Читать книгу Sklave und König - Michael Aulfinger - Страница 7

Kapitel 4

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Wie bereits erwähnt, lag Tafresh in einem Kessel. Die Häuser waren jedoch mehr im westlichen Bereich angesiedelt, so dass die Herden im Osten genug Platz zum Grasen hatten. Die Weiden waren teilweise mit ähnlich kleinen Mauern unterbrochen, wie ich sie auf Mereps bzw. Daiaukas Gut mit Target aufgebaut hatte. Kleine dürre Bäume, die vereinzelt herumstanden, wirkten fehl am Platz. Als Schattenspender waren sie nur bedingt nutzbar, doch unterbrachen sie die Eintönigkeit.

Im Weidebereich der Schafe, welche Target und ich zu beaufsichtigen hatten, war das Land noch flach. Doch nur einen halben Farsach weiter begann sich schon der Berg zu erheben. Im unteren Bereich war es gutes Weideland. Mit bloßen Augen konnte ich verschiedene Viehherden erkennen, die in Abständen verteilt waren. Mir kam dieser Flecken Erde gleich heimisch vor. Ich konnte mir vorstellen, dass ich mich hier irgendwann zu Hause fühlen könnte. Kräftig atmete ich durch und beaufsichtigte die Schafe. Anfangs war Target noch bei mir, doch dann zog er mit seinen Schafen von dannen. Er war mit seiner Herde weiter im Süden eingesetzt worden.

Paudashti hatte mich bei meiner Einweisung darauf hingewiesen, dass die Tiere zum Trinken an einen kleinen Bach herangeführt werden mussten, der sich unweit meines Platzes befand. Als ich den Zeitpunkt für gekommen sah, trieb ich die Schafe in die angegebene Richtung. Dies war leichter, als ich zunächst angenommen hatte. Die Schafe – an deren Geruch ich mich erst noch gewöhnen musste – kannten den Weg und wurden alleine vom Durst hingetrieben. Gemächlichen Schrittes trottete ich hinterher. Die Schafe gingen sogleich an einen Tümpel, der sich durch den übergelaufenen Bach gebildet hatte und tranken gierig. Zufrieden mit mir und meiner neuen Arbeit setzte ich mich auf einen Stein und stützte mich beim Betrachten der Schafe auf meinem Hirtenstock ab.

Während die Schafe das kühle Nass in sich aufsaugten, ging mir meine derzeitige Situation durch den Kopf. Zufrieden war ich, ja. Zufrieden mit diesem Ort und meiner neuen Aufgabe als Schafhirte. Aber durfte ich mich dieser Zufriedenheit rühmen, geschweige mich hier sicher fühlen?

Daiaukas würde alles daran setzen, um den Mörder seines Sohnes sowie seine entflohenen Sklaven zu finden. Aber war es ihm überhaupt möglich? Er wusste nicht, in welcher Richtung wir entflohen waren. Wie viele Monate oder gar Jahre müssten er und seine Männer suchen, bis sie überhaupt eine verwertbare Spur fanden?

Steinig war das Gebirge. Spuren hatten wir wenige hinterlassen und bewohnte Orte haben wir meist gemieden. Außerdem war Daiaukas ein alter Mann. Würde er die Suche nicht bald aus Altersgründen oder wegen des eigenen Todes einstellen müssen? Diese Aussicht schien mir realistisch zu sein. Der Gedanke gefiel mir und sorgte dafür, dass ich mir ungezwungener ein neues Leben in Freiheit aufbauen konnte. In Tafresh sollte niemand wissen, dass ich ein entflohener Sklave war. Niemand außer Target wusste es und so sollte es auch bleiben.

Ein unbekanntes Geräusch weckte mich aus meiner trägen Gedankenwelt, in die ich eingetaucht war. Einen solchen Laut, hatte ich noch nie gehört. Ich drehte mich um und blickte verwundert in die Richtung, aus der dieses seltsame Blöken kam.

Geradewegs starrte ich in das stinkende, offene Maul eines Tieres, welches ich noch nie zuvor gesehen hatte. Das Maul war spitz und im vorderen Teil waren acht Zähne wie eine Krone angeordnet. Die Oberlippe war gespalten und die verschließbaren Nasenlöcher schlitzförmig. Die Lider trugen lange Wimpern. Kleine Ohren säumten den langgezogenen Kopf. Daran schloss sich ein sehr langer Hals, der in einem merkwürdigen Körper endete. Eigentlich ähnelte es einem Pferd, doch sah der Rücken anders aus. Das Merkwürdigste an diesem Geschöpf waren zwei Höcker, die sich starr nach oben erstreckten. Darunter wirkte der Rumpf wie eine runde volle Tonne. Gehalten wurde dieses seltsame Tier von vier langen Beinen, die in Füßen endeten, die jeweils zwei Zehen hatten. Anstatt mit Hufen waren sie mit schwieligem Polstern versehen. Das Fell war sandfarben.

Da ich so ein merkwürdiges Tier noch nie gesehen hatte, stand ich einfach nur regungslos und erstaunt da.

Aus dem Inneren des Tieres vernahm ich ein leichtes Rumoren. Noch bevor sich in meinem Kopf die Frage über den Grund gebildet hatte, sah ich auch schon die Auswirkungen auf mich zukommen, denn das Tier hatte aus einem der vielen Kammern seines Magens irgendein halbverdautes Futter hochgewürgt. Als es im Maul des Tieres gesammelt war, schürzte es die Lippen und zielte genau auf meinem Kopf. Es hatte sein Ziel getroffen. Angewidert rieb ich diesen undefinierbaren Brei aus meinem Gesicht.

Es stank bestialisch.

Wohl vor Freude trunken über seinen Treffer, trottete das Tier zufrieden weiter. Mit dem einem Auge, welches ich schon wieder von der ekelhaften Masse befreit hatte, sah ich, wie es zum Wasser ging. Aber es war nicht alleine. Es hatte mehrere Exemplare seiner Art im Gefolge, und die machten sich ebenfalls am Wasser breit, wodurch sie meine Schafe verdrängten. Dabei bockten und röhrten sie noch, während sie umhersprangen. Ängstlich wichen meine Schafe zur Seite.

Ich wollte gerade zu meinen Schafen gehen und ihnen beistehen, als mir noch ein weiteres Geräusch zu Ohren kam, dieses Mal aber kein Röhren oder Blöken. Es war ein ganz normales weibliches Lachen, welches ich von meiner Schwester Simine und anderen Mädchen und Frauen kannte.

Dieses Lachen war der Grund, warum sich mein Ärger über den Auswurf des Tieres spontan in Wut änderte. Peinlichkeit war auch dabei, weil ich bei diesem Fiasko von einer weiblichen Person beobachtet worden war.

