handflächen auf den typischen Bauch, den Männer seines Alters ihr eigen nennen.
Vor dem Nachbarzelt saß ein Ehepaar, und aß selber gerade zu Abend, denen er höflich einen Guten Appetit wünschte. Nach dem Abwasch nahm er sein Buch zur Hand, und las noch einige Seiten, bis es zu dämmern anfing, und er zu Bett ging.
Seine Schlafgelegenheit im Bus war immer fertig, da er sich den ganzen Tag im Freien aufhielt. Er wollte seine Zeit nicht beim Betten machen verschwenden. Bald legte er sich hin, nachdem er den Bus von innen verriegelt, und den Wecker auf fünf Uhr morgens gestellt hatte. Das durch die zugezogenen Vorhänge herein fallende Licht, wurde immer schwächer. Die Geräuschkulisse auf dem Campingplatz nahm immer mehr ab. Es dauerte nicht lange, und der Schlaf hatte ihn erreicht, und übermannt.
Er war schon halb wach, als der Wecker sein Summen von sich gab. Nachdem er den Schlaf aus den Augen gerieben hatte, ging er zu den sanitären Einrichtungen, und wusch sich. Folglich packte er seine Angelausrüstung, und schlenderte noch ein wenig müde den Weg zu seiner Angelstelle entlang. Mitte Juli war es um diese Zeit schon hell, doch war er der einzige, der um diese Uhrzeit sich des Angeln wegen unter der wärmenden Bettdecke hervor getan hatte. Das erfreute ihn. Dadurch war er für sich. An der bekannten Stelle bog er vom Weg rechts ab, und hatte nach einigen Schritten alsbald das Ufer erreicht. Die Stelle war gut geschützt, durch Bäume und Schilfgras, welches sich von ihm links und rechts vereinzelt befand. Trotzdem behinderte es ihn nicht beim ausholen der Rute. Dieser Platz war optimal. Der See hatte eine maximale Tiefe von Sechsunddreißig Metern. Er hatte sich als er den Angelschein bezahlte, vorher darüber informiert. Außerdem wurde ihn zugesichert, daß sich Rotaugen, Karpfen, Zander, Brassen, und Barsche darin befinden sollten.
Dieser Bestand war aber variabel, da der See kein ganz abgeschlossenes stehendes Gewässer war, sondern durch einen kurzen Kanal mit anderen Seen der Mecklenburger Seenplatte verbunden war. Dadurch konnte sich die Fischarten verändern, was auch Abwechslung in die Angelei brachte. Durch den Kanal, der als Havel Verbindung nach Berlin hatte, kamen auch Wasserwanderer mit ihren Kanus an, die sich am Campingplatz dann für eine Nacht einlogierten, und am nächsten Morgen wieder aufrafften, um ihre Reise auf dem Wasser fortzusetzen. Dies wäre auch eine interessante Urlaubsalternative, für Nils. Diese Idee fand er reizvoll, weil eine Reise auf der Seenplatte, nur wenige Zentimeter über dem Wasserspiegel eine bewundernswerte Ansichtsperspektive bot. Vielleicht nächstes Jahr, tröstete Nils sich sogleich. Man kann nicht alles im Leben haben. Außerdem könnte er dann nicht so ausgelassen angeln wie jetzt. Er wandte sich wieder seiner Angel zu, nachdem seine Gedanken kurz abgeschweift waren.
Am heutigen Tag wollte er erst mal auf Rotaugen gehen. Dazu machte er einen Haken an sein Vorfach, und zog Maden über den Haken, die er im Anglergeschäft gekauft hatte. Später am Tag, wollte er dann sein Glück versuchen, und auf Karpfen gehen. Die Rute flog gekonnt, und nach wenigen Augenblicken lag die Schnur mit der Pose erkennbar ruhig auf dem Wasser. Die Rute legte er an den Rutenhalter an, und setzte sich selber auf seinen kleinen klappbaren Campinghocker.
