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Monismus versus Dualismus im Judentum
ОглавлениеWenn der Unterschied zwischen dem Denken in der Haltung eines »armen« Verschwörungsopfers oder einer »reichen« Mitentdeckerin der Wahrheit aber tatsächlich auf unsere Gehirnfunktionen zurückgehen sollte, dann sollte dieser Gegensatz nicht nur in der griechisch-römischen Philosophie aufgetreten sein.
Und tatsächlich finden wir ihn als Gegensatz zwischen Monismus und Dualismus auch in den semitischen Religionen. Rabbi Lord Jonathan Sacks wies darauf hin, dass es bis ins zweite Jahrhundert nach Christus jüdisch-dualistische Gruppen gegeben habe, die die Lehre von den »zwei Welten« (hebräisch: shtei reshuyot) von einem verschwörerischen Weltreich und der eigenen Heiligkeit gelehrt hätten. Selbst die Gottesdienste anderer Juden, geschweige denn anderer Völker, seien damit als Auswüchse eines täuschenden Gegengottes, eines satanischen Demiurgen, abgetan worden. Die frühen Rabbinen seien dagegen eingeschritten, indem sie schon das Morgengebet strikt monotheistisch und monistisch gestaltet und jede Vorstellung eines Teufels als Gegengott verworfen hätten.52
So heißt es im täglichen jüdischen Morgengebet bis heute: »Wahrhaftig, Du bist der Erste, und Du bist der Letzte, und außer Dir gibt es keinen Gott. Sammle ein die Zerstreuten, die sich nach Dir sehnen, aus den vier Winkeln der Welt. Lass alle Menschheit erkennen und wissen, dass Du allein Gott bist über alle Königreiche auf der Erde.«53
So konnte sich im rabbinischen Judentum zusätzlich zum Gedanken der eigenen Erwählung eine Wertschätzung nicht nur von Wissenschaften, sondern auch des biblischen Noahbundes als »Tora für die Völker« entfalten. Schon im zweiten Jahrhundert nach Christus bekräftigte Rabbi Meïr, dass ein Nichtjude, »der sich mit der Tora beschäftigt, wie ein Hohepriester« gelte.54
Entsprechend kombinierte der jüdische Gelehrte und Arzt Maimonides (1136–1204) das biblische Wort von der »Ebenbildlichkeit« des Menschen in Gott und die aristotelische Konsens-Philosophie zur Lehrpflicht für alle Menschen: Menschen seien verpflichtet, in jedem Kind – unabhängig von Geschlecht, Religion, Hautfarbe o. Ä. – die von Gott her angelegte Vernunft und weitere Potentiale zu entfalten.55 Der Buchtitel »Führer der Unschlüssigen« präsentiert dabei den Führer gerade nicht als Feinde vernichtenden Erlöser, sondern als Lehrer und Begleiter auf der gemeinsamen Suche nach weiterer Wahrheit.
Diese biblisch-semitische Lehre des Maimonides vom wahrhaftig »reichen« Menschen übernahm wiederum der christliche Gelehrte und bewusst in deutscher Volkssprache predigende Meister Eckhart (1260–1328); er schuf so das vielleicht mächtigste und wichtigste Wort des Deutschen: Bildung.56 Hier haben – oder besser: hatten – wir also eine nicht-platonische, monistische Mystik, die Wahrheit nicht als Esoterik (Geheimwissen) in einer verschwörerischen Welt verstand, sondern als bereits im Moment der Geburt angelegten Schatz in jedem Menschen.
Sogar die Gefahren des Denkens und Forschens wurden bereits in der frühen rabbinischen Auslegung der Bibel diskutiert. Im Babylonischen Talmud wird die Geschichte vom »Pardes« überliefert: Vier große Gelehrte betraten den Paradiesgarten, wo die Schekina, die göttliche Weisheit, ihren Wohnsitz hat. »Ben Azzai sah sie und starb. Ben Zoma verlor den Verstand, Ben Abuja seinen Glauben. Nur Rabbi Akiba trat in Frieden ein und verließ den Garten in Frieden.«57
Interessanterweise entdeckte auch der Holocaust-Überlebende und Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel (1928–2016) in dieser mythologischen Geschichte parallel zu Blumenberg das Geheimnis der Zeit. Nur Rabbi Akiba habe sich selbst »in Frieden« ausreichend Ruhe und Abstand gegeben und seine Gefährten noch vor zu schnellen Schlüssen und also »Lügen« zu warnen versucht. Doch die Gefährten hätten – gewissermaßen platonisch – sofort die ganze Wahrheit erfassen, alles auf einmal entdecken wollen. In den Worten Wiesels: »Alle wollten zu schnell gehen. Sie vergaßen, daß der menschliche Rhythmus für die Menschen zugleich Hindernis und Zuflucht bedeutet. Wer ihn durchbricht, läuft Gefahr, zu fallen.«58
Für den bekannten Rabbiner und Kabbalisten Adin Steinsaltz (geb. 1937) bleibt der menschliche Geist im Leben an die Materie und also an die Naturgesetze gebunden. »So weit sich auch das Denken von der sogenannten Realität gelöst und getrennt haben mag, so gehört es doch noch immer zur Welt der Tätigkeit.«59 Genau diese Freiheit zwischen den materiellen und geistigen Welten zeichne den Menschen auch im Gegensatz etwa zu den Engeln aus. Der Mensch könne also sowohl Gutes wie Böses tun – und zu diesem in beide Richtungen möglichen Tun gehöre auch das Denken und Unterscheiden. »Es ist diese Fähigkeit, die es ihm ermöglicht, zu großen Höhen aufzusteigen, und umgekehrt die Möglichkeit schafft, zu versagen und auf die schiefe Bahn zu geraten.«60
Nach jüdischer Lehre können sich also Menschen in der platonischen Höhle des Verschwörungsglaubens selbst verfangen. Laut Lord Sacks ist »es nicht schwer, zu sehen, wie eines zum anderen führt«, denn aus platonischen und generell dualistischen Lehren folge: »Gute Dinge unterbleiben, weil sie jemand verhindert: der Teufel, Satan, der dunkle Prinz, der Böse, Luzifer, der Antichrist. Hier ist nicht Theologie am Werk, sondern eine grundlegende Struktur des Denkens.«61
Dies sei auch der Grund dafür, so Sacks, dass es selbst