Schnell wandte ich mich ab, ging zwischen meinen Schafen ins Wasser und wusch mir den Kopf im kühlen Wasser. Als der ekelhafte Brei aus meinem Gesicht gänzlich verschwunden war, drehte ich mich wütend mit dem Vorsatz um, meiner Wut Luft zu machen. Ob sie nicht auf ihre Tiere aufpassen konnte, wollte ich ihr vorwerfen.

Doch manchmal kommt es anders, als man denkt. Einige Ellen vor ihr blieb ich stehen. Es handelte sich um eine schöne Frau. Deshalb bekam ich kein Wort der Wut heraus. Aber ich fühlte auch etwas anderes. Etwas, das ich mit meinen sechzehn Jahren noch nie zuvor erlebt hatte. Ich spürte ein seltsames, aber angenehmes Gefühl in meinem Hals. Unter meiner Zunge sammelte sich Speichel. Ich schluckte mehrmals. Dazu gesellte sich noch ein Kribbeln im Bauch. Verunsicherung war die Folge. Sofort war mir bewusst, dass ich für dieses Mädchen etwas empfand, nur was, wusste ich zu dem Zeitpunkt noch nicht, da ich damals in Liebesangelegenheit ein gänzlich unbeschriebenes Blatt war.

Selbst jetzt, viele, viele Jahre nachdem ich sie das erste Mal gesehen hatte, bildet sich erneut Speichel in meinem Mund, und zwar allein durch die Kraft der schönen Erinnerung.

Sie kam auf mich zu und blieb direkt vor mir stehen. Ihr Gesicht war so frei von jeglichem Makel, ihre Reinheit verzauberte mich. Ihre Augen sahen mich zwar lachend an, doch war neben ihrer Schadenfreude eine innere Güte zu sehen. Das pechschwarze Haar hing über ihre Schultern herab und wirkte gepflegt, genauso wie ihr ockerfarbenes Kleid. Sie mochte in meinem Alter sein.

Stundenlang hätte ich sie betrachten können, doch holte mich ihr schallendes Gelächter jäh in die Realität zurück.

»Na, du bist aber ein lustiger Vogel. Hast du noch nie Kamele gesehen?«

»Kamele?« Ich begriff zuerst nicht, was sie damit meinte, denn mein Hauptaugenmerk galt immer noch ihr und nicht irgendwelchen Tieren.

»Ja, sicher. Das Kamel, welches dich angespuckt hat. Du musst verzeihen, dass ich so lachte, doch es sah belustigend aus. Du hättest mal dein Gesicht sehen sollen.«

»Ich kann mir schon vorstellen, dass ich keine gute Figur abgegeben habe. Sind das deine Kamele?«

Mir war danach, die peinliche Situation so schnell wie möglich in Vergessenheit zu bringen. Deshalb versuchte ich, sie in ein normales Gespräch zu verstricken.

»Nein«, dementierte sie, während sie dabei war, ihre langen Haare über die Schulter zu heben. Es war mir unmöglich, meinen Blick von ihr abzuwenden.

»Sie gehören meinem Onkel. Ich hüte ab und zu die Herde. Außerdem sind auch einige Dromedare dabei.«

»Dromedare? Was ist denn der Unterschied zu den Kamelen? Ich sehe keinen.«

Das Mädchen lachte auf, doch änderte sich ihre Schadenfreude in ein freundliches Lächeln.

»Komm mit. Ich erkläre dir einiges über die Tiere. Übrigens, mein Name ist PouroUista. Wie lautet dein Name?«

Ich war immer noch so von ihren Augen befangen, dass es seltsamerweise einen Moment dauerte, bis mir mein eigener Name wieder einfiel. So intensiv war ihre Schönheit. Auf den Gedanken, ihr einen Phantasienamen zu nennen und ihr meinen echten vorzuenthalten, kam ich gar nicht erst. Sie verzauberte mich.

»Luskin.«

Sie nahm mich an die Hand, die so warm war, dass mich ein wohliger Schauer durchzog. Sie ließ mich nicht los und führte mich zu ihrer Herde.

»Schau, Luskin. Die Tiere mit den zwei Höckern sind Kamele. Die dort drüben mit nur einem sind Dromedare.«

»Auf dem Kamel mit zwei Höckern könnte man ja noch reiten. Aber wie soll das bei einem Dromedar mit nur einem Höcker gehen?«

»Auf Kamelen kann man tatsächlich reiten, aber Dromedare sind eher Lasttiere. Die Höcker sind auch keine Wasservorratsspeicher, wie die meisten Menschen glauben, sondern Fettspeicher. Während der wochenlangen Wanderungen durch die Wüste findet das Kamel wenig Nahrung, so dass es von dem Fett im Höcker zerren muss, der sich dann in einen schlaffen Sack verwandelt. Sobald das Kamel wieder gut zu futtern hat, richtet sich der Höcker erneut auf. So kann man jederzeit sehen, wie der Zustand des Kamels ist.«

Sie machte eine Pause.

»Du weißt sehr viel über Kamele«, kommentierte ich bewundernd.

»Das kommt daher, weil unsere Familien, schon seit Generationen Kameltreiber sind. Hinter diesen Bergen, im Osten, beginnt die große Salzwüste. Wenn ein Reiter oder eine Karawane die große Salzwüste durchqueren will, so ist es mit einem Pferd unmöglich. Kamele oder Dromedare haben sich diesen Bedingungen in der Wüste angepasst. Sie können einen großen Krug in wenigen Minuten austrinken. Dazu haben sie gelernt, mit diesem Wasser hauszuhalten. Deshalb ist ihr Urin sehr konzentriert. Ihre Körpertemperatur sinkt in der Nacht sehr stark ab. Während einer Trockenzeit kann ein Kamel bis zu einem Viertel seines Körpergewichts verlieren, ohne zu verdursten. Aber wenn es dann wieder getrunken hat, ist es schnell wieder ausgeglichen.«

»Und was fressen Kamele?«, wollte ich weiter wissen.

»Sie sind Pflanzenfresser und dabei fressen sie alle Pflanzen, sogar dornige und salzige. Das Futter wird zunächst wenig zerkaut verschluckt und gelangt zunächst in einen Vormagen, um nach dem Wiederkäuen endgültig verdaut zu werden.«

»Das ist alles sehr interessant. Sieh mal, PouroUista, dort treten und beißen sich drei Kamele. Was treibt sie denn dazu an? Willst du sie nicht auseinanderbringen?«

In der Tat hatten sich drei Kamele in einen Kampf verwickelt. Sie traten sich mit ihren Füßen und bissen mit ihren Mäulern zu. Dabei ertönte das mir inzwischen schon bekannte Blöken und Röhren in einem wahrhaft schaurigen Tonfall. Jedoch ließen sich die anderen Tiere – Kamele wie Schafe – nicht davon ablenken. Sie tranken dort, wo sie waren in Ruhe weiter.

