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ОглавлениеSCHULE WEITER DENKEN
Warum wir dieses Buch geschrieben haben
Michael Becker-Mrotzek & Kai Maaz
Die Pandemie hat die Schulen gezwungen, praktisch ohne Vorbereitungszeit den Unterricht auf Formen des Distanzlernens umzustellen. Das war für Schülerinnen und Schüler, Eltern und Lehrkräfte mit großen Herausforderungen und teilweise erheblichen Einschränkungen verbunden. Homeoffice, geschlossene Schulen und vielerorts fast verzweifelte Versuche, digital das zu ermöglichen, was über viele Jahre im Schulsystem nicht strategisch vorangetrieben wurde: Die Digitalisierung des schulischen Lernangebots unter zugegebenermaßen schwierigen Umständen an den Schreibtischen der Kinder oder den Ess- und Küchentischen der Familien zu ermöglichen, hat Familien in einer bislang nicht dagewesenen Weise herausgefordert. Gewohnte, eingespielte und bewährte Strukturen hatten von einem Tag zum anderen keinen Bestand mehr, es mussten neue Lösungen gefunden werden, um den Anforderungen der Schule und des Berufs sowie den Bedürfnissen der Kinder gerecht zu werden. Eltern mussten auf einmal zusätzliche Aufgaben wahrnehmen und gerieten auch immer wieder in Rollenkonflikte. Neu war ihre Rolle als Lehrkraft. Denn digitaler Distanzunterricht entlang des wöchentlichen Stundenplans war im ersten Lockdown eine Ausnahme. Es fehlten die Lehrerinnen und Lehrer, die die Kinder und Jugendlichen in ein neues Thema einführten, den jeweiligen Lerngegenstand anschaulich erläuterten und den Schülerinnen und Schülern ein individuelles Feedback gaben. Und auch im zweiten Lockdown waren viele Schulen und Klassen von einem solchen Bildungsangebot noch weit entfernt. Eltern waren vielfach nicht mehr die Menschen, die verständnisvoll ihre Kinder auffangen konnten, wenn sie Trost und Anerkennung brauchten. Stattdessen hatten sie dafür Sorge zu tragen, dass ihre Kinder die Arbeitsmaterialien bearbeiteten und mussten ihnen neue Sachverhalte erklären.
Sicher, je älter und selbstständiger die Kinder sind, umso ausgeprägter sind auch ihre Kompetenzen, eigenständig Lernstoffe zu erarbeiten, aber dafür stehen ältere Kinder und ihre Eltern vor anderen Herausforderungen, Stichwort Pubertät. Der Austausch und Abgleich mit anderen Jugendlichen fehlt, und die natürliche Abnabelung von den Eltern in dieser Zeit steht oftmals einem konstruktiven gemeinsamen Lernen entgegen.
Ein weiteres Problem kommt hinzu. Die Variabilität, wie Schulen mit der pandemiebedingten Krisensituation umgegangen sind, war enorm. Auch innerhalb einer Schule gab und gibt es große Unterschiede, wie die Lehrkräfte die auch für sie schwierige Situation meistern. Welche Folgen diese Variabilität auf die Lernstände der Schülerinnen und Schüler hat, lässt sich heute allenfalls vermuten. Es deutet sich aber an, dass es in allen Jahrgängen zu Lernverzögerungen kommen kann, insbesondere im Bereich der Grundschule. Dies mag verkraftbar wirken, da es sich hier um vermeintlich einfache Lerngegenstände handelt, aber genau das Gegenteil ist der Fall. Denn hier werden die Grundlagen nicht nur für den Schrift- und Spracherwerb und die Mathematik gelegt, sondern für den Zugang zum Lernen insgesamt. Fehlt es Kindern hier an Grundlagen, werden sie es schwer haben, komplexere Sachverhalte darauf aufbauend zu verstehen und kognitiv miteinander zu verbinden.
Die Folgen können die dann Jugendlichen und das System somit noch viele Jahre später belasten. Auch zeigen sich bereits nach dem ersten Lockdown zwischen den Kindern und Jugendlichen große Unterschiede in den Lernfortschritten. Und wieder lassen sich alte und seit Jahrzehnten gut dokumentierte Effekte beobachten, und zwar die Abhängigkeit des Bildungserfolgs der Kinder von ihrer sozialen Herkunft. Insbesondere Kinder und Jugendliche aus bildungsbenachteiligten Familien haben durch den Lockdown Nachteile erlitten; andere Schülerinnen und Schüler höherer Altersstufen mit günstigen Lernvoraussetzungen konnten von den neuen Möglichkeiten auch profitieren.