Diese friedliche Ruhe der Natur erfüllte bald seine Seele, und umfing ihn. Er vernahm das unterschiedliche singen und trällern der Vögel, die wie im Wettkampf den hereinbrechenden Tag empfingen. Ein laues Lüftchen umgarnte ihn an seinem paradiesischem Ort. Eine leichte Nebelschwade zog noch auf der Mitte des Sees leicht über der Wasseroberfläche dahin. Dazu schenkte die aufgegangene Sonne ihre ersten Sonnenstrahlen durch die Baumwipfeln hindurch, ein glitzerndes Licht auf dem Wasser. Nach wenigen Minuten war Nils durch die bezaubernde Vielfalt der Natur wie unter Drogeneinfluß benommen.
Diese Naturschönheit und Ruhe hatte er lange gesucht und gebraucht. Dadurch konnte er den Schmerz über die schweren letzten Jahre leichter ertragen. Es gelang ihm teilweise Dinge zu vergessen, die er gerne vergessen wollte. Ja, es gab nun sogar Augenblicke, in denen er nicht mehr an den Tod seines Sohnes, denken mußte. Über den plötzlichen Verlust kamen er und seine Frau nicht hinweg. Seine Ehe zerbröckelte daran, und war nach einem Jahr nicht mehr zu retten. Als die anschließende Scheidung durchgeführt war, versuchte er sich selbst aus dem Tief heraus zu ziehen, denn natürlich hatte seine derzeitige Lebenssituation einen negativen Einfluß auf seine beruflichen Leistungen bewirkt. Sein Chef hatte ihm ohne Schwierigkeiten einen dreiwöchigen Urlaub genehmigt. Nun saß er hier, und versuchte sein Leben wieder in geordnete Bahnen zu lenken, und gleichzeitig Kraft für den kommenden Alltag zu tanken.
Die Zeit verrann. In seinen Gedanken versunken, bewegte sich gleichzeitig der Stand der Sonne immer höher, und die Nebelschwaden auf dem See lösten sich im Nichts auf. Leicht döste Nils ein. Seine Gedanken nahmen keine konkrete Gestalt an. Er gab sich der Ruhe und dem Frieden hin. Sein „ich“ vermischte sich mit der Natur. Diesen Frieden hatte er sehnsüchtig gebraucht. Aber dieser Frieden wurde jäh durch plötzliches zappeln an der Angelschnur gestört. Er hatte keinen Bissanzeiger. Auf diese technischen Accessoires wollte er verzichten. In Sekundenschnelle war er mit seinen sechs Sinnen wieder voll konzentriert, und griff nach der Rute. Er kurbelte die Rolle, bis die Schnurr gespannt war, und pumpte die Rute beim Anhieb. Es war ein kleiner Fisch. Dies spürte er an dem geringen Widerstand, der aus dem Wasser zu spüren war. Bald war der Fisch auch zu sehen. Wenige Sekunden später zappelte der Rotauge vor ihm auf dem feuchten Boden. Er löste den Haken, und nahm wieder den Hammer zur Hand. Den Fisch legte er in eine mitgebrachte Tüte, nachdem er ihn ausgenommen hatte. Erneut bezog er den Haken, und warf die Angel aus. Mit einem fast unhörbarem Seufzer nahm er auf seinem Klappstuhl wieder Platz.
Es vergingen nur wenige Augenblicke, als sich Nils Aufmerksamkeit wieder der inneren Ruhe zuwendete. Seine Augenlider senkten sich schwer nieder.
Das war doch ein Schrei? Blitzschnell öffneten sich seine Augen, und irrten verwirrt herum. Es war ihm, als hätte sich in seinem Unterbewußtsein ein menschlicher Schrei gemischt. Angestrengt horchte er in die noch kühle morgendliche Luft hinein, konnte aber keine weiteren menschlichen Geräusche vernehmen. Irgendwo zwitscherten Vögel. Wieder lehnte er sich zurück, und schloß die Augen.