»Nein, das brauche ich nicht. Diesen Kampf müssen sie untereinander ausmachen. Es ist ein Kampf des Stärkeren. Doch siehe da. Das ist ein trächtiges Weibchen. Wenn ein Weibchen ein Junges bekommt, so kann das Junge schon nach einem Tag laufen. Die Tragzeit beträgt übrigens zwischen 360 und 440 Tagen.«

»Und wie alt werden Kamele?«

»Zwischen vierzig und fünfzig Jahre.«

Einen Moment lang betrachteten wir die Tiere und gingen dann schweigend zu dem Felsen zurück, wo ich anfangs gesessen hatte.

»Du hast vorhin von der großen Salzwüste gesprochen. Was erwartet dort einen Reisenden? Sicherlich warst du schon einmal dort.« »Du hast recht, Luskin. Wie ich vorhin schon einmal erwähnte, bin ich hier bei meinem Onkel. Mein Vater ist jenseits der großen Salzwüste in der Stadt Sabol. Als er mich hierher zu seinem Bruder sandte, musste ich natürlich durch die große Salzwüste. Ich sage dir, das ist keine Vergnügungsreise. In der Nacht eiskalt und am Tag Hitze, bei der einem das Atmen schwerfällt. Dazu der ständige Durst der, je mehr man trinkt, umso größer wird. Es ist zwar alles beschwerlich, dennoch ist dies nicht das größte Problem. Die wahre Lebensgefahr liegt gar unter deinen Füßen.

Die Salzkruste ist eigentlich hart und befahrbar, doch gibt es immer wieder Stellen, die gefährlich sind. Wenn man von dem Pfad abweicht, kann es passieren, dass die Kruste plötzlich unter dir bricht und du in einem Sand versinkst, der dich unwiderruflich in die Erde zieht. Tausende sind so schon von der Wüste verschluckt worden. Mit Pferd und allem, was sie bei sich hatten, sind sie innerhalb weniger Sekunden verschwunden. An einigen Stellen musst du vorsichtig einen Fuß vor dem anderen setzen, damit du die Haltbarkeit der Salzkruste prüfen kannst. Deshalb sollten Gruppen hintereinandergehen. Ich betone das extra, weil ich auf meiner Reise mit eigenen Augen gesehen habe, wie ein Freund verschluckt wurde. Es ging so schnell, dass wir ihm nicht mehr helfen konnten. Wenn man die Salzwüste nicht durchqueren muss, sollte man es lieber lassen. Diese Wüste ist wahrlich ein Werk von Angra Mainju.«

Mit diesen Worten, deren Sinn ich damals noch nicht verstand, beendete sie ihren Bericht und war mit einem Mal sehr ernst. Jegliches Lächeln war aus ihrem Antlitz gewichen.

»Wie weit ist es denn von hier durch die Salzwüste zu deinem Vater nach Sabol?«

Diese Frage stellte ich aus zwei Gründen. Zum einen wollte ich wissen, wie weit sich die Salzwüste erstreckte, von der ich bis dato noch nie gehört hatte, um mir ein Bild über das wahre Ausmaß machen zu können. Diese Information könnte für mich einmal von Nutzen sein. Zum anderen wollte ich das Gespräch wieder aufnehmen, weil PouroUista einen niedergeschlagenen Eindruck machte. Ich hatte gleich das Gefühl, dass es mit dem Bekannten, den sie damals auf der Reise verloren hatte, eine besondere Bewandtnis hatte. Doch danach wollte ich sie nicht fragen. Wenn es ihr wichtig war, würde sie mir das irgendwann von alleine erzählen.

»Es sind ungefähr zweihundertfünfzig Farsach. Aber mir wäre lieber, wir würden über etwas anderes reden. Was ist mit dir, Luskin? Ich habe dich hier in Tafresh noch nie gesehen. Wo kommst du her?«

Ich fühlte mich sogleich in einer Zwickmühle. Sollte ich ihr die Wahrheit sagen oder ihr eine schnell ausgedachte Lüge auftischen? Ich entschied mich für die zweite Variante, da ich erst einmal abwarten wollte, wie sich unser Kennenlernen entwickelt.

»Ich bin erst seit gestern in Tafresh. Eigentlich komme ich aus Ekbatana. Meine Eltern sind gestorben und so zog es mich nach Raga, wo ich zu meinem Onkel wollte. Doch ging mir hier in Tafresh das Geld für die Weiterreise aus, sodass ich mir erst etwas verdienen muss, bevor es weitergeht. Was ich dann in Raga mache, weiß ich noch nicht. Aber was ist mit dir, warum hast du deine Familie in Sabol verlassen?«

»Mein Vater hat dort zu tun. Früher war auch er ein Kameltreiber wie unsere ganze Familie. Sagt dir der Familienname Spitama etwas?«

»Nein«, entgegnete ich wahrheitsgetreu, »sollte er das?«

Ein schelmisches Lächeln huschte über ihr Gesicht.

»Wirklich nicht?«

»Nein, wirklich nicht. Wieso, was ist denn mit dem Namen? Kläre mich bitte auf, da ich ihn noch niemals zuvor vernommen habe.«

»Ach, nicht so wichtig. Es kann nur sein, dass du den Namen irgendwann später noch einmal hören wirst.«

Sie zuckte mit den Schultern.

PouroUista kannte ich nun wirklich noch nicht lange, doch hatte ich bereits in dieser kurzen Zeit ihr facettenreichen Gesicht kennenlernen dürfen. Sie war innerhalb weniger Sekunden in der Lage vom ausgelassenen Lachen zur tiefsten Traurigkeit zu wechseln. Und Schattierungen innerhalb dieser Zone beherrschte sie vollkommen. Gemütszustände waren daher deutlich in ihrem Gesicht abzulesen, welches dadurch nur noch interessanter wirkte. Prompt lernte ich noch eine weitere Facette von ihr kennen, die mich wirklich überraschte.

»Ich muss mich bei dir entschuldigen.«

Sie sah mich mit leicht gesenktem Kopf von unten her an. In ihren Augen las ich ehrliche Reue. Nur verstand ich den Zusammenhang noch nicht.

»Warum? Was hast du mir getan?«

»Weil ich dich vorhin so ausgelacht habe.«

»Dafür brauchst du dich nicht zu entschuldigen. Schadenfreude ist doch menschlich. Ich kann mir bestens vorstellen, dass es lächerlich ausgesehen haben muss. Wahrscheinlich hätte ich an deiner Stelle auch gelacht.«

»Das schon, aber unsere Religion verbietet so etwas. Bist du kein Zartoshti?«

»Nein. Ich gehöre keiner Religion an.« Meinen früheren Glauben an unseren Gott Assur, verschwieg ich ihr absichtlich, denn sonst hätte sie meine wahre Abstammung erraten.

