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Der Mensch »als armes oder reiches Wesen«

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Hier nun aber lauert sie, die große Falle. Denn wie Blumenberg richtig bemerkt hat, lässt sich nach diesen Erkenntnissen die gesamte Diskussion über das Leben des Menschen »auf eine Alternative reduzieren: der Mensch als armes oder reiches Wesen«.38

Wenn Menschen »arme« Wesen sind, dann haben sie keinen Zugang zur Wahrheit. Genau das ist die Aussage des mächtigsten Mythos des griechischen Philosophen Platon (428–348 v. Chr.), bekannt als »Höhlengleichnis«. In diesem Gleichnis sind die Menschen in einer unterirdischen Höhle festgebunden und können nur Schatten sehen, die ihnen von Gauklern mithilfe eines Feuers an eine Wand getrickst werden und die sie für die Dinge selbst halten. Erst wenn ein Mensch befreit wird und die Höhle verlässt, kann er das Licht und die Dinge sehen, wie sie in Wahrheit sind. Dementsprechend führt der Platonismus zu einem Misstrauen gegen andere Menschen (Gaukler und Irreführer!), gerade auch gegen Wissenschaften mit ihrem Anspruch auf Objektivität. Hoffnung könne dagegen nur ein erleuchteter Lehrer, ein Befreier, ein Messias stiften, der den Menschen der Täuschung entreißt.39

Platon legte das Höhlengleichnis seinem Lehrer Sokrates (469–399 v. Chr.) in den Mund, sah ihn aber noch nicht als Befreier aus der Höhle. Er empfahl, eine Staatsform anzustreben, in der »der Stand der Philosophen zur Herrschaft über den Staat« gelange. Da die Menschen jedoch noch in der Höhle gefangen seien, bedürfe es dazu eines Führers in die Freiheit: »Es braucht aber nur ein einziger zu erstehen, so wird er, wenn er über einen folgsamen Staat verfügt, imstande sein, alles das zu verwirklichen, was man jetzt für unglaublich hält.«40

Platons Mythos von den durch Täuschung und Ketten im Dunkel der Höhle Gefangenen wird zum Ur-Verschwörungsmythos für die abendländisch-westlich Gebildeten – er ist es bis heute. Das Höhlengleichnis erklärt mytho-logisch zugleich die Sehnsucht nach einem erlösenden Führer, die »Tyranno­philie«.41

Einen »reichen« Menschen sah Blumenberg dagegen exemplarisch im römischen Redner Cicero (106–43 v. Chr.), der »vom möglichen Wahrheitsbesitz« ausgehe.42 In dem Fall macht das Forschen und Reden in Gemeinschaften Sinn, und andere – auch Andersdenkende – können zu Wegbegleitenden werden. Dann können uns sowohl wissenschaftliche Beobachtungen und mathematische Formeln als auch menschliche Mythen Schritt für Schritt der Wahrheit näherbringen. In den Worten von Cicero: »So kommt es, dass durch eine bildhafte und plastische Vorstellung Dinge, die nicht sichtbar und dem Urteil des Gesichts entzogen sind, auf solche Art bezeichnet werden, daß wir etwas, daß wir durch Denken kaum erfassen können, gleichsam durch Anschauung behalten.«43 Lehrer, Befreier, Erlöser wären in dieser Hinsicht gar nicht ausgeschlossen, müssten ihre Verkündungen aber an der Wahrheit selbst überprüfen lassen. Sie wären Wegbegleiter, aber nicht die buchstäblich »letzte Hoffnung« in einer von Täuschungen und Verschwörungen beherrschten Welt.