Anliegen des Buchs ist es, die erzwungenen Veränderungen und ihre Folgen für Schule und alle daran Beteiligten zu beschreiben, um zu verstehen, was eigentlich passiert ist und was sich verändern muss. Im Kern soll es dann darum gehen, die Entwicklungen in der Pandemie konstruktiv weiterzudenken und zu fragen, wie muss Schule weiterentwickelt werden, damit sie ihren gesellschaftlichen Auftrag auch in Zukunft erfüllen kann. Wie kann sie die nachfolgende Generation auf ein selbstbestimmtes Leben in einer demokratischen, heterogenen, globalen und in vielen Bereichen digitalen Gesellschaft vorbereiten – und zwar alle Kinder und Jugendlichen?
Die Veränderungen haben nicht nur medizinische Fachbegriffe wie Virus, Inzidenzwert, Reproduktionsrate oder Vakzin in unsere Alltagssprache eingebracht, sondern auch Fachbegriffe aus Bildung und Schule. Wir sprechen in unserem Buch von Distanzunterricht und meinen damit, dass die Schülerinnen und Schüler ihre Aufgaben zu Hause bearbeiten und dabei im Idealfall mit ihrer Lehrerin oder ihrem Lehrer über Videokonferenzen in regelmäßigen Austausch sind. Das kann mit der gesamten Klasse oder in Kleingruppen geschehen. Außerdem steht dabei im besten Fall eine Lernplattform zur Verfügung, auf der die Lernmaterialien bereitstehen und auf die Schülerinnen und Schüler ihre Ergebnisse hochladen können. Präsenzunterricht meint die bekannte Form des Unterrichtens im Klassenzimmer, bei dem alle anwesend sind. Wechselunterricht meint einen Wechsel von Präsenz- und Distanzunterricht, bei dem jeweils ein Teil der Klasse in der Schule unterrichtet wird und der andere zu Hause lernt, um so mehr Abstand im Klassenzimmer zu ermöglichen. Hybridunterricht meint eine technisch und pädagogisch besonders anspruchsvolle Form des Unterrichtens. Dabei wird eine Gruppe im Klassenzimmer unterrichtet, während die übrigen Schülerinnen und Schüler dem Unterricht zu Hause am Monitor folgen. Das verlangt eine entsprechende Digitaltechnik im Klassenzimmer und zu Hause mit Kamera, Bildschirm und Lautsprecher sowie ein passendes pädagogisch-didaktisches Konzept.
Der Begriff digitale Medien umfasst im Kontext Schule weit mehr als nur Übertragungsmedien. Dazu gehören a) Endgeräte wie Laptops, Smartpads oder PCs für die Schülerinnen und Schüler sowie Lehrkräfte, b) die technische Infrastruktur wie WLAN und Netzwerk, die der Schulträger bereitstellen muss, c) Lernplattformen mit geschützten Räumen für einzelne Klassen, Videokonferenzsysteme, Chatmöglichkeiten, Wikis und anderes mehr, d) Standardsoftware für die Textverarbeitung und Tabellenkalkulation oder Zeichenprogramme und e) spezielle Lernsoftware, etwa Simulationsprogramme in den naturwissenschaftlichen Fächern.
Um die Frage zu beantworten, wie Schule weiter gedacht werden kann, betrachtet unser Buch Schule aus unterschiedlichen Perspektiven. Nach einführenden Gesprächen mit Eltern, einer Schülerin, einer Lehrperson, einer Schulleitung sowie einem Vertreter der Bildungsadministration wirft das Buch in Kapitel 2 einen Blick auf die Strukturen des schulischen Bildungssystems und fragt in Kapitel 3, wie die Qualität von Unterricht und Schule gesichert werden kann. Ein wichtiger Baustein dafür ist die Professionalisierung der Lehrkräfte (Kapitel 4), die auf die gestiegenen Anforderungen nicht nur in Studium und Referendariat gut vorbereitet werden müssen, sondern sich stetig fortbilden müssen. Denn nur dann sind sie in der Lage, Unterricht und Schule weiterzuentwickeln und an die sich jeweils verändernden Bedingungen anzupassen; das ist ein Prozess zwischen Steuerung durch die Bildungsverwaltung und Autonomie jeder einzelnen Schule, also ein Wechsel von Top-Down- und Bottom-up-Prozessen. Wie sieht guter Unterricht aus und wie kann dieser – mit und ohne digitale Medien – auch auf Distanz gesichert werden? Darum geht es in Kapitel 5. In Kapitel 6 wird es um die Frage gehen, wie schulische Bildung insgesamt in einer digital geprägten Welt aussehen und organisiert werden kann. Anhand der beiden Unterrichtsfächer Deutsch (Kapitel 7) und Mathematik (Kapitel 8) wird aufgezeigt, wie gute fachliche Bildung mit digitalen Medien unterstützt werden kann. Und schließlich wird es in Kapitel 9 um eine der zentralen Herausforderungen des deutschen Schulsystems gehen, nämlich wie Bildungsbarrieren abgebaut werden können.