Doch erneut vernahm er einen weiblichen Schrei. Da er diesmal noch nicht eingedöst war, konnte er die Richtung, aus welcher der Schrei herkam, ausmachen. Es war die entgegengesetzte Richtung seines Campingplatzes. Er drehte sich um, und blickte in südlicher Richtung. Durch die Bäume war nichts zu erkennen. Auch als er sich zum Wasser wendete, und versuchte, um das Schilf herum dem Ufer entlang zu blicken, konnte er ebenso nichts erkennen. Dabei hörte er wieder einen Schrei, der lauter und deutlicher wurde. Doch schien die Quelle des Schreies immer noch hunderte Meter entfernt zu sein. Unsicher darüber, was er tun sollte, ging er den kleinen Weg zum Trampelpfad entlang. Dort angekommen, sah er weiterhin nach Süden. Es war nun nichts mehr zu hören oder zu sehen. Nachdem er einige Sekunden entlang gestarrt hatte, und auf unverhoffte Geräusche lauschte, hob er unschlüßig die Schultern. Er wollte sich erneut seinem Angelhobby hingeben, als er unerwartet einen Schuß mit einem Schrei vermischt, vernahm. Sofort ergriff ihn ein mulmiges Gefühl in der Magengegend. Er hatte seine Militärzeit bei einem Grenadierbataillon absolviert, und konnte einen scharfen Schuß von einem Schuß mit Platzpatronen unterscheiden. Oh, ja. Blitzschnell erinnerte er sich an den Geruch des Pulvers nach dem Abschuß. Er wischte sich mit dem Handrücken die Nase ab, und ging wie an einer Schnurr gezogen, ohne nachzudenken, in die Richtung, aus der die Geräusche kamen.
Er dachte gar nicht an eventuelle Gefahren. Neugierde, und das Verlangen helfen zu können trieben ihn vorwärts. Wenn er die Gefahren die lauern könnten, abgewägt hätte, würde er wieder auf seinem Klappstuhl sitzen, und so tun, als wenn ihm dies alles gar nichts anginge. Als wenn er nichts gehört hätte. Das konnte er nicht. Einfach wegschauen war nicht sein Charakter. So trugen ihn die Füße vorwärts. Durch den Schlingelhaften Kurs des Trampelpfades und dem dichten Baumbestand, war ein ungetrübter Blick nach vorne nicht möglich. So war ein ungestörter Blick nur auf höchstens zwanzig Meter gewährleistet. Die Blätter, die an den Zweigen und Ästen herab hingen standen im saftigen Grün. Es wirkte wie eine grün-bräunlich schattierte Mauer.
Vereinzelt drangen nun Stimmen und Geräusche an sein Ohr, allerdings keine extremen Schreie, oder gar welche von Schußwaffen. Die Stimmen kamen immer näher. Dabei handelte es sich mehr um einen lauten Streit, wobei hektisch gesprochene Worte von Männern zu vernehmen waren. Es mußte ein Notfall sein. Nur wunderte er sich überhaupt, daß in südlicher Richtung überhaupt jemand zu sein schien. Nach der Karte, die er an der Campingplatzrezeption eingesehen hatte, waren am südlichen Ufer keinerlei Behausungen vorgesehen.
Als er nach einigen Minuten den Trampelpfad um die nächste Kurve folgte, entdeckte er unverhofft eine Gestalt reglos vor sich auf dem Bauch liegen. Das Gesicht war von ihm abgewendet. Die Gestalt lag am Beginn seines Pfades, die in eine grasbewachsene Lichtung mündete. Die Sonne strahlte in der Mitte der Lichtung hinein. Der größte Teil des Platzes lag ansonsten im Schatten der großen Bäume. Links von der Gestalt, nahm er drei Iglu-Zelte war. In der Mitte des Platzes befand sich eine Feuerstelle, die sich noch durch Aschereste des Vortages auszeichnete. Zum Ufer hin, standen zwei leere Bierkästen. Ansonsten war auf der Lichtung weiter nichts ungewöhnliches. Von Männern – deren Stimmen er vorher vernommen hatte – war nichts zu sehen. Nur die eine regungslose männliche Gestalt, die vor ihm lag. Es lag eine gespenstische Stille über der Lichtung. Nils schluckte kräftig. Es war ihm sofort klar, das es sich um die Zielscheibe des Schußes handeln mußte. Sogleich stiegen in ihm die schlimmsten Befürchtungen auf. Er hatte noch nie eine Leiche gesehen. Mit zitternden Knien, und kräftigem schlucken, bewegte er sich langsam auf den Mann zu. Vielleicht konnte er doch noch helfen, und es war noch nicht zu spät.