»Erkläre mir aber bitte, warum deine Religion dir die Schadenfreude verbietet. Was ist das eigentlich für eine Religion, der ihr Zartoshti angehört?«

Zum ersten Mal ließ sie meine Hand los. Mich überkam das Gefühl, dass ihr das Halten der Hände plötzlich ein schlechtes Gewissen bereitete, als hätte sie sich einer Sünde schuldig gemacht. Ich verstand dies alles nicht und war daher neugierig.

»Ahura Mazda hat den Menschen als eigenständiges Wesen mit eigenem Willen geschaffen und nicht als Puppe in der Hand ihrer Götter, wie es in anderen Religionen gesagt wird. Bei ihnen sind die Menschen nur Werkzeuge der Götter. Ahura Mazda hat aber ein selbstständiges Wesen geschaffen, der für sein Handeln selbst verantwortlich ist. Deshalb soll er auch Gutes tun, reden und denken. Wenn er es nicht tut, hat er sich von Angra Mainju lenken lassen,

Der Gott Ahura Mazda will, dass Menschen ihre Pflichten gegenüber anderen als eigenständige Wesen.

Angra Mainju dagegen ist die Lüge. Wer lügt und tugendlos lebt, ist ein Sklave Angra Mainjus. Wer sich für das Gute entscheidet, ist ein Freund Ahura Mazdas – des weisen Herrn. Deshalb bürdet uns der weise Herr die folgenden Pflichten auf: Der Feind muss zum Freund gemacht werden, der Böse zum Gerechten, der Unwissende zum Wissenden.«

Bewundernd starrte ich sie an.

»Was du alles weißt.«

»Wieso, das ist doch seit jeher meine Religion und meine Überzeugung, mit der ich aufgewachsen bin.«

»Das habe verstanden. Wie verhält sich Zarathustra zu Gewalt, die einem im Alltag oder im Krieg ereilen kann?«

»In der siebenten Strophe der dreizehnten Hymne der Gatha heißt es:

Vermeidet Zorn und Haß und erlaubt nicht,

dass Gewalt und Zerstörung eure Gedanken beherrschen.

Oh Ahura

Jene, die sich mit guten Gedanken für die Verbreitung

der Reinheit und Wahrhaftigkeit einsetzen,

werden zu dir finden.«

»Das hört sich gut an und spricht für einen Frieden liebenden Propheten. Aber Worte hören sich immer gut an. Entscheidend ist, ob auch danach gelebt wird und nicht alles nur leere Phrasen sind. Oft genug war und ist doch alles nur Gerede. Und wenn einmal der Tag der Not kommt, dann ist kein Gott zur Seite, der einem beisteht und hilft. Wie schön wäre es doch, wenn deine so wohlklingenden Worte auch wahr wären.«

Zynisch hatte ich meinen Gedanken freien Lauf gelassen. Enttäuschung über meinen Gott Assur, der tatenlos dem Untergang seines Volkes zugesehen hatte, ohne einzuschreiten, war der Grund meiner Lästerei gewesen.

Erneut erlebte ich eine weitere Wesensart der jungen PouroUista. Mit einem Satz sprang sie von ihrem Platz auf und baute sich vor mir auf, während sie ihre Fäuste in ihre Taille drückte, um ihrer Empörung Ausdruck zu verleihen.

»Das mag in anderen Religionen vielleicht sein, aber bei den Zartoshtis gibt es das nicht. Wir sagen nicht nur, dass wir nach den Weisungen Ahura Mazdas leben, sondern wir tun es auch. Und dann hilft uns der weise Herr. Wir leben rein in allen möglichen Lebenslagen, um die größtmögliche Reinheit zu erreichen. Aber du bist ein ungebildeter junger Mann, der von Frust zerfressen ist. Was du an Zweifel und Unglauben deinem Gott gegenüber hast, ist deine Sache. Wir Zartoshtis sind anderen Religionen gegenüber sehr aufgeschlossen und tolerant. Du magst an deinem Gott zweifeln oder an ihn glauben. Das ist alleine deine Angelegenheit.

Aber wage es nicht, meinen Gott Ahura Mazda und seinen Propheten Zarathustra zu beleidigen. Was vergeude ich überhaupt noch meine Zeit hier mit dir? Ich muss mit meinen Kamelen zurück.«

Es war ein nutzloses Unterfangen, PouroUista in ihrem Zorn zu besänftigen. Ich ließ sie gehen, ohne einen Versuch zu starten, sie zurückzuhalten. Von meinem Platz aus sah ich zu, wie sie in wenigen Minuten die Kamele und Dromedare von der Tränke fortgetrieben hatte. Schnell kehrte wieder die Stille ein, wie ich sie hier vorgefunden hatte, als ich noch mit meiner Schafherde alleine war.

In den nächsten Tagen geschah nichts Ungewöhnliches. Der Tagesablauf gestaltete sich immer gleich. Die Schafe waren leicht zu beaufsichtigen und zu führen. Es war eine leichte Arbeit, die mir viel Zeit zum Nachdenken ließ.

Entweder schlief ich gleich bei meinen Schafen oder ich ging mit ihnen zu Paudashtis Haus zurück. Target ging es genauso. Deshalb sahen wir uns immer seltener und wenn wir uns trafen, hatten wir uns nichts mehr zu sagen. Es war, als hätten wir nur den gleichen Weg bis hierhin gehabt. Uns hatte die gleiche Ursache vertrieben und auf den Weg gebracht. Doch als dann das Ziel erreicht war, hielt uns nichts mehr zusammen. Wir gingen uns aus dem Weg. Wahrscheinlich war es auch ganz gut, da mich seine Anwesenheit immer an zwei Dinge erinnerte – an meine glückliche Kindheit auf dem Gut und an das gemeinsame Verbrechen, welches uns zu Flüchtlingen gemacht hatte.

An PouroUista dachte ich immer weniger. Sie war wie ein flatterhafter Schmetterling in mein Leben geflogen. Nachdem dieser Schmetterling einen Augenblick lang neben mir verweilt hatte, wobei ich seine Schönheit bestaunen konnte, flog er auch schon wieder mit schnellen Flügelschlägen von dannen. Manchmal kommt so ein Schmetterling wieder zurückgeflogen, manchmal jedoch nicht.

Der Tag neigte sich dem Ende. Die hohen Berge im Westen warfen schon ihre langen Schatten über die Häuser. Es schien, als wenn sie der langsam kriechende Schatten verschlucken wollte. An diesem Abend wollte ich mit meiner Herde zum Stall von Paudashtis Haus. Ich trieb die Tiere vor mir her, als ich im Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm.

