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Оглавление2 WER IST EIGENTLICH FÜR WAS VERANTWORTLICH?
Ein Blick auf die Strukturen
Martina Diedrich & Kai Maaz
Die Strukturen unseres Bildungssystems können selbst noch so engagierte Eltern zum Verzweifeln bringen, weil sie manchmal undurchschaubar scheinen. Grundsätzlich wird unterschieden in innere und äußere Schulangelegenheiten, für die die Zuständigkeiten an unterschiedlichen Stellen liegen. Mal ist der Bund verantwortlich, bei Schulangelegenheiten sind es in aller Regel die Länder, bei denen Zuständigkeiten liegen, und mal kommt auch noch den Schulträgern – zumeist den Kommunen – eine zentrale Rolle zu. Und selbst innerhalb einer Kommune gibt es noch Unterschiede und man fragt sich, warum es »gute« und weniger gute Schulen gibt. Ziehen Familien von einem Bundesland in ein anderes, scheint sich fast alles zu ändern. Insgesamt ist die formale Struktur unseres Schulsystems durch eine Unübersichtlichkeit gekennzeichnet, die auch für Fachleute eine Herausforderung darstellt. Dennoch: Wenn es darum geht, den Anforderungen von und an Schule gerecht zu werden und Schule weiterzuentwickeln, bilden die strukturellen Rahmenbedingungen, unter denen Schulen agieren, eine notwendige, wenn auch keine hinreichende Voraussetzung. In Krisensituationen gewinnen sie noch mehr an Bedeutung. Wir alle fragen uns oft: Warum sind Veränderungen in Schule so behäbig? Warum wird nur so langsam, manchmal scheinbar zu langsam, auf aktuelle Entwicklungen reagiert? Und gerade in der Krise: Warum wurde nicht mehr und besser »von oben« gesteuert? Warum sind einige Schulen bislang relativ problemlos durch die Pandemie gekommen und andere hatten schon Schwierigkeiten, ihre Schülerinnen und Schüler überhaupt zu erreichen? Die Antworten sind vielschichtig. Verlässliche und gleichzeitig flexible strukturelle Rahmungen sind auch hier eine zentrale Voraussetzung für ein gelingendes Krisenmanagement. Wir wollen im Folgenden besonders solche Aspekte betrachten, die auch während der Corona-Pandemie von zentraler Bedeutung für die Steuerung der Schulen gewesen sind. Wir gehen dabei von dem Gedanken aus, dass die Einzelschule Teil eines Mehrebenensystems ist. Das heißt, dass die Steuerung der Schule unterschiedliche Ebenen umfasst und somit an unterschiedlichen Stellen ansetzen kann:
• Auf der untersten Ebene befinden sich die einzelnen Schülerinnen und Schüler, die mit ihrem jeweiligen familiären Hintergrund, mit ihren Begabungen und Interessen unterschiedliche Voraussetzungen für das Lernen mit in die Schule bringen.
• Schülerinnen und Schüler werden in Klassen oder Lerngruppen zusammengefasst, in denen je nach Zusammensetzung der Schülerschaft unterschiedlich gut gelernt werden kann, je nachdem, wie die individuellen Voraussetzungen sich mischen bzw. entmischen.
• Die Klassen gehören jeweils zu einer Schule, die einerseits in Abhängigkeit von der Gesamtheit der Schülerschaft, andererseits in Abhängigkeit von den dort arbeitenden Lehrkräften und sonstigen pädagogisch Tätigen, von der Schulleitung, aber auch von der Qualität der Ausstattung und sonstigen materiellen Rahmenbedingungen unterschiedlich gut Unterricht und Schulleben gestalten kann.
• Schulen wiederum gehören in der Regel einer bestimmten Schulform an. Neben den Grundschulen gibt es inzwischen in vielen Bundesländern nur noch zwei weiterführende Schulformen, die Gymnasien und eine Form von Gesamtschulen, an denen alle Bildungsabschlüsse entweder in integrativer Form oder in voneinander getrennten Bildungsgängen erworben werden können, zum Beispiel Sekundarschule, Mittelschule oder Regionalschule genannt. Es gibt aber auch noch Bundesländer, in denen das Schulsystem in der Sekundarstufe I stärker unterteilt ist und drei bis fünf unterschiedliche Schulformen zur Verfügung stehen, wie etwa Hauptschule, Realschule und Gymnasium (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung, 2018, 2020). In der Sekundarstufe II treten berufliche Schulen, die vordergründig zu einem allgemeinbildenden Abschluss führen (z. B. berufliche Gymnasien), und die berufsbildenden Schulen hinzu.