Als er nur noch wenige Schritte von dem Mann entfernt war, wurde seine Aufmerksamkeit abrupt abgelenkt, denn von links stürmte zwischen den Zelten eine junge Frau hervor. Sie wirkte gehetzt, und verwirrt. Nils stand sofort still, aber auch die Frau hielt einen Moment inne, als sie ihn erblickte. Gehetzt blickte sie sich erschrocken um, kam aber sogleich die wenigen Meter auf Nils zu. Sie faßte ihn kurz entschloßen sofort an den Arm, wobei sie ihm den Trampelpfad entlang mitzog, jenen Weg, auf dem Nils gekommen war.
„Kommen sie mit. Schnell, wenn ihnen ihr Leben lieb ist.“
„Aber,“ stammelte Nils höchst verwirrt hervor. „Was ist denn los. Wir müßen doch dem Mann helfen. Vielleicht ist er verletzt.“
Sie lief vorweg, und Nils folgte dicht hinter ihr. So vernahm er ihre keuchenden Worte verzerrt.
„Dem ist nicht mehr zu helfen. Und wenn wir uns nicht verstecken, sehen wir auch bald so aus. Also, schnell, folgen sie mir.“
Sie liefen an der Abzweigung zu Nils Angelstelle vorbei, aber hundert Meter weiter blieb sie unvermittelt stehen.
„Gerade aus geht es doch zum Zeltplatz, oder?“ Ihre Frage keuchte sie wegen der anscheinend ungewohnten Anstrengung hervor. Sie schien kein geübter Langläufer zu sein. Nils dagegen joggte gelegentlich, und antwortete deshalb gelassener.
„Ja, ist noch ein Kilometer etwa.“
Unschlüssig drehte sie sich herum, bis sie einen spontanen Entschluß gefaßt hatte.
„Das bringt nichts. Wir müssen hier hinauf.“
Er folgte ihr, als sie vom See weg in den ansteigenden Wald hineinlief, der nach oben hin immer dichter wurde. Das rascheln der Blätter, und knacken der Zweige die unter ihren schnellen Schritten zerbrachen, war nicht zu vermeiden, deshalb versuchten beide schnell durch das immer dichter werdende Gehölz zu kommen. Die Anhöhe war bald erreicht, als die Frau sich unverhofft hinter einem Laubbaum auf die Erde warf, und durch ein Handzeichen Nils zu verstehen gab, daß er es ihr nachmachen sollte. Nils tat es ihr gleich. Die Frau hatte das Kommando übernommen. Verwirrt führte er ihre Anordnungen aus.
Sie legten sich flach auf den Bauch, auf einer Seite des Baumes, so daß ihr Blick auf den tiefer liegenden Trampelpfad gewährleistet war. Allerdings war die Sicht durch vereinzelte Bäume gestört.
Allmählich beruhigten sich ihre Körper, und die Atmung und der Puls normalisierten sich allmählich wieder. Wie vermutet, verging nicht viel Zeit, als beide nach Süden blickten, woher sie eine Bewegung lokalisiert hatten. Nils erkannte zwischen den Bäumen zwei Männer mit normaler Statur, deren Gesichter er aber wegen der Äste und Blätter nicht erkennen konnte.
Auch sie hielten an, und unterhielten sich. Dann gingen sie wieder einige Schritte zurück. Nils erschrak. Sofort wurde ihm bewußt, warum sie zurück gingen. Sie hatten etwas entdeckt, und Nils kannte die Antwort.
„Mein Angelzeug.“ Er hatte die zwei Worte leise vor sich her gesagt, aber sofort spürte er den Blick der Frau auf sich gerichtet, die sofort begriff, was die Männer abgelenkt hatte, und warum Nils an diesem Ort zu so früher Stunde war.
Einige Minuten später erschienen die zwei Männer wieder in ihrem Blickfeld. Die Frau und Nils hatten sich inzwischen äußerst still verhalten. In diesem Moment wagte er es nicht zu atmen, aus Angst davor, daß dies ungewollte Geräusche hervor rufen könnten. Jetzt steigerte sich die Spannung zusätzlich.