Ich drehte mich instinktiv in diese Richtung, während mein Herz gleichzeitig lauter pochte, auch wenn mein Verstand mir riet, einen kühlen Kopf zu bewahren. Doch da war sogleich wieder dieses undefinierbare Gefühl. PouroUista war zurück und lief direkt auf mich zu. Außer Atem hielt sie vor mir an. Ihre Augen strahlten.

»Gut, dass ich dich hier noch treffe, Luskin. Hast du noch einen Moment Zeit für mich?«

»Natürlich.« Die Schafe blieben stehen, weil ich sie nicht mehr antrieb und nutzten die Gelegenheit zum Grasen.

»Entschuldige, ich wollte dich nicht verletzen«, sagte sie.

»Entschuldigung angenommen. Aber ganz schuldlos war ich auch nicht. Jedenfalls fällt mir auf, dass du dich jetzt schon das zweite Mal bei mir entschuldigt hast. Wird das zur Angewohnheit?« fragte ich mit einem Zwinkern.

Herzhaft lachte sie auf und strahlte mich an. Mir war sofort bewusst, dass sie in den vergangenen Tagen darunter gelitten hatte.

»Also bist du mir nicht mehr böse?«

»Nein, wirklich nicht. Ich hatte die letzten Tage bei meinen Schafen Zeit zum Nachdenken und gutes Reden, gutes Denken und gute Taten klingen nach einer vernünftigen friedlichen Grundlage. Ahura Mazda scheint ein Gott zu sein, der nicht Blut von seinen Gläubigen fordert, sondern Liebe. Was kann daran verkehrt sein? Ich würde noch mehr von ihm hören wollen.«

»Deshalb bin ich hier«, ließ sie mich gleich mit glücklichen funkelnden Augen wissen. »Wann hast du deinen freien Tag?«

»Übermorgen. Warum fragst du?«

»Das trifft sich gut. Ich habe mich mit unserem Priester, dem Mobed, unterhalten und er ist bereit, dir mehr über unseren Glauben zu erzählen. Er kann dir die ganzen Zusammenhänge sinnvoller erklären. Jedenfalls besser als ich es könnte.«

»Sei nicht so bescheiden. Das hast du gut gemacht.«

Sie strahlte über dieses Lob.

»Zufällig findet übermorgen wieder eine Navjote-Zeremonie statt. Das bedeutet, dass ein zehnjähriger Junge in unsere Glaubensgemeinschaft aufgenommen wird. Der Mobed erlaubt dir, dabei zu sein. Allerdings musst du dich still an der Seite halten. Ziehe dein sauberstes Gewand an und reinige dich vorher gründlich.«

»Ich komme gerne. Und wenn die Navjote vorbei ist, was machen wir dann?«

»Dann zeige ich dir die Stadt, wenn du magst?«

»Da fragst du noch?«

Glücklich fiel sie mir um den Hals und gab mir einen Kuss auf die Wange. Genauso schnell wie sie mich umarmt hatte, ließ sie auch wieder von mir ab und wandte sich zum Gehen.

»Ich muss wieder heim zu meinem Onkel. Übermorgen hole ich dich nach Sonnenaufgang bei Paudashti ab.«

Dann war sie auch schon wieder verschwunden.

Ich kann mich heute noch daran erinnern, wie ich stolz, glücklich und sanft die Stelle auf meiner Wange betastete, die kurz vorher von PouroUistas Lippen berührt worden war. In diesem Moment wäre ich fast vor Glück geplatzt.

In den darauffolgenden Nächten konnte ich keinen erholsamen Schlaf finden. Aber als junger Mann steckt man diese Schlaflosigkeit aus Liebe schnell weg.

Die eigentlich kurze Zeit des Wartens erschien mir so unendlich lang. Doch dann sah ich sie kommen.

»Komm, Luskin. Lass uns erst noch etwas essen. Bis die Navjote beginnt, dauert es noch. Wir haben bis dahin noch Zeit.«

In einer Herberge aßen wir Brot, Hammelfleisch und Obst. Dabei lachten wir uns oft an. Ich merkte, dass ich ihr zunehmend verfiel. Was mich jedoch glücklich machte, war die Gewissheit, dass es ihr wohl ebenso erging. Ein Blick in ihre Augen genügte, um mir sicher zu sein.

Wir waren rechtzeitig zurück am Tempel.

»Dort ist der Feuertempel, den wir Bahran nennen«, erklärte sie mir. PouroUistas Blick war stolz auf dieses Gotteshaus gerichtet, das mich ein wenig enttäuschte. Ich hatte ein imposanteres Bauwerk erwartet. Es war ein unauffälliges normales Gebäude. Der Bahran lag in einem großen Garten. An der Rückwand war eine breite offene Terrasse, zu der eine Doppeltreppe führte.

»Hier«, so erklärte mir PouroUista, »versammeln sich die Gläubigen. Wenn es für die Terrasse zu viele sind, verteilt sich der Rest über den grünen Rasen. Nur ältere und kranke Leute sowie die Priester dürfen den Innenraum des Tempels besuchen. Das Heiligtum selbst, wo die heilige Flamme brennt, dürfen nur die amtierenden Priester, die Mobedan, betreten. Aber sieh nur, Luskin, da kommt der Mobed-i-Mobedan schon.«

Als mir der Hohepriester entgegenkam, konnte ich mir ein lautes Auflachen nur schwerlich verkneifen. Zum Glück gelang es mir, diese Unhöflichkeit zurückzuhalten. Dennoch fiel es mir schwer, denn sein Aussehen war recht lustig. Er trug eine weiße glänzende Leinenkappe auf dem Kopf. Dazu trug er eine weiße Binde vor Mund und Nase, einen weißen Umhang bis fast auf den Boden und weiße Überschuhe. Auch die dünnen Handschuhe des Mobed waren aus dem gleichen weiß glänzenden Stoff.

»Ich bin der Mobed-i-Mobedan, der Hohepriester Khodary. Sei gegrüßt, Luskin. Es ist mir eine Freude, dir unseren Tempel zu zeigen und dir von unserem Glauben zu erzählen. Doch bevor du den Tempel betrittst, musst du deine Schuhe ablegen und diese weiße Kappe aufsetzen.«

Als PouroUista und ich nach Vorschrift gekleidet waren, mussten wir lachen, als wir uns ansahen. Seltsamerweise stimmte auch Khodary in das Lachen ein. Er schien Humor zu besitzen und selbst in so einem Heiligtum seine Heiterkeit nicht verloren zu haben.