• Auf der nächsthöheren Ebene finden sich die Schulverwaltungen, einerseits die kommunalen Schulträger, die vor allem für finanzielle und Ausstattungsfragen zuständig sind, andererseits die Schulaufsicht, die den grundgesetzlichen Auftrag zur staatlichen Aufsicht des Schulwesens wahrnimmt und für die Kultusministerien die Schulen kontrollieren und beraten soll.
• Die Art und Weise, wie die Schulverwaltung organisiert ist, welche Schulformen es gibt, aber auch Vorgaben bezüglich der Lehrpläne und Prüfungsordnungen werden auf Ebene des einzelnen Bundeslands in den Kultusministerien oder -behörden der Länder geregelt. Dadurch kommt es, dass von Bundesland zu Bundesland unterschiedliche Bedingungen des Lernens bestehen.
Somit ist Schule eingebettet in strukturelle Rahmenbedingungen, die ihre Handlungsmöglichkeiten vorprägen, begrenzen und erweitern. Deutlich wird, dass es keine gesamtdeutsche Steuerungsinstanz gibt, die für alle Schulen in Deutschland zuständig und verantwortlich ist. Dies liegt an der föderalen Zuständigkeit für den Kultusbereich: Schulen sind Ländersache. So kommt es, dass auch bei bundesweit übergreifenden Regelungen immer noch länderspezifische Auslegungen greifen. Beispielsweise gibt es bundesweit einheitliche Abschlüsse, die aber unterschiedliche Namen tragen (so kann der Hauptschulabschluss auch »Erster Schulabschluss« oder »Berufsbildungsreife« heißen). Unterschiedliche Schulformen, hinter denen sich unterschiedliche Systeme verbergen, können denselben Namen tragen (z. B. die Gemeinschaftsschulen), umgekehrt können dieselben Schulformen in unterschiedlichen Bundesländern unterschiedliche Namen haben (in Berlin heißen die weiterführenden Schulen, die sämtliche Bildungsabschlüsse anbieten, Gemeinschaftsschulen, in Hamburg heißen sie Stadtteilschulen).
Hinzu tritt ein weiteres Prinzip, das die strukturelle Rahmung der Schule bestimmt: das sogenannte Subsidiaritätsprinzip. Dieses besagt, dass die übergeordneten Organe insbesondere dort regelnd auftreten, wo die nachgeordneten Organe anstehende Aufgaben nicht selbstständig lösen können, die Zuständigkeit für alles andere jedoch ihnen überlassen wird. Oder anders formuliert: Alle Regelungsbereiche werden auf die jeweils unterste Ebene verschoben, die dem bestehenden Regelungsbedarf nachkommen kann; weiter oben verbleibt nur das, was weiter unten nicht geregelt werden kann.
Die Krisensituation hat allerdings deutlich gemacht, dass große Herausforderungen eines länderübergreifend abgestimmten, koordinierten Handelns bedürfen, ohne dabei die föderale Grundstruktur infrage zu stellen. Damit wurden Regelungsbereiche, die bis dato weiter unten angesiedelt waren, zurück auf höhere Entscheidungsebenen geholt. Dies hat sich einerseits an den Entscheidungen zur Schulschließung gezeigt, andererseits am sichtbar gewordenen Investitionsbedarf in digitale Ausstattung:
• Die Entscheidung, ob Schulen geöffnet blieben oder schließen mussten, wurde im ersten Lockdown weder durch die Einzelschule noch auf kommunaler Ebene getroffen. Vielmehr erfolgte eine Entscheidung durch die Kultusministerien der Länder, die landesweite Vorgaben zu den Schulschließungen trafen, nachdem sich die Ministerpräsidentinnen und -präsidenten mit der Bundeskanzlerin zentral über derartige Maßnahmen verständigt hatten. Dabei blieben regionale bzw. lokale Unterschiede unberücksichtigt, vielmehr galten die Regelungen einheitlich für alle Schulen im jeweiligen Bundesland.