Die Männer gingen unten am Weg entlang, ohne ihren Blick die Anhöhe hinauf in das Unterholz zu richten. Diese Möglichkeit, das sich dort jemand verstecken könnte, hatten sie nicht einkalkuliert. Sie unterhielten sich in normaler Stimmlage, wobei keinerlei Details der Unterhaltung Nils erreichten. Er konnte die Visagen immer noch nicht erkennen. Schade. Es wäre hilfreich gewesen, wenn er sie zu einem späteren Zeitpunkt getroffen, und dann einwandfrei hätte identifizieren könnte. So verschwanden die zwei Gestalten aus ihrem Blickfeld, und sogleich fiel die Spannung von den beiden Gesuchten ab. Für das erste waren sie außer Gefahr. Den eigentlichen Grund der Gefahr wußte er jedoch noch nicht. Es reizte ihn dieses zu erfahren. Denn schließlich wollte er auch gerne wissen, warum er in seinem Alter in dieses Versteckspiel hinein geraten war.
Leicht drehte er seinen Kopf, so daß er der Frau, die neben ihm lang nun besser in Augenschein nehmen konnte. Ihr Haar war rötlichbraun und halblang geschnitten, und ihre Nase war zierlich, fast zu klein geraten. Leichte Sommersprossen zierten ihre Wangen. Eine ältere Narbe zog sich auf ihrem linken Handrücken drei Zentimeter entlang. Die Farben ihrer Augen waren dunkelgrün, und ihr Blick war voller Energie, geradezu voller Tatendrang. Sie hatte schon gezeigt, daß sie führen konnte. In ihrem Blick war zu lesen, daß sie selbstbewußt war. Wie sie da so lag, mit einem Blatt im Haar, und das Haar dicht über dem Boden hängend, da wirkte sie anheimelnd und erotisch auf ihn. Aber solche Gedanken wischte er sofort zur Seite, und blickte sie nun neugierig an, wobei er auf dem Bauch liegen blieb.
„Ich glaube, daß ich eine Erklärung verdient habe.“ Er wollte locker klingen, doch schwang in seiner Stimme ein Hauch von einsetzender Verärgerung mit.
Sie sah ihm direkt in die Augen. Ihr Alter schätzte er auf Anfang dreißig. Sie mochte mindestens zehn Jahre jünger sein als er.
„Okay, das verstehe ich. Mein Mann wurde von seinen Freunden erschoßen. Wir hatten seit gestern gezeltet, und dann wurde abends viel Bier getrunken. Dabei waren wir ausgelassen, und später haben wir uns gestritten. Bald legten wir uns schlafen, weil wir dachten, heute Morgen sähe alles besser aus, und der Streit wäre vergessen. Aber kaum waren wir wach, ging der Streit von neuem los.“
Sie stockte in ihrem Flüsterton. Immer wieder wendete sie ihren Kopf, und blickte den Weg aus Richtung des Campingplatzes entlang.
„Worüber ging denn der Streit?“
„Thorben war hinter mir her, und nach einigen Bieren zuviel, hatte er es auch meinem Mann ins Gesicht gesagt. Dieter allerdings ließ sich das nicht gefallen, so daß der Streit immer heftiger wurde. Als vorhin der Streit weiterging, kam Thorben plötzlich mit einer Pistole aus seinem Zelt hervor, die er wohl heimlich mitgeschleppt hat. Das wußte ich nicht, die anderen auch nicht. Na ja, und dann hat er Dieter von vorne erschoßen, als er auf ihn los wollte. Ich konnte nur noch in den Wald flüchten. Dabei habe ich eine Schleife gedreht, als ich Thorben und Sven hinter mir wähnte. Und dann rannten wir uns in die Arme. Das war es. Wie heißt du eigentlich?“
„Nils. Und wer ist Sven?“
„Sven ist Thorbens kleiner Bruder. Ein lieber Kerl, den man als einen guten Freund bezeichnen kann. Aber er ist ein wenig geistig zurück geblieben.“
„Tja, und was machen wir nun?“
„Das weiß ich nicht, ich weiß nur, daß ich vor Angst zittere. Am besten wir bleiben erst mal hier.“
Nils überlegte einen Moment. Seine Stirn zog sich in Falten. Dabei trommelten seine Finger leise auf dem Untergrund.