Die enorme Tragweite dieser scheinbar kleinen Unterscheidung von »arm« und »reich« verdeutlichte Blumenberg am Begriff »Konsens« des ebenfalls griechischen Philosophen Aristoteles (384–322 v. Chr.). Ein Konsens in einer Gruppe »arm« gedachter Menschen könne letztlich nur auf die sofortige und völlige Befreiung aus der Höhle (bzw. Aufdeckung der Weltverschwörung) hinauslaufen. Auf den Pfaden des Platonismus gelte: »Das Programm der Philosophie gewinnt oder verliert, aber es wirft keinen Ertrag auf Raten ab.«44 In der platonischen Verschwörungsmythologie gibt es keine Teilerfolge, es geht immer ums Ganze. Laut Hans Küng entstanden aus der Verschmelzung des »mittleren Platonismus« mit jü­dischen, christlichen und iranisch-dua­listischen Mythen unzählige Traditionen vermeintlicher Geheimlehren. Die Gnosis (griechisch: Erkenntnis, Wissen) schwoll zu einer »verbreiteten religiösen Denkform, Haltung und Stimmung« an, die von sich behauptete, den »Ursprung des Bösen« und den »Weg zur Erlösung« durch geheime, auch magische »Erkenntnis« weisen zu können. Dazu gehörten wiederkehrende Sehnsüchte nach einem befreienden »Erlöser, Befreier, Offenbarer, Boten«.45 Bis heute strahlen gerade auch aus Deutschland unzählige Varianten der Esoterik, Homöopathie, Theo- und Anthroposophie weltweit aus, nicht selten verbunden mit Skepsis gegen Wissenschaften und Schulmedizin sowie leider oft mit Rassismus und Antisemitismus.46

Dagegen könne, ja müsse der Konsens »reich« gedachter Menschen durch die Einbeziehung immer neuer Perspektiven Generation für Generation weiterentwickelt werden. »Der entscheidende Unterschied besteht in der Dimension der Zeit.«47 Wo die vermeintlich angeketteten Menschen in ihrer Höhle unter wachsendem Zeit- und Krisendruck der möglichst schnellen Befreiung durch einen Lehrer und Anführer zu »Erwachten« und »Wissenden« (griechisch: Gnostikern) harren, gelte für »reiche« Menschen: »Wissenschaft kann warten«.48 Was heute noch nicht entdeckt wird – vielleicht noch gar nicht entdeckt werden kann –, kann eben durch die nächste Generation erkundet werden, solange sich ausreichend »reiche«, also forschende und redende Menschen dazu finden. Wo erkenntnistheoretisch »arme« Menschen eine Höhlenwand wahrnehmen, schreiten blumenbergsch »reiche« Menschen in eine offene Zukunft. Es ist offensichtlich, dass in diesem Sinne »arme« Menschen anfälliger für Schwarz­weißmalereien, umfassende Heilsversprechen und schnelle Lösungen sind als »reiche«, die sich ein differenziertes Bild der Lage verschaffen können und wollen.

Tatsächlich warnte der große römische Rhetoriker Cicero vor der zerstörerischen Macht der unregulierten griechischen Volksversammlungen, vor »den unüberlegten Willensäußerungen einer sitzenden Menge«. Dies habe es Agitatoren erlaubt, das Publikum in stundenlangen Reden aufzuhetzen, und Griechenland »zugrundegerichtet«. Denn sie beschlossen »unnötige Kriege«, setzten »aufwieglerische Gesellen an die Spitze der Regierung« und »schickten ihre verdientesten Mitglieder in die Verbannung«. Im Gegensatz zu dieser zerstörerischen Hetze hätten die tradierten Regeln Roms »in ihrer Weisheit und Besonnenheit« das Stehen auf dem Forum – und damit die Begrenzung der Redezeit – sowie das mehrtägige Aushängen von Anträgen vor der finalen Abstimmung vorgeschrieben.49 Cicero plädierte also für das, was wir Heutigen republikanische Gewaltenteilung, Zeit für parlamentarische Lesungen und Debatten sowie wissenschaftliche Begutachtung nennen.50

Platon beschrieb seinen Lehrer Sokrates im Höhlengleichnis als »arm«: Er habe die Gefangenen-Situation zwar erkannt, sei aber noch nicht der Befreier gewesen. Im Hintergrund dieser bitteren Schilderung stand, dass Sokrates durch einen Mehrheitsbeschluss zum Tode verurteilt worden war und eine Flucht aus Athen verweigert hatte. So verband sich der Platonismus von Anfang an mit Demokratieverachtung und unterdrückten Gefühlen von Schuld und Wut.

Cicero dagegen schilderte sich weder als ersten noch als letzten Erkennenden, sondern schlicht als einen, der aus der Vergangenheit schöpfte, um eine bessere Zukunft zu entwerfen. Wahrheit erschließe sich Stück für Stück in aufsteigender Zeit und wachsender Gemeinschaft – was letztendlich allen zugutekomme. Die Philosophin Martha Nussbaum fasste diesen erkenntnistheoretisch optimistischen und Menschen als »reich« achtenden Gedanken im Schlusssatz ihres Cicero-Buches deshalb in dem Satz zusammen: »Die Tore der kosmischen Stadt müssen sich allen öffnen.«51

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