• Vor dem zweiten Lockdown gab es mancherorts lokale Lösungen, in denen beispielsweise in einzelnen Landkreisen entsprechende Verordnungen zur Schulschließung aufgrund besonders hoher Inzidenzzahlen erlassen wurden. Mit dem bundesweiten zweiten Lockdown, der am 16.12.2020 griff, wurde die Entscheidung über die Schulschließung erneut zentralisiert – als Ergebnis einer gemeinsamen Entscheidung von Bundeskanzlerin und Ministerpräsidentinnen und -präsidenten. In der Krise hat also die Notwendigkeit zu einem gemeinsamen, abgestimmten Handeln die föderale Hoheit über Kultusfragen dominiert.
• Auch die allmähliche Wiederöffnung der Schulen war eine länderübergreifende Entscheidung. Die Art der Ausgestaltung wurde allerdings den Ländern überlassen und zum Teil ganz konkret in die Hand der einzelnen Schulen gelegt. So gab es ganz unterschiedliche Konzepte, welche Lerngruppen in welcher Intensität und Häufigkeit in den Schulen lernen konnten und welche überwiegend zu Hause geblieben sind.
• Am deutlichsten wurde die Notwendigkeit für zentrale Steuerungsimpulse auf der Ebene der Versorgung der Schulen mit digitalen Mitteln. Die Corona-Pandemie hat endgültig den Rückstand im Schulsystem mit Blick auf digitale Ausstattung, aber auch digitale Kompetenzen sowohl der Lehrkräfte als auch der Schülerinnen und Schüler verstärkt ins öffentliche Bewusstsein gehoben (vgl. auch Eickelmann et al., 2019). Zugleich wurde aber auch deutlich, dass weder die Schulträger noch die Bundesländer den Rückstand in der Ausstattung würden allein aufholen können. So war es hilfreich, dass bereits im Vorjahr der »DigitalPakt Schule« in Kraft getreten war, in dessen Rahmen der Bund die digitale Ausstattung der Schulen mit 5 Milliarden Euro voranbringen will (BMBF, 2919). Um diesen zu ermöglichen, war zuvor eine Änderung des Grundgesetzes erforderlich, weil ansonsten der Eingriff des Bundes in die Kultushoheit der Länder nicht möglich gewesen wäre.
So wichtig zentrale Abstimmungen in der Krisensituation sind, so sehr sind sie auch mit Risiken behaftet: Konkrete Umsetzungs- und Regelungsfragen stellen sich in der Regel ganz konkret in der Praxis vor Ort: Welche Endgeräte sollen beschafft werden? Wie kann der Distanzunterricht in angemessener Qualität gewährleistet werden? Wie erreicht man die Eltern, um eine häusliche Unterstützung der Schülerinnen und Schüler zu gewährleisten? Auf solche Fragen können zentrale Vorgaben keine Antworten liefern, da sie von Standort zu Standort und je nach konkreter Sachlage unterschiedlich ausfallen müssen. Das heißt, so sinnvoll eine Zentralisierung und Koordinierung unter Krisenbedingungen sein mag, so sehr muss sie Gestaltungs- und Entscheidungsspielräume für die Akteure vor Ort berücksichtigen. Aus den Schulen, aber auch von Eltern, war häufig die Kritik zu hören, dass sie sich in der Krise alleingelassen fühlten und insbesondere die Umsetzung des »DigitalPakts« für sie nicht einfach zu bewerkstelligen war. Im Abklingen der Krisensituation wird es deshalb darauf ankommen, dass für alle Beteiligten die Ebenen der Entscheidung wieder klar getrennt werden und – ganz im Sinne des Subsidiaritätsprinzips – Entscheidungsbefugnisse dorthin (zurück)gehen, wo sie richtig verortet sind – dorthin, wo sie bestmöglich getroffen werden können.
Neben dem Spannungsfeld zwischen föderaler Zuständigkeit und der Notwendigkeit zu gemeinsam abgestimmtem Handeln sind weitere strukturelle Spannungsfelder durch die Corona-Pandemie besonders deutlich zutage getreten, nämlich die Spannung zwischen schulischer Selbstverantwortung und zentraler Steuerung, die Spannung zwischen individueller Freiheit und Erfordernissen der Zeit sowie die Spannung zwischen bestmöglicher individueller Förderung und der Gewährleistung eines Bildungsminimums für alle. Nachfolgend wollen wir ausführen, was genau diese Spannungsfelder bedeuten, woher sie rühren und wie ihnen gegebenenfalls begegnet werden kann.