„Ich würde vorschlagen, daß wir warten bis die zwei vom Campingplatz zurück sind. Das kann aber noch dauern. Aber das macht nichts. Dann warten wir noch eine Weile, und gehen zu meiner Angel. Dort holen wir meine Sachen und danach gehen wir zum Campingplatz. Von dort informierst du die Polizei.“
Sie nickte zwar, aber Nils hatte den Eindruck, daß sie mit dem Plan nicht ganz einverstanden war. Er wurde skeptisch, verfolgte jedoch den aufkommenden Zweifel nicht weiter.
„Wie ist denn dein Name?“
„Ute.“ Sie verzog leicht spitzbübisch ihren Mund, und ihre Blicke trafen sich. Nils spürte wie das Blut in seine Wangen schoß, und sich diese röteten. Bald wendeten beide ihre Aufmerksamkeit jedoch wieder dem Waldweg zu.
Die Zeit verstrich. Nichts rührte sich. Beide wurden allmählich unruhig in ihrer immer mehr werdenden unbequemen Lage. Nils spürte seinen Rücken. Es war eine ungemütliche Lage in der er sich befand, doch schob er die Rückenschmerzen seinem Alter von Anfang vierzig zu. Doch auf einmal hörten sie Geräusche vom Campingplatz her. Nun lugten sie intensiver in die Richtung, und erkannten Thorben und Sven wie sie schnellen Schrittes an ihnen vorbei gingen. Die Gesichter der beiden Brüder waren erneut nicht zu erkennen. Erleichtert verbesserte Nils nun seine Lage, indem er sich umdrehte. Sofort spürte er die Schmerzen in seinem Rücken nicht mehr. Sie klangen ab.
Nils sah auf die Uhr. Nach einer Viertelstunde standen Ute und er auf, und gingen geduckt den Hang hinab. Einen nervösen Blick richtete Ute nach Süden, wobei Nils zu seiner Angel ging, und seine Utensilien holte. Er stellte fest, daß nichts fehlte. Ute nahm ihm etwas ab, und dann folgten sie dem Weg nach Norden.
Der Schlüssel drehte sich, und Nils öffnete die Tür. Sofort schob sich Ute an ihm vorbei, und legte sich auf das ungemachte Bett.
„Gemütlich hier.“
„Finde ich auch. Deshalb bin ich auch gerne unterwegs. Campen, und dabei angeln, das gefällt mir. Aber nun zu dir. Du kannst dich einen Moment ausruhen, und dann gehen wir zur Telefonzelle, und rufen die Polizei an. Dann sollen die sich um die beiden, und um die Leiche kümmern. Damit endlich wieder Ruhe einkehrt.“
„Das geht nicht.“ Als Dieter das vernahm, meinte er seinen Ohren nicht trauen zu können. Naiv fragte er nach, wobei er leicht stotterte. So verblüfft war er.
„Warum ... nn...nicht?“
„Hör mal bitte zu Nils. Es ist wirklich nett und anständig von dir, daß du mir geholfen hast, und mich hier vor den beiden Mördern versteckst. Ich verstehe auch, daß du wieder Ruhe haben willst, und zu deiner Angelei zurück möchtest, damit so schnell wie möglich wieder Normalität in deinen Urlaub einkehrt. Aber da gibt es ein kleines Problem. Sie werden mich verfolgen, und auch töten. Ebenso wenn wir jetzt die Polizei einschalten. Denn denen werden sie eine andere Geschichte erzählen, und mir die Schuld in die Schuhe schieben. Und ich habe keine Lust für die in das Gefängnis zu wandern. Wahrscheinlich haben sie die Leiche auch schon beseitigt, so daß die Polizei nichts finden würde.“
„Das versteh ich nicht ganz,“ Nils schüttelte leicht den Kopf. „Die können doch soviel behaupten wie sie wollen. Denn schließlich hat doch Thorben geschossen, wie du mir erzählt hast, und damit sind seine Fingerabdrücke auf der Waffe. Basta.“
Nils machte eine Handbewegung, die die Endgültigkeit seiner Darstellung untermauern sollte. Aber sogleich sah er in Utes Gesicht Widerspruch aufkeimen. Sie schüttelte entmutigt den Kopf, und fügte im gedämpften Ton hinzu.