»Darf ich fragen, verehrter Mobed-i-Mobedan, warum das alles nötig ist?«

»Das darfst du. Wenn du eine Frage hast, so zögere nicht, sie zu stellen. Im Innersten des heiligen Tempels ist das heilige Feuer. Sinn dieser Verkleidung ist es, auch die allerkleinste Verunreinigung des heiligen Feuers durch die menschliche Haut, den Atem, den Speichel oder den Ausfall eines Haares zu vermeiden. Denn das heilige Feuer muss beschützt werden, da es ein heiliges Element, ein Geschenk Ahura Mazdas an den Menschen ist und ein Symbol der Wahrheit. Sie ist auch ein Symbol der Reinheit. Das Feuer hat die Macht die Finsternis zu vertreiben, das Reich Angra Mainyus. Letztendlich soll die Helligkeit des Feuers die Finsternis verdrängen. Doch lasst uns nun die Treppe hinaufgehen.«

Dies taten wir und traten in einen großen, mit weichen Teppichen ausgelegten Raum. Darin befand sich das eigentliche vierseitige Heiligtum. Es war ein kleiner Tempel für sich mit vier schlanken Marmorsäulen, die bis zur Decke reichten. Auf einem quadratischen Altar flackerte inmitten des überwölbten Raumes, in einer großen Bronzevase, das heilige Feuer.

»Das Feuer brennt ohne Unterbrechung seit vielen Jahren. Seit wann genau kann ich selbst nicht sagen. Du bist einer der wenigen Nicht-Zartoshti, die so nah herankommen dürfen, doch hattest du in PouroUista eine unnachgiebige Fürsprecherin.«

Bei diesen Worten grinste Khodary PouroUista an, die sofort rot anlief.

»Ihr beide könnt hier an der Seite stehenbleiben. Verhaltet euch bitte ruhig. Ich führe jetzt mit den anderen Magiern die Navjote durch.«

Der Mobed-i-Mobedan ging zur Bronzevase, wo die bunt flackernde Flamme unaufhörlich brannte. Sieben Magier hatten sich mit ihm versammelt, die alles mit inniger Anteilnahme verfolgten, was an der Flamme vor sich ging. Khodary murmelte Gebete aus der Gatha, hob die Hände zum Himmel, ging einige Male um die lodernde Feuerstelle herum und warf Holzstäbchen ins Feuer, worauf der Raum sogleich von aromatischem Duft erfüllt war. Dann klingelte er mit einer Glocke.

Neben der Flamme war ein weißes Tuch ausgebreitet. Darauf setzten sich die Magier im Schneidersitz. An den Seiten und Enden des Stoffes standen Schüsseln mit verschiedenen Obstsorten.

Aus einer Tür trat ein zehnjähriger Junge, der stolz erhobenen Hauptes auf den Hohepriester Khodary zuging. Dieser sprach weiterhin Gebete, holte ein weißes Hemd sowie eine weiße Schnur hervor und hielt sie vor sich hin. Wie ich später erfuhr, hieß das heilige Gewand Gudra und die geweihte Schnur Kusti. Die Kusti bestand aus 72 Fäden, entsprechend den 72 Kapiteln des Opfertextes aus dem heiligen Buch Avesta. Es folgte der heilige Moment der Navjote, indem der Hohepriester dem Jungen das heilige Gewand anlegte. Danach folgte die Kusti. Dabei wurde die Kusti während des Gebetes fortwährend auf- und zugebunden. Ein Ritual, das dem Träger helfen sollte, seine Gedanken ganz auf die praktische Anwendung seines Glaubens zu konzentrieren.

Zum Abschluss der Navjote-Zeremonie umging der Khodary noch einmal das Feuer, warf danach weitere Holzstäbchen und Weihrauchblätter ins Feuer. Er schloss mit einem Gebet und die Zeremonie war vorbei. Der Junge verließ den heiligen Raum und wir taten es ihm gleich. Am Fuß der Treppe entledigten wir uns der weißen Kappe und zogen unsere Sandalen wieder an. Khodary kam noch einmal vorbei und ich bedankte mich, dieses Erlebnis hatte erleben zu dürfen.

Wir setzten uns im Garten auf eine Bank, die im Schatten stand. Der Mobed-i-Mobedan erklärte mir das Wesen des zarathustrischen Glaubens.

»Der weise Herr Ahura Mazda ist allmächtig, übt seine Allmacht aber nur in besonderen Fällen aus. Ansonsten lässt er den Menschen die freie Wahl, nach eigenem Willen gut oder schlecht zu handeln. Der böse Angra Mainju ist der Zwillingsbruder Ahura Mazdas und einem gefallenen Engel gleich.

Das Leben der Menschen ist ein ewiger Kampf zwischen Gut und Böse, es ähnelt dem Bruderkampf zwischen Ahura Mazda und Angra Mainju. Ahura Mazda betont immer wieder, je weniger sich der Mensch von Angra Mainju verführen lässt, je mehr er sich um gute Taten und ein sündloses Leben bemüht, desto größer wird die Unterstützung von Ahura Mazda sein.

Wenn jedoch ein Mensch eine Sünde begangen hat, so wird ihm diese von Ahura Mazda nicht vergeben, so sehr der Sünder auch bereut. Ihm allein ist es freigestellt, gute Taten zu vollbringen und so die Zahl der schlechten zu übertrumpfen. Wie auf einer Waage wird am Ende die Seite mit den guten Taten mit der Seite der bösen Taten verglichen. Wenn am Schluss die guten Taten überwiegen, sei es seiner Seele gestattet, in den Himmel aufzusteigen. Dies geschieht am vierten Tag nach dem Tode. Sollte die Seite der bösen Taten überwiegen, so muss er in die Hölle absteigen, wo ihn ein Strafgericht erwartet. Dieses entscheidet aufgrund der Schwere seiner Sünden über das Strafmaß. Seiner Seele kann es also bei nicht so schweren Taten gelingen, nachträglich in den Himmel aufzufahren.«

Khodary wies mich weiter darauf hin, dass die Hilfsbereitschaft untereinander ausgelebt werde und es keine hungernden Menschen gäbe. Ich sollte bei meinem Gang durch die Stadt doch darauf achten, ob ich Bettler am Straßenrand in ihrem Schlaflager fände. Ich würde keine sehen, versicherte er mir.

Dadurch wurden die Zartoshti ein recht wohlhabendes Volk. Sie bilden eine in sich geschlossene Gemeinschaft, die sich gemeinsam gegen alle Angriffe wehrt. Der Prophet verlange ein vorbildliches Familienleben und gute Erziehung der Kinder.

»Wie wird man denn Priester oder soll ich Magier sagen?«

Khodary schmunzelte.