Das Spannungsfeld zwischen schulischer Autonomie und zentraler Steuerung
Bereits in den 1970er-Jahren kam erstmalig die Idee auf, dass es der schulischen Qualität förderlich sein könnte, wenn man der Einzelschule mehr Verantwortung und eigene Handlungsspielräume zugestehen würde. Tatsächlich umgesetzt wurde sie vor allem seit Beginn der 2000er-Jahre, als Bildungsverwaltung und -politik zunehmend zur Überzeugung gelangten, dass Qualität am besten in genauer Kenntnis der spezifischen Situation vor Ort hergestellt werden könnte (Altrichter & Rürup, 2010). Dadurch konnten Schulen zunehmend eigene Entscheidungen treffen, vor allem in Bezug auf den finanziellen Ressourceneinsatz und die Wahl des Personals. Im Zuge dieser Erweiterung des schulischen Handlungsspielraums hielt zugleich die Vorstellung der Rechenschaftslegung Einzug in den Diskurs um schulische Qualität: Schulen müssen den Nachweis führen, dass sie ihre neue Freiheit in der beabsichtigten Weise nutzen. Dieser Nachweis sollte empirischer Natur sein, weshalb neue Verfahren wie Vergleichsarbeiten oder Schulinspektionen eingeführt wurden. Auch die Rolle der Schulaufsicht veränderte sich dadurch: Die direkte Vorgesetztenfunktion für die Lehrkräfte wurde in die Schulen verlagert, konkret an Schulleitungen und die Mitglieder der erweiterten Schulleitung, die für Beurteilungen und Personalentwicklung zuständig sind, während die Schulaufsicht seitdem lediglich Dienstvorgesetzte der Schulleitungen ist. Damit gewann die Beratungsfunktion gegenüber der Kontrollfunktion von Schulaufsicht mehr an Bedeutung.
Gleichwohl bedarf es nach wie vor zentraler Vorgaben, die in Form von Lehrplänen, Prüfungsordnungen, zentralen Prüfungsaufgaben, Finanzierungsschlüsseln und Ressourcenzuteilungen in die Schulen gegeben werden. Eine Neuerung im Zuge der erweiterten schulischen Autonomie lag vor allem darin, dass die Schulen Nachweise über die Qualität und Wirksamkeit ihrer Arbeit erbringen mussten, weshalb von ihnen auch ein messbares Ergebnis in Form der erreichten Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler verlangt wurde. Deshalb wurden Bildungsstandards eingeführt, also die von den Schülerinnen und Schülern zu einem definierten Zeitpunkt zu erwerbenden Kompetenzen, welche im Rahmen von regelmäßigen Leistungsfeststellungen überprüft werden. Auch durch externe Evaluationen wie die Schulinspektion werden Schulen deutlich stärker als bislang zur Rechenschaft verpflichtet (vgl. Kapitel 3).
Im Zuge der Corona-Pandemie und der damit einhergehenden Schulschließung wurde das Verhältnis zwischen schulischer Autonomie und zentraler Steuerung besonders herausgefordert. So wie auch im Verhältnis zwischen Bund und Ländern scheint sich die Entscheidungshoheit weg von unteren Ebenen (also hier der einzelnen Schule) hin zu zentralen, weiter oben liegenden Entscheidungsebenen verlagert zu haben. Dies betraf vor allem originär pädagogische Fragen der Organisation des Unterrichts. Schulen konnten in der Regel nicht nur nicht selbst entscheiden, ob sie die Schülerinnen und Schüler vor Ort in hybriden Lernformen oder vollständig im Distanzlernen unterrichteten (das war ja, wie oben gezeigt, bereits bundesweit entschieden worden). Sie konnten darüber hinaus in der Regel auch nicht darüber verfügen, wie sie die Schülerinnen und Schüler in unterschiedliche Lerngruppen aufteilen und wen sie in welchem Umfang in die Schule holen. All dies wurde zentral durch die Kultusministerien in Form von Erlassen und Verordnungen geregelt. Versuche, schulindividuelle Lösungen beispielsweise im Rahmen von Schulmodellen oder Modellversuchen durchzusetzen, trafen in der Regel auf großen Widerstand von Bildungsverwaltung und -politik. Auch der Schulaufsicht kam unter diesen Krisenbedingungen wieder eine verstärkt kontrollierende Funktion zu, da sie häufig über Einzelfragen der Beschulung unterschiedlicher Schülergruppen zu entscheiden hatte.
Nicht in zentraler Regelungshoheit lag dagegen – wie auch beim Präsenzunterricht – die Qualität der Ausgestaltung der neuen Lernformen, sowohl im Distanz- als auch im Hybridunterricht; sie blieb weiterhin vor allem Aufgabe der Einzelschule. Zwar bemühten sich die Länder um geeignete Handreichungen, sodass die Lehrkräfte vor Ort etwas hatten, an dem sie sich orientieren konnten. Jedoch war klar, dass diese Empfehlungscharakter hatten und insbesondere nicht verbindlich kontrolliert werden konnten (vgl. Kapitel 3).
Der Gestaltungsspielraum für die Einzelschule wurde somit vor allem in organisatorischen Fragen in der Krise deutlich eingeschränkt. Zugleich entzog sich eine bedeutsame Stellschraube für den Erfolg von Schule dem zentralen Zugriff, nämlich die pädagogische Qualität des neuen Lernens. Dabei dürfte mit Blick auf das Lernen der Schülerinnen und Schüler Vieles davon abhängen, wie gut die Lehrkräfte in der Lage sind, mit den neuen digitalen Mitteln umzugehen und den Unterricht entsprechend qualitätsvoll zu gestalten. Damit wird ein weiteres strukturelles Spannungsfeld sichtbar.
Das Spannungsfeld zwischen individueller Freiheit und Erfordernissen der Zeit
Es war allenthalben sichtbar, dass die wenigsten Schulen hinreichend darauf vorbereitet waren, auf digitale Formen des Unterrichtens umzustellen, oder entsprechende digitale Lernmaterialien zur Verfügung stellen konnten. Zugleich muss anerkannt werden, dass durch die Krise ein enormer Innovationsdruck in die Schulen gekommen ist, da sie von heute auf morgen gezwungen waren, Unterricht anders zu organisieren und dabei neue digitale Möglichkeiten zu nutzen. Im Vordergrund standen vor allem technische und Ausstattungsfragen: Verfügen die Schulen über hinreichend starkes WLAN? Stehen allen Schülerinnen und Schülern digitale Endgeräte zur Verfügung? Auf welcher Lernplattform lässt sich am besten arbeiten? Welche Videokonferenztools funktionieren hinreichend stabil und sind dabei auch noch datenschutzkonform? Weit weniger im Blick waren Fragen einer guten Gestaltung des digital gestützten Unterrichts (vgl. Kapitel 3), noch weniger Fragen der erforderlichen Kompetenzen der einzelnen Lehrkräfte. Zugleich gab es offensichtlich ein deutliches Bewusstsein der Betroffenen, dass ihnen die erforderlichen Kompetenzen nicht oder nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung stehen: Bei der Befragung »Das Deutsche Schulbarometer spezial« gaben 69 % der Befragten an, dass sie an ihrer Schule Verbesserungsbedarf bei den Kompetenzen der Lehrkräfte mit digitalen Lernformaten sehen. Diese Angabe übertraf den eingeschätzten Verbesserungsbedarf bei der technischen Ausstattung oder bei der Entwicklung eines gemeinsamen Verständnisses, wie digitale Formate im Unterricht sinnvoll eingesetzt werden sollen.
So war also die Notwendigkeit, sich im Bereich des Lehrens mit digitalen Mitteln fortzubilden, der Lehrerschaft überwiegend sehr wohl bewusst. Unklar ist allerdings, in welcher Form diese Lücke geschlossen wurde. Hier kommt eine entscheidende strukturelle Bedingtheit der Schule ins Spiel, die den Zugriff auf dieses Entwicklungsfeld deutlich erschwert: Lehrkräfte schöpfen ihre Professionalität zu einem guten Teil auch aus ihrer individuellen pädagogischen Freiheit. Das heißt, auch wenn sie grundsätzlich an Bildungs- und Lehrpläne gebunden sind, dürfen sie selbst entscheiden, wie und in welcher Weise sie die Vorgaben im Unterricht umsetzen. Und sie können in der Regel ebenfalls selbst entscheiden, welche Art und Weise der Fortbildung sie nutzen wollen. Zwar definieren manche Bundesländer wie beispielsweise Hamburg, in welchem zeitlichen Umfang Lehrkräfte sich jährlich fortbilden müssen. Es bleibt aber den Schulen und vielfach den einzelnen Lehrkräften überlassen, welche Fortbildungsangebote sie wahrnehmen wollen. Dementsprechend sind staatliche Fortbildungsangebote bislang überwiegend nachfrageorientiert, das heißt, sie halten solche Angebote vor, die von den Lehrkräften nachgefragt werden. Demgegenüber fordert Priebe (2019) eine deutlich stärker steuernde und normierende Organisation der Lehrerfortbildung. Die vorgehaltenen Schwerpunkte sollten demnach vor allem darauf abheben, was aus Sicht der Steuerungsebene (Bildungspolitik und -verwaltung) zentrale Anforderungen an das Lehrerhandeln sind.
In der Corona-Pandemie würde dies bedeuten, dass einerseits das Angebot an Fortbildungen zu digital gestütztem Unterricht deutlich verstärkt würde. Dies ist tatsächlich geschehen. So hat beispielsweise das Hamburger Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung allein in der Zeit vom 1.8.2020 bis 30.9.2020 920 Angebote vorgehalten, die sich mit digitalen Unterrichtsformen beschäftigen; 12 810 Teilnehmer wurden allein in diesen zwei Monaten erreicht. Zugleich wäre es aber auch erforderlich, dass Lehrkräfte sich verpflichtend an diesen Fortbildungsmaßnahmen beteiligen, will man einen gewissen Qualitätsstandard in die neuen Lehr-Lern-Formen einziehen. Angesichts der pädagogischen Freiheit von Lehrkräften ist dieser steuernde Durchgriff deutlich erschwert, gilt doch die einmal erworbene Lehrerlaubnis als lebenslanger Fähigkeitsnachweis zum Unterrichten. Bei einer repräsentativen Befragung von Lehrkräften zu ihren Wünschen und Bedürfnissen angesichts der Corona-Pandemie fällt auf, dass Fortbildungsangebote keine Rolle zu spielen scheinen (Huber et al., 2020). Vermutlich wäre es ein tiefgreifender Eingriff in die DNA der Schule, wenn Lehrkräfte zu Fortbildungen verpflichtet würden. Langfristig wäre es jedoch sinnvoll, wenn solche Steuerungseingriffe gerade in der Krisensituation neue Interventionsmöglichkeiten zuließen.
Das Spannungsfeld zwischen bestmöglicher individueller Förderung und der Gewährleistung eines Bildungsminimums
Schule steht seit jeher in einem besonderen Zielkonflikt: Einerseits soll sie alle Schülerinnen und Schüler bestmöglich fördern, um ihnen die maximale Entfaltung ihres Potenzials zu ermöglichen. Zugleich soll sie aber allen Kindern und Jugendlichen den Zugang zu einem Mindestmaß an Bildung gewähren, das die selbstbestimmte Teilhabe an der Gesellschaft ermöglicht. Darüber hinaus soll sie verhindern, dass die Schere zwischen leistungsschwachen und leistungsstarken Kindern immer weiter aufgeht; eher sollte sie sich darum bemühen, die Unterschiedlichkeit im Lernen und in der Lernentwicklung zu verringern. Eng damit verbunden ist auch die Aufgabe der Schule, dazu beizutragen, dass sich die Schere in den Lernergebnissen zwischen Kindern mit unterschiedlichem sozialem Hintergrund nicht weiter öffnet (vgl. Kapitel 9). Diese vielfältigen Aufgaben stehen zum Teil im Widerspruch, denn die maximale Potenzialausschöpfung verträgt sich nicht ohne Weiteres mit der Divergenzminderung, d. h. der Verringerung der Unterschiede. Dennoch muss Schule diese Aufgaben zu jeder Zeit bewältigen, auch und besonders in der Krise.
Während der coronabedingten Schulschließungen, aber auch dazwischen, als vor allem hybride Lernformen dominierten, war insbesondere die Sicherung eines Bildungsminimums gefährdet. So berichteten Schulen immer wieder von der Erfahrung, dass es unter den gegebenen Umständen besonders schwierig war, Kinder und Jugendliche aus sozial benachteiligten Familien sowie die leistungsschwächeren Lernenden mithilfe digitaler Mittel zu erreichen. Häufig blieb ihnen nichts als die aufsuchende Familienarbeit, also der persönliche Besuch und die direkte Übermittlung von Lernmaterialien. Auch wurde deutlich, dass diesen Schülerinnen und Schülern zu Hause lernförderliche Bedingungen fehlten: angefangen bei einem ruhigen Lernort, der in kleinen Wohnungen oft nicht gegeben war, über hinreichend zur Verfügung stehende digitale Endgeräte bis hin zur elterlichen Unterstützung, die oft nicht im selben Maß gewährleistet war wie in bessergestellten Familien.
Umgekehrt war immer wieder zu hören, dass leistungsstarke Schülerinnen und Schüler oder solche aus privilegierten Familien vom häuslichen Lernen in ihrer Leistungsentwicklung durchaus profitierten. Einerseits schätzen sie das selbstbestimmte, den eigenen Lernbedürfnissen folgende Lernen, andererseits hatten sie vielfach umfassende Lernbegleitung durch Sorgeberechtigte. Die Vermutung liegt deshalb nahe, dass die Lernspanne zwischen Leistungsstarken und -schwachen durch diese Situation weiter aufgeht, das heißt, Unterschiede im Lernstand sich eher noch vergrößern. Bislang bleibt dies für Deutschland allerdings eine ungeprüfte Hypothese; es bleibt abzuwarten, ob künftige Leistungsüberprüfungen entsprechende empirische Belege dafür liefern können. Inzwischen liegen einige internationale Studien vor, die diese Annahme sehr plausibel erscheinen lassen (vgl. beispielhaft Engzell et al., 2020, sowie Kapitel 9 in diesem Band).
Auch ist zu befürchten, dass eine große Gruppe von Schülerinnen und Schülern leistungsmäßig so weit zurückfällt, dass sie den Anschluss ans Lernen verpasst. Die Gruppengröße derer, die definierte Mindeststandards nicht erreichen, liegt bei allen größeren Studien je nach getesteter Domäne und zugrunde liegendem Kompetenzbegriff zwischen 15 und 25 %, wie die großen nationalen und internationalen Schulleistungsstudien (Bildungstrend, PISA, TIMSS, IGLU) zeigen. Angesichts der über Wochen andauernden fehlenden schulischen Begleitung gerade dieser Kinder und Jugendlichen muss damit gerechnet werden, dass sich ihr Anteil perspektivisch vergrößert.
Ausblick: Was lernen wir aus der Krise?
Wir haben versucht, deutlich zu machen, dass besonders in der Krisensituation in den strukturellen Rahmenbedingungen ganz wesentliche Stellschrauben für die Reaktionsfähigkeit der Schule liegen. Ihnen sollte aber auch eine besondere Aufmerksamkeit zukommen, wenn es darum geht, das Schulsystem nach der Pandemie gut aufzustellen und zukunftsfähig auszurichten. Folgende Aspekte spielen dabei eine besondere Rolle:
• Klare Verortung von Entscheidungsbefugnissen: Das Subsidiaritätsprinzip und der Föderalismus sind zwei Eckpfeiler der Bildungssteuerung. Es ist erkennbar geworden, dass unter Krisenbedingungen diese beiden leitenden Prinzipien in Teilen eingeschränkt werden müssen. Umso wichtiger ist es aber, dass die Voraussetzungen, unter denen solche Einschränkungen zulässig sind, klar beschrieben und definiert sind. Zugleich braucht es ein Verständnis davon, was auf zentralen Ebenen nicht entschieden werden kann, sondern lediglich in genauer Kenntnis der konkreten Situation vor Ort. Und nicht zuletzt: Es braucht einen geregelten Mechanismus, wie nach der Krise die ursprüngliche Entscheidungskonstellation wiederhergestellt werden kann. Die Verletzung geltender Prinzipien darf nur vorübergehender Natur sein; sie darf nur so lange gelten, wie die besondere Situation eine andere Steuerungslogik erfordert.
• Notwendigkeit zur klaren Kommunikation: Angesichts der Reichweite der getroffenen Regelungen und Entscheidungen ist es umso wichtiger, dass alle Beteiligten »im Boot« sind. Schulleitungen, Lehrkräfte, Eltern, Schülerinnen und Schüler, aber auch die breite Öffentlichkeit müssen nachvollziehen können, wer was mit welcher Begründung wie entschieden hat. Steuerungsimpulse bedürfen eines angemessenen zeitlichen Vorlaufs, aber auch einer hinreichenden Nachvollziehbarkeit und Transparenz, damit sie akzeptiert werden, insbesondere dann, wenn sie in bestehende Entscheidungsspielräume eingreifen.
• Klarheit über verfügbare Unterstützungsangebote: Angesichts des bestehenden Handlungsdrucks war es kaum vermeidbar, dass zur selben Zeit an unterschiedlichen Stellen zu denselben Themen und Fragestellungen gearbeitet wurde. Dies war unter den gegebenen Umständen vermutlich nicht immer vermeidbar. Wichtig ist aber, dass zumindest nachholend für alle Beteiligten Klarheit darüber geschaffen wird, welche Handreichungen erarbeitet wurden, welche Konzepte zur Unterstützung der Schulen vorliegen und wo sie sich Hilfe für bestehende Probleme holen können. Dazu gehört auch, dass besonders unter Krisenbedingungen ein Raum geöffnet wird, in dem Schulen miteinander und voneinander lernen können – denn angesichts verschärften Drucks ist es umso weniger sinnvoll, wenn das Rad an mehreren Stellen gleichzeitig neu erfunden werden soll.
• Stärkung der Schulaufsicht: Gerade in der Krise ist die Schulaufsicht das zentrale Scharnier zwischen der Kultusbürokratie bzw. den auf oberster Ebene getroffenen ministeriellen Entscheidungen und der konkreten schulischen Ausgestaltung vor Ort. Den Schulaufsichtspersonen kommt die Aufgabe zu, für Transparenz und Nachvollziehbarkeit der Steuerungsimpulse zu sorgen. Zugleich müssen sie die Nöte und Bedürfnisse der Schulen aufnehmen und weiter transportieren, damit Bildungspolitik und -verwaltung entsprechend darauf reagieren können. All dies bedarf der Fähigkeit zur sensiblen, rollenklaren und standfesten Kommunikation, die den Betroffenen zugleich Loyalität in beide Richtungen abverlangt. Somit stellt sich unweigerlich die Frage, wie die Schulaufsichtspersonen ausgebildet und professionalisiert werden und auf welche Unterstützungsstrukturen sie zugreifen können. Nach unserem Eindruck ist dies auch außerhalb der Krisensituation eine deutlich zu wenig beachtete Stellschraube im System.
• Unterstützung der Schulleitungen: Was auf Systemebene die Bildungsverwaltung leisten muss, muss in der Schule vor Ort die Schulleitung gewährleisten: gute pädagogische und organisatorische Rahmenbedingungen, damit ein gutes Lernen in der Schule gelingen kann. Angesichts der Corona-Pandemie scheint den Schulleitungen allerdings vor allem die Rolle der lokalen »Chief Digital Officers« zugefallen zu sein; sie mussten sich um die WLAN-Ausstattung vor Ort kümmern, um die Beschaffung digitaler Endgeräte, die Bestellung multifunktionaler Präsentationsgeräte etc. Strategische Fragen, insbesondere solche der Qualitätsentwicklung im Distanz- und Hybridunterricht, blieben da häufig auf der Strecke. Für eine nachhaltige Qualitätssicherung und -entwicklung der Schule ist es deshalb umso wichtiger, dass Schulleitungen ihre Rolle als pädagogische Schulmanagerinnen und Schulmanager aktiv wahrnehmen können. Gegebenenfalls bedürfte es dazu einer Entlastung der Schulleitungen, damit sie mehr Raum für die strategische Arbeit bekommen, beispielsweise durch die Einführung administrativer Leitungen.
• Ganzheitlichkeit der Steuerung: Die Lebenswelt Schule ist vielschichtig; es geht nicht allein um schulisches Lernen, sondern um ein Heranwachsen der Kinder und Jugendlichen und eine Entwicklung aller relevanten Dimensionen ihrer Persönlichkeit. Die dafür notwendigen Steuerungsimpulse sind möglicherweise durch den Ressortzuschnitt auf die Kultusministerien nicht angemessen abgedeckt. Beispielsweise sind nahtlose Anschlüsse an die frühe Bildung und die entbürokratisierte Zusammenarbeit mit der Kinder- und Jugendhilfe wichtig, damit die Schule ein umfassendes Entwicklungsangebot vorhalten kann. Perspektivisch sollte deshalb über bestehende Ressortzuschnitte nachgedacht werden.
Damit rückt ins Zentrum, was eine zukunftsfähige Steuerung von Schule braucht: Strukturelle Rahmungen müssen auf allen Ebenen des Mehrebenensystems so klug und intelligent gestaltet werden, dass sie schnell auf Veränderungen reagieren können, dass sie Unterschiede in den Regionen angemessen berücksichtigen, dass sie Freiräume schaffen und gleichzeitig strukturieren und dass sie Orientierung und Unterstützung anbieten, wo es nötig ist. Eigentlich ist dies keine neue Erkenntnis; die Corona-Pandemie hat sie uns nur allzu deutlich vor Augen geführt.