„Leider nichts mit basta. Ich würde dir gerne eine bessere Neuigkeit erzählen, aber auf der Waffe befinden sich leider auch meine Fingerabdrücke, und wenn sie nicht so dumm sind – wie ich befürchte – dann lassen sie sie auch darauf. Dann haben sie den Beweis, und können ruhigen Gewissens mir die Schuld an dem Mord in die Schuhe schieben.“
Ute wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht, die dezent aus ihren Augen flossen. Nils dagegen war immens verwirrt. Angestrengt versuchte er einen klaren Gedanken zu fassen, und sich zu konzentrieren.
„Nun mal ganz langsam Ute. Wieso befinden sich denn auf einmal deine Fingerabdrücke auf der Waffe. Das verstehe ich nicht. Vorhin hast du noch behauptet, daß dieser Thorben geschossen hat. Er hätte die Waffe aus dem Zelt geholt und sogleich auf deinen Mann geschossen. Hast du vielleicht sogar selber Dieter erschoßen? Woher sollten denn sonst deine Abdrücke auf die Waffe kommen? Was stimmt den nun. Hast du mich angelogen?“
„Nein Nils. Aber ich hatte dir vorhin in der Aufregung und Eile nicht alles sagen können. Das verstehst du sicherlich. Du weißt doch, vorhin im Wald. Es ging alles so schnell. Ich habe dich nicht belogen, und wollte es auch nicht. Es war einfach so, daß Thorben geschossen hatte, und Dieter getroffen zu Boden fiel. Thorben hatte dann plötzlich da wo er gestanden hatte, die Waffe fallen lassen. Dann ist er wie benebelt zu Dieter gegangen um ihn zu helfen. War wohl so eine Reueaktion. Jedenfalls ging Sven mit, und so war ich unbeaufsichtigt. Wie in Trance griff ich nach der Waffe und schleuderte sie im hohen Bogen in den Wald. Ich wollte dieses Mordinstrument so schnell wie möglich aus meinen Augen haben. Wie du siehst, hatte ich keine schlechten Absichten mit der Waffe. Doch dann ergriff mich Panik. Ich hatte blanke Angst um mein Leben. Da die beiden bei Dieter waren, konnte ich nicht zu ihm, und mich um ihn kümmern. Da wurde mir aber auf einmal bewußt, daß Dieter tot war, und ich es auch bald sein würde, wenn ich nicht baldigst verschwinden würde. Ich hatte starke Angst. Deshalb ergriff mich die pure Hilflosigkeit, und ich bin in den Wald gelaufen. Dann bekam ich noch mit, das ich von Thorben und Sven verfolgt wurde. Dabei bin ich eine Schleife gelaufen. Und dann bin ich schließlich dir in die Arme gelaufen. Verstehst du? So kamen meine Fingerabdrücke auf die Waffe. Und wenn sie die Waffe gefunden haben, wovon ich ausgehe, können sie mir auch den Mord anhängen, sollte ich am Leben bleiben. Das wäre die erste Alternative. Und die zweite Alternative wäre mein Tod. Dann wäre ihnen beiden geholfen. Die Sache würde einfach versickern. Deshalb kann ich nicht zur Polizei. Am besten wäre, wenn ich bei dir untertauchen könnte. Es wäre nur für eine kurze Zeit. Bitte.“
Nils hatte ihr aufmerksam zugehört. Seine Augen hingen an ihren Lippen. Jetzt verstand er warum sie sich nicht traute. Die Situation, wie sie es darstellte, war einleuchtend. Mitleid überkam ihn. Seine Hilfsbereitschaft wurde geweckt, und so stellte sich bei ihm sogleich eine Art Ritterlichkeit ein. Sein Gesichtsausdruck entspannte sich sofort, und sanft klangen seine Worte.
„In Ordnung. Das hatte ich nicht gewußt. Ich hätte vielleicht so ähnlich gehandelt. Natürlich kannst du bei mir bleiben. Jetzt schlafe erst mal ein wenig. Ich gehe solange zur Rezeption, und werde uns im Kiosk Brötchen holen. Denn allmählich bekomme ich Hunger. Hier hast du eine Wolldecke und ein Kopfkissen. Dann schlaf gut.“
Ute war schon eingeschlafen, als Nils vorsichtig den VW-Bus verlassen hatte. Der Weg zum Kiosk kam ihn so kurz vor. Das lag daran, daß seine Gedanken ihn so in Beschlag genommen hatten, und seine Beine automatisch voran schritten.