»Das ist ganz einfach, da die Priesterwürde erblich ist. Niemand kann diese Pflichten übernehmen, ohne hierfür geboren zu sein. Doch jetzt muss ich gehen. Es hat mich gefreut, dich gesehen zu haben.«

Khodary verabschiedete sich. PouroUista und ich standen auf und gingen durch die Stadt. Sie zeigte mir verschiedene Gassen und Straßen. Natürlich konnte ich nicht umhin, nach Bettlern Ausschau zu halten. Doch meine Suche war vergebens. Ich fand keine. Tafresh war eine saubere Stadt. Zudem fiel mir noch etwas auf: Es waren glückliche Menschen. Wir gingen an vielen Häusern vorbei, aus denen Gelächter und Freude zu vernehmen war. Das Lachen trugen die Menschen hier immer mit sich herum. Die Zartoshtis waren beneidenswert ihres Glückes wegen. Es hatte den Anschein, als wenn sie ihr Glück gefunden hatten, weil sie es verstanden, sich auch über die kleinen Dinge des Lebens zu freuen. Und dieses Glück, welches jeder versprühte, steckte den Nächsten in seiner Umgebung an. Wie ein Lauffeuer verbreitete es sich.

Unser Weg führte uns schließlich zu einem Gebäude, das für mich der traurigste Ort von ganz Tafresh werden sollte. Mit meiner Hand zeigte ich auf diesen Turm und richtete gleichzeitig das Wort an PouroUista.

»Sieh mal dort. Als ich in dieser Stadt ankam, ist mir dieser Turm schon aufgefallen. Damals ließen sich viele Geier nieder. Auch jetzt schweben wieder Geier über dem Turm. Weißt du, was sie da wollen?«

»Das, was du da siehst, lieber Luskin, ist der Turm des Schweigens. Dort werden unsere Toten bestattet oder besser gesagt, sie werden von den Geiern aufgefressen, statt sie ...«

»Wie bitte? Das kann doch nicht euer Ernst sein, sie von Geiern wie einen Tierkadaver auffressen zu lassen? Warum macht ihr so etwas?«

PouroUista war über meinen Ekel nicht verwundert. In einem ruhigen Ton versuchte sie mir, dieses Ritual zu erklären.

»Ich bin kein Priester. Khodary hätte dir das sicherlich besser erklären können. Wie du schon gehört hast, gibt es Gutes und Böses, aber auch Reines und Unreines.

Es bleiben nur die kahlen Schädel und die blanken, abgenagten Knochen übrig. Die Knochen trocknen dann in der prallen Sonne. Diese werden dann gelegentlich bei einer der folgenden Bestattung von den Leichenträgern mit Strohbesen in eine tiefe viereckige Öffnung gefegt, die sich in der Mitte des Bestattungsplatzes befindet. Dort pulverisieren sich im Lauf der Jahre die Knochen. Der Beruf des Leichenträgers wird übrigens auch vererbt. Dieser Turm des Schweigens wird auch Dakhmè genannt.«

Sprachlos hatte ich ihre Worte vernommen, aber irgendwie konnte ich es nicht glauben. Da fielen mir wieder die Worte des Gerbers ein: Ihr habt doch sicherlich die Geier gesehen. Nun verstand ich die Bedeutung seiner Worte.

Dieses barbarische Ritual passte meiner Ansicht nach nicht zu den sonst so fröhlichen Menschen, die immer darauf aus waren, ihre Waagschale für ein Leben nach dem Tod mit guten Taten zu befüllen. Aber was blieb mir anderes übrig, als dieses alteingesessene Bestattungsritual zu akzeptieren. Diese Sitte hatte sich in vielen Jahrhunderten herausgebildet und es lag nicht an mir, mein Urteil darüber zu fällen. Nach ihrer Meinung taten sie das Richtige, was ich respektierte.

Kein Wort sprach ich, als ich langsam auf den Turm zuging und ihn mir näher betrachtete. Der Turm war kreisrund und hatte einen Durchmesser von ungefähr vierzig Ellen. Die kalkgetünchten Ziegelsteinmauern waren etwa zwölf Ellen hoch. Eigentlich war die Bezeichnung Turm nicht passend, sondern zu hochtrabend, weil es sich nur um eine hohe Ringmauer um den Platz für das Auslegen der Toten handelte.

Vor der Pforte stand noch ein quadratisches, völlig kahles Totenhaus, worin die Verstorbenen die letzten religiösen Riten erhielten. Nur die Leichenträger durften den inneren Platz des Turmes des Schweigens betreten, wenn sie die Leichen einfach auf den Boden legten.

Als ich da stand, wurde ich aus meinen Gedanken gerissen. Zehn Geier erhoben sich unter lautem Gekrächze mit vollem Bauch aus dem inneren des Turms. Langsam war ihr Flug, der in Richtung Berge ging. Ich blickte ihnen nach, bis sie meinen Augen entschwunden waren. Wenn sie wieder Hunger hatten, würden sie wiederkommen, schoss es mir durch den Kopf, denn die Tiere wussten inzwischen, wo es immer reichlich Nahrung für sie gab.

Ich drehte mich um und ging schweigsam neben PouroUista in die Stadt zurück. Sie akzeptierte meine Betroffenheit. Es dauerte eine Weile, bis wir wieder ungezwungen lachen konnten. Dennoch wurde es ein schöner Tag, an dessen Ende ich sie zu ihrem Onkel begleitete.

So lernte ich schließlich ihren Onkel Bashtony und dessen Familie kennen. Seine Frau war schweigsam. Ebenso Bashtonys beide Söhne. Eine Tochter hatte er auch noch, die mit ihren achtzehn Jahren aber schon lange verheiratet war und woanders lebte.

Bashtony selbst war ein herzensguter Mann, der sich selbst gern reden hörte. Oft war ich in den nächsten Wochen bei ihm zu Besuch, wobei ich immer gastfreundlich aufgenommen und zu den Mahlzeiten eingeladen wurde.

In dieser Zeit wurde mein Verhältnis zu PouroUista ein ganz besonderes. Wir kamen uns nie näher, als die Hände ineinander verschlungen zu halten. Ich hielt mich an die zarathustrischen Sitten, dass vor der körperlichen Vereinigung die Ehe geschlossen werden musste. Auch PouroUista hütete ihre Keuschheit, denn sie wollte nach der Sitte als Jungfrau vermählt werden. So unterdrückten wir unsere Begierde, welche natürlich ab und zu aufflackerte. Wir beide spürten inzwischen unsere Liebe im Herzen. Jedes Mal, wenn wir uns sahen, war das pochende Herz des anderen zu spüren. Dadurch entstand in mir der Wunsch, PouroUista für immer in meiner Nähe zu haben. Die Idee der Heirat war geboren. Zuerst war dieser Gedanke eine zarte Pflanze, die in den darauffolgenden Wochen zu einem starken kräftigen Baum herangewachsen war. Der Wunsch, meine Liebe zu heiraten, wurde immens stark, bis ich mir vorgenommen hatte, um meine Braut zu werben und ihr einen Antrag zu machen, beziehungsweise den anwesenden Onkel um die Hand der Nichte zu bitten.

Doch, um ihr ein würdiges Heim bieten zu können, war Geld vonnöten. Jeden kleinsten Taler meines Lohnes sparte ich für diesen Zweck auf.

In unserer freien Zeit liefen wir zusammen herum. Sie zeigte mir das gesamte Tal, in dem Tafresh lag. Inzwischen kannte ich jede Straße der Stadt. Wir machten harmlose Streiche und gebärdeten uns wie kleine Kinder. Jauchzend liefen wir davon, wenn uns ein Streich gelungen war und der wütende Mann erbost die Faust hinter uns herschwang. Wir hüpften lachend über die kleinen Mauern und lagen nebeneinander im Gras die Gesichter zum Himmel gewandt. So verfolgten wir die schneeweißen Wolken bei ihrer Wanderung am Himmel. Anschließend gaben wir uns unseren Träumen hin und machten gemeinsame Pläne. Wir ritten vergnügt auf Kamelen. Ich werde nie vergessen, wie schwankend der erste Ritt auf diesem Wüstenschiff war, so dass ich fast das Gleichgewicht verloren hätte. Die Zeit verging so schnell. Wir hatten uns gesucht und gefunden.

Es war vielleicht die Glücklichste.

Mein Erspartes war schon beträchtlich angewachsen, auch dadurch, weil ich das Pferd verkauft hatte. Aber es war noch nicht ausreichend genug, damit ich um die Hand meiner Geliebten anhalten konnte, als ich eines Abends bei Bashtony erschien. Vor seinem Haus standen mir unbekannte gesattelte Kamele. Nachdem ich eingetreten war, sah ich Bashtony und seine Frau schweigsam und bedrückt, die Hände vor sich gefaltet, am Tisch sitzen. Da ich seine sonst so lebhafte und fröhliche Art kannte, dachte ich sogleich daran, dass meiner Liebe etwas Entsetzliches zugestoßen sei. Mein Herz bekam einen Stich, doch beruhigte es sich sogleich wieder, als ich PouroUista im hinteren Raum an dem anderen Tisch sitzen sah. Doch war sie nicht alleine. Bei ihr war ein junger Mann, der älter als sie sein musste. Beide saßen sie sich am Tisch gegenüber, wobei er auf der Tischplatte zärtlich ihre Hände hielt. Wütend wollte ich auf ihn zugehen und ihn mit meinen Besitzansprüchen zur Rede stellen, als mich PouroUistas verweinte Augen ansahen. Ich brauchte schnell eine Erklärung.

»Was ist geschehen?«

Sie sah mich verweint an und schluchzte nur, als sie den fremden Mann ansah.

»Dies ist mein ältester Bruder Istavastar.«

Als ich das vernahm, überkam mich eine Welle der Erleichterung, die aber nicht lange anhielt.

»Er ist gekommen, um mich zu meinem Vater zu bringen. Mein Vater hat einen Mann für mich ausgesucht, den ich heiraten soll.«

In diesem Moment brach eine Welt für mich zusammen. Ich konnte nur noch hilflos stottern, während mir übel war.

»Aber ... aber nein, ...ich will ... dich, ...dich doch heiraten.«

Ihre Augen sahen mich flehentlich an.

»Verzeih mir bitte. Ich weiß, dass du mich heiraten willst. Ich will dich auch heiraten, aber mein Vater bestimmt und er hat aus Gründen, die ich nicht genau kenne, einen anderen Mann für mich gefunden.«

Das waren die letzten Worte von ihr, die ich von ihr hörte, ehe sie nur noch in ein herzzerreißendes Weinen und Schluchzen versank.

Istavastar stand auf und stellte sich vor mir auf. Er hatte die gleichen Augen wie seine Schwester. Ansonsten war seine Erscheinung anders. Kräftig und groß stand er vor mir und seine Körperhaltung und Mimik sprachen Bände. Er war nicht den weiten Weg hierher geritten, um unverrichteter Dinge wieder abzuziehen. Er schien ein Mann der Tat zu sein, der keinen Widerspruch duldete.

»Was ihr hier für eine romantische Liebesgeschichte habt, ist mir und unserem Vater relativ egal. Du musst dich damit abfinden, dass sie einem anderen versprochen ist. Ihr zukünftiger Mann heißt Jamasp der Sohn des Frasaostra aus der Familie der Hvogvas. Ihre Vermählung wird sofort nach ihrem Eintreffen stattfinden. Da sie die Pflicht hat, eine gehorsame Tochter zu sein, bist du jetzt fehl am Platze und ich bitte dich zu gehen. Wir werden morgen früh abreisen.«

Sein Tonfall war so gebieterisch und entschieden, dass ich gar nicht auf die Idee kam, zu widersprechen. Ich drehte mich niedergeschlagen um und verließ augenblicklich das Haus. Ich weiß gar nicht, wie weit ich gegangen war, als sich plötzlich eine schwere Männerhand auf meine rechte Schulter legte und mich aufhielt. Traurig sah ich den Mann an, der mich angehalten hatte und blickte in das gütige Gesicht von Bashtony.

»Sei nicht traurig, mein Junge. Ich kann nachempfinden, was dir PouroUista bedeutet. Auch uns wird sie fehlen, da sie für uns eine liebe Tochter war. Aber ich kann mich den Anordnungen meines Bruders nicht widersetzen. Ich muss seine Tochter nach Sabol schicken. Tröste dich mit dem Gedanken, dass ihr Vater ihr einen guten und wohlhabenden Mann ausgesucht hat. Wie ich meinen Bruder kenne, wird es ein anständiger und lieber Mann sein, der sie ernähren kann. So leid es mir tut, dies zu sagen, aber du musst dich damit abfinden. Doch solltest du wissen, dass du jederzeit bei mir willkommen bist.«

Diese Worte taten mir gut, auch wenn sie dieses schmerzende Nagen in meinem Innersten nicht stoppen konnten.

Die nächsten Tage waren die schlimmsten. Ich kann mich noch daran erinnern, wie Paudashti eines Tages kam und mich wegen einiger Schafe ansprach, die er zum Schlachter bringen wollte. Als ich ihm wegen meiner schlechten Laune eine unflätige Antwort gab, bedachte er mich mit einem mitleidvollen Blick.

»Ja, ja, der Liebeskummer. Wie ich Angra Mainju kenne, hat er diese Qualen erfunden. Ich kenne das, Luskin, glaube mir, ich kenne das selbst.«

Die gutgemeinten Worte hörte ich wohl, doch linderten sie meinen Schmerz nur wenig. Es war nur ein geringer Trost, dass es anderen auch so ergangen war.

Sklave und König

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