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Die tödliche Falle
Оглавление»Schließlich sollte man die Tricks,
von denen ich gesprochen habe,
dingfest machen, ihnen sehr drastische
Namen geben, sie genau beschreiben,
ihre Implikationen beschreiben und
gewissermaßen versuchen, dadurch die
Massen gegen diese Tricks zu impfen,
denn schließlich will niemand
ein Dummer sein.«
Theodor Adorno (1967)1
»Sich als Opfer zu definieren
ist ein Bestreiten dessen,
was uns zu Menschen macht.«
Jonathan Sacks (2015)2
»Red Alert« – »Alarmstufe Rot«: Dieser Schriftzug springt Ihnen auch heute noch entgegen, wenn Sie die Website http://www.heavensgate.com vom 26. März 1997 aufrufen. An diesem Tag töteten sich die letzten neun Angehörigen der »Klasse«, die durch die Aufgabe ihres Körpers in ein rettendes Raumschiff gebeamt werden wollten. Einen Tag zuvor hatten sich bereits 15 Erwachsene getötet, einen weiteren Tag davor noch einmal 15. So starben insgesamt 39 Menschen innerhalb von drei Tagen, jeweils in einheitlicher, schwarzer Kleidung und mit jeweils 5,75 Dollar in der Tasche. Auf ihren ebenfalls einheitlichen Armbändern stand »Heaven’s Gate Away Team«. Auch der Gründer der Sekte, Marshall Herff Applewhite (1931–1997), befand sich unter den Toten. Einige Woche später suizidierte sich noch ein weiteres ehemaliges Mitglied, das es »bedauert« hatte, nicht beim »Aufstieg« dabei gewesen zu sein. Ein weiterer Suizidversuch ging fehl.3
Die Anhängerinnen und Anhänger der neureligiösen Gemeinschaft glaubten, dass die Erde von einer Verschwörung »luziferianischer« Außerirdischer kontrolliert werde und der Menschheit ein katastrophales »Recycling« drohe. Nur wenige Auserwählte, die in der internen »Schule« über Jahre hinweg ausgebildet worden waren, würden von einem Raumschiff guter Aliens – darunter Jesus – gerettet, das sich im Gefolge des Hale-Bopp-Kometen befinde. Das Aufgeben ihres Körpers sei demnach nur der Schritt hinauf auf »den nächsten Level«. Dieser Glaube führte sie in den Tod.
Wir wollen uns gern einreden, dass hier nur vereinzelte, willensschwache Menschen in eine Art »Gehirnwäsche« geraten und so in den Tod getrieben worden wären. Doch dass Applewhite Philosophie studiert und an einer Hochschule Musik gelehrt hat, dass kluge und gebildete Mitglieder der Gruppe zuletzt durch das Programmieren von Websites Geld verdient haben, verunsichert uns. Der Religionswissenschaftler James Lewis bemerkte schon 2003 in einer Studie zu Heaven’s Gate: »So lange eine neue Religion die Sorgen ihrer Follower anzusprechen vermag, werden selbst Dinge wie eine fehlgeschlagene Prophezeiung oder offensichtliche Heuchelei ihres Anführers keine Glaubenskrise auslösen. [...] Es war daher ein relativ kleiner Schritt für Applewhite, einen Gruppensuizid zu begründen.«4
Aber so etwas, so werden wir uns vielleicht trösten, kann doch sicher nur in den USA oder anderen weit entfernten Gesellschaften geschehen.
Wirklich? Zwischen 1994 und 1997 ermordeten und töteten sich in insgesamt vier Gruppen insgesamt 74 Anhängerinnen und Anhänger des »Sonnentempler«-Ordens in der Schweiz und in Kanada. Eltern nahmen Kinder mit in den Tod. Zu den Mitgliedern der überaus wohlhabenden Gemeinschaft zählten Arzt- und Unternehmer-, Bürgermeister- und Musikerfamilien ebenso wie Polizisten. Presseberichte, Ermittlungen und sogar zeitweilige Verhaftungen hatten die Mitglieder auch nach dem Suizid ihres Anführers nicht davon abhalten können, gruppenweise ihre »Reise in die Ewigkeit« anzutreten. Auslöser der Mord- und Selbstmordserie war der Verschwörungsglaube des Sektengründers, der in seiner Tochter den Messias und in einem anderen Jungen den »Antichristen« erkannt haben wollte.5
Mit ungezählten Toten rasten im 20. Jahrhundert auch politische Bewegungen in den kollektiven Suizid. Noch 1926 hatte sich zum Beispiel der sowjetische Gewerkschaftsführer Michail Tomski an der Kampagne Stalins gegen dessen – später in Mexiko ermordeten – Rivalen Leo Trotzki (1879–1940) beteiligt. Ein Jahr später hatte Tomski in der »Prawda« (»Die Wahrheit«) noch launig erklärt, dass »unter der Diktatur des Proletariats zwei, drei oder vier Parteien existieren können, aber unter der einen Bedingung: dass eine von ihnen an der Macht und die anderen im Gefängnis sind«. Doch später wurde auch er selbst samt »Mitverschwörern« im Namen der Partei verhaftet, gefoltert und ermordet.6
Schon bis 1938 waren fast alle Gründungskader der Kommunistischen Partei, Abertausende einfache Parteimitglieder aller Ebenen und mehr als 10.000 Offiziere der Roten Armee dem Verschwörungsglauben, dem Terror von Säuberungen, Folterungen und gegenseitigen Beschuldigungen sowie erzwungenen Suiziden zum Opfer gefallen.7 Traurige Mytho-Logik, dass Stalin nach dem »antifaschistischen« Sieg über das Hitler-Reich ebenfalls zunehmend zum Antisemitismus griff, Juden öffentlich anprangern und wegen einer angeblichen »Ärzteverschwörung« inhaftieren ließ.8
Von Adolf Hitler wird in diesem Buch noch öfter die Rede sein. Auch er trieb Millionen in den Tod und nahm sich schließlich feige selbst das Leben – nicht ohne zuvor noch die vermeintlichen jüdischen Weltverschwörer für den von ihm selbst aktiv befeuerten Krieg und den Holocaust verantwortlich zu machen. In seinem politischen Testament schrieb er: »Es werden Jahrhunderte vergehen, aber aus den Ruinen unserer Städte und Kunstdenkmäler wird sich der Haß gegen das letzten Endes verantwortliche Volk immer wieder erneuern, dem wir das alles zu verdanken haben: dem internationalen Judentum und seinen Helfern!«9 Dass heute ein libertärer Antisemit wie Tilman Knechtel auch in deutscher Sprache unter großem digitalen Zuspruch verkündet, die jüdische Familie Rothschild habe beide Weltkriege, das NS-Regime und den Holocaust entfesselt, um die Gründung des Staates Israel zu erzwingen, erschüttert mich sehr. Denn Knechtel ist nicht nur in der gleichen Stadt wie ich geboren, sondern hat mit vielen anderen genau die politische Weltanschauung vergiftet, die auch mich prägte – den Liberalismus.10 Die in meiner Jugend noch beliebte »Hufeisen«-Theorie, nach der Verschwörungsglaube nur auf der politischen Rechten und Linken vorkomme, betrachte ich inzwischen als widerlegt.
Als Mitgründer einer christlich-islamischen Gesellschaft und als christlicher Ehemann einer sunnitischen Muslimin ist die Auseinandersetzung mit Rassismus und verschwörungsmythischer Islamfeindlichkeit für mich und uns Alltag. Seit 2015 wurde ich als Leiter des baden-württembergischen Sonderkontingents für besonders schutzbedürftige Frauen und Kinder im Irak mit einer weiteren politisch-religiösen Terror- und Selbstmordsekte konfrontiert: dem selbsternannten »Islamischen Staat« (IS). Gemeinsam mit unseren kurdisch-irakischen Verbündeten konnten mein Team und ich 1.100 vor allem ezidische Frauen und Kinder, die Opfer des IS geworden waren, aus dem Kriegsgebiet ausfliegen.11
Unser leitender Psychologe Jan-Ilhan Kizilhan befragte Gefangene des IS und veröffentlichte ein Buch über die »Psychologie des IS«.12 Denn so bizarr es auch klingen mag: Auch beim IS handelt es sich um eine messianisch-apokalyptische Sekte, die auf der Basis alter Prophezeiungen darauf hofft, dass Jesus an ihrer Seite in die Schlacht ziehen und die Erde von allen »Ungläubigen« reinigen werde. Konfrontiert mit vielen Fragen gerade auch befreundeter Musliminnen und Muslime dazu, konnte ich 2017 in einem Buch Gründe des Zerfalls der einst so großen islamischen Zivilisation analysieren.13 Am 15. Juni 2020 sagte ich schließlich als Sachverständiger vor dem Oberlandesgericht Frankfurt über die mörderische und selbstmörderische Ideologie des IS aus.
2018 wurde ich auf Vorschlag der jüdischen Landesgemeinden von Landesregierung und Landtag Baden-Württembergs als erster deutscher Regierungsbeauftragter gegen den wiedererstarkenden Antisemitismus berufen. Seitdem begegne ich gemeinsam mit meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dem Verschwörungsglauben buchstäblich täglich, und in Hunderten Veranstaltungen und Interviews habe ich immer tiefere Fragen zu beantworten. Als im März 2019 mein Buch »Warum der Antisemitismus uns alle bedroht«14 erschien, gab es noch Stimmen, die vor »Alarmismus« warnten. Doch nachdem die antisemitische Terrorserie gegen Synagogen und Moscheen im Oktober des gleichen Jahres Halle erreicht hatte, ging endlich ein Ruck durch die Politik.15
Entsprechend kamen die Verschwörungs-Reaktionen auf die Covid-19-Pandemie leider nicht überraschend. Schon im Januar 2020 breiteten sich im deutschsprachigen Netz Beschuldigungen aus, wonach der jüdische Holocaust-Überlebende und Milliardär George Soros das Coronavirus als »Biowaffe« zur Dezimierung der Menschheit entwickelt habe.16 Nachdem die Pandemie zumindest in Deutschland zunächst gestoppt werden konnte, änderte der Verschwörungsmythos nur seinen Vorwurf, nicht sein Ziel: Nun hieß es, eine jüdisch dominierte Verschwörung von Soros, den Rothschilds und Bill Gates wolle durch das Vortäuschen einer Gefahr eine Weltregierung der NWO – der »Neuen Weltordnung« – errichten.17
Oft werde ich gefragt, warum ich angesichts der täglichen Konfrontation mit Hass und Verschwörungsglauben sowie den daraus folgenden Zerstörungen nicht an der Menschheit verzweifeln würde. Doch mit Hans Rosling und weiteren Forschenden wie Steven Pinker, Gerd Koenen sowie Edith Eger sehe ich trotz allem Terror, Elend und neuen Gefahren insgesamt doch einen deutlichen Fortschritt: Noch nie konnten so viele Menschen lesen und schreiben; die Kindersterblichkeitsraten und Anteile der Kriegstoten sanken, während die Lebenserwartung stieg; zugleich bremsen fallende Geburtenraten das Bevölkerungswachstum.18 Und wann in der Geschichte haben denn demokratisch gewählte Regierungen andersgläubige Frauen und Kinder aus den Fängen von Terrorgruppen evakuiert, Beauftragte gegen Antisemitismus eingesetzt und Gerichtsverfahren gegen internationale Terrorgruppen unterstützt? Wann in der Geschichte versammelten sich weltweit Millionen, um gemeinsam gegen Rassismus einzustehen, so, wie wir es heute erleben? Zudem hat die Erforschung – und damit auch die Bekämpfung – von Verschwörungsglauben, Antisemitismus und sogenannter »gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit« in den vergangenen Jahrzehnten enorme Fortschritte gemacht.
Schon 1951 veröffentlichte Hannah Arendt (1906–1975) ihr Buch »Origins of Totalitarianism«, in dem sie beschrieb, warum die Gefolgschaft von Tyrannen gern belogen werden möchte. 1965 brachte der Historiker Richard Hofstadter (1916–1970) nach langer Vorarbeit das inzwischen legendäre Buch »The Paranoid Style in American Politics« heraus, in dem er aufzeigte, wie Verschwörungsdenken Demokratien bedroht. Und 1967 hielt Theodor Adorno (1903–1969) in Wien den berühmten Vortrag »Aspekte des neuen Rechtsradikalismus« – der so »fresh« ist, dass er 2019 neu aufgelegt wurde.19 Seitdem sind Hunderte von weiteren, meist weiterführenden Studien und Büchern zum Thema erschienen.
Die Vorstellung, man könnte immer nur »Alarm!« schreien und mit Antisemitismus-Vorwürfen um sich schlagen, ist nicht nur unrealistisch, sondern würde massiven Schaden verursachen. Um es mit der ewigen Erkenntnis von Admiral Ackbar aus »Star Wars« auszurufen: »It’s a trap!« – »Es ist eine Falle!«
Statt Verschwörungsgläubigen in den Abgrund zu folgen, plädierte schon Adorno zu Recht darauf, die psychologischen und medialen Mechanismen hinter dem Verschwörungsglauben genau zu erkennen und aufzudecken und dadurch »eine gewisse Entgiftung« zu erreichen.20
Denn wir selbst – in den Medien, der Politik, den Wissenschaften, der Öffentlichkeit – füttern derzeit noch zu oft die Falle. Solange wir ihre Fixierungen und immergleichen »Tricks« nicht durchschauen, belohnen wir Verschwörungsverkünder, indem wir ihnen buchstäblich nachlaufen und schenken, was sie zum Mächtigwerden brauchen: unsere Aufmerksamkeit. Und wir entziehen diese damit den Millionen Vernünftigen, Leisen, Konstruktiven, mithin auch den tatsächlich Wissenden und Weisen.
In den Worten des Philosophen Hans Blumenberg (1920–1996): »Wer das handelnde Subjekt der Geschichte ist, wird nicht entdeckt oder bewiesen; das Subjekt der Geschichte wird ›ernannt‹.«21 Und es war mittels Internet und sozialen Medien noch nie so leicht wie heute, sich durch gezielte Provokationen Aufmerksamkeit zu verschaffen und durch Polarisierung die eigene Gefolgschaft zu vergrößern und an sich zu binden. Dieses Buch will solche Mechanismen aufzeigen. Dazu gehe ich in drei Kapiteln vor.
In Kapitel 1 werde ich »Platons Falle« aus der Perspektive der Hirnforschung und der Ideengeschichte beschreiben. In Kapitel 2 geht es um die Gründe dafür, warum wir alle schon als Kinder rassistische, antisemitische und sexistische Mythen verinnerlicht haben – und wie zum Beispiel Hitler »Mitläufer« erzeugen konnte. In Kapitel 3 werde ich mit Edith Eger argumentieren, dass die Überwindung von falschen Schuldgefühlen und Verschwörungsglauben zwar mühsam ist, aber Freiheit für eine bessere Zukunft schenkt.
In der Presse ist vielfach von »Verschwörungstheorien« die Rede. Der Begriff ist nicht korrekt und zu viel der Ehre für das, worum es geht. Theorien sind wissenschaftlich überprüfbare Erklärungen, und das sind Verschwörungsfantasien gerade nicht. Verschwörungsmythen sind genau das: Mythen. Ihre vermeintliche Glaubwürdigkeit stammt nicht aus wissenschaftlichen Verfahren, sondern aus schierer Verbreitung und lediglich gefühlter Plausibilität.
Viele von uns sitzen unterschiedlich tief in »Platons Falle« des Verschwörungsglaubens und des Dualismus. Und sie wird, daran kann leider kein Zweifel bestehen, auch in Zukunft noch Leben zerstören. Aber die Menschheit ist dabei, aus dieser Falle herauszufinden – umso schneller, je mutiger und neugieriger wir sind. Denn – um diese Einleitung mit den letzten, tiefen Sätzen aus Adornos Vortrag enden zu lassen –: »Wie diese Dinge weitergehen und die Verantwortung dafür, wie sie weitergehen, das ist in letzter Instanz an uns. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.«22
Dr. Michael Blume
20. Juni 2020