Inzwischen war der Campingplatz zum vollen Leben erwacht. Einige Männer waren mit Geschirr und Handtücher bewaffnet unterwegs, um die Frühstücksbretter ab zu waschen. Die Kinder spielten Federball mit anderen Kindern oder ihren Eltern. Einige Kinder fuhren Fahrrad. Die ersten Feriengäste gingen mit Badetüchern und Proviant beladen zum Strand. Die Luft war klar, und Nils spürte die allmählich ansteigende Wärme. Es würde ein sehr schöner Tage werden.
Dennoch war es für ihn schwer einen klaren Gedanken zu fassen. Es waren noch keine drei Stunden her, als er friedlich und für sich allein am Ufer dieses schön gelegenen Sees saß, und angelte. Und plötzlich, wie aus heiterem Himmel, hatte sich seine Situation grundlegend geändert. Er wußte nicht mal, wie weit diese Änderungen gehen würden. Vielleicht hat dieser heutige Morgen Auswirkungen auf sein ganzes weiteres Leben? Vielleicht ist es gar der letzte Tag seines Lebens? Wer konnte das schon an so einem verrückten Morgen wissen. Er mußte mit allem rechnen. Bei dem Gedanken schnürte sich ihm unwillkürlich der Hals zu. Ein grausamer Gedanke.
Er erwarb sechs Brötchen und Aufschnitt im Kiosk. Dann setzte er sich am Strand auf eine Parkbank, und seine Gedanken schweiften sofort ab. Die umher tobenden Kinder registrierte er wenig. Dabei kam er zu einem Resultat, als er über Ute nachgedacht hatte. Dies wollte er ihr später beim Frühstück mitteilen, doch sollte sie erst mal ausschlafen.
Später stand er auf, und betrat die Rezeption. Dort bezahlte er die vier Tage Aufenthalt, und betrachtete die aushängende Karte der Region.
Als er seinen Campingbus wieder erreicht hatte, holte er auf Vermeidung von Geräuschen bedacht, den Tisch und zwei Stühle unter dem Bus hervor, und deckte den Tisch. Sogleich nahm er sein Buch zur Hand, und las in ihm. So merkte er nicht, wie die Zeit an ihm vorbei strich. Er hielt erst inne, als er ein leichtes poltern aus dem innern des Busses vernahm, und darauf hin sich von innen die Tür öffnete. Ute trat hervor. Ihr Äußeres wirkte durch den Schlaf zerzaust. Spuren eines Weinens waren in ihrem Gesicht zu erkennen. Nils erkannte sofort, daß sie unter normalen Umständen eine höchst attraktive Frau war. Sie könnte viel aus ihrem Äußeren machen. Auch ihre weiblichen Rundungen waren wohlproportioniert und an den richtigen Stellen. Sie gähnte, und nahm auf dem freien Stuhl Platz. Dabei strich sie ihr Haar mit den gespreizten Fingern nach hinten.
Beim Frühstück redeten sie nicht viel. Nils bemerkte, daß ihr nicht nach einer normalen Konversation war. Darauf nahm er Rücksicht. Als sie das Frühstück beendet hatten, hüstelte er in seine Faust, und teilte ihm seine Überlegungen mit.
„Ich habe mir das noch mal überlegt, und habe mich entschlossen dir weiter zu helfen. Deshalb schlage ich vor, daß wir gleich aufbrechen, um einen anderen Campingplatz aufzusuchen. Dort wären wir in Sicherheit und können uns dann alles weitere überlegen, ohne in unmittelbarer Gefahr zu sein. Hierher könnten sie wiederkehren und dich finden. Jedenfalls bin ich nun auch deiner Ansicht, daß die derzeitige Lage der Beweise dich als Hauptverdächtigen aussehen läßt. Bist du einverstanden?“
Utes Gesicht hellte sich sogleich auf. Sie stand sofort auf, und fiel Nils um den Hals.
„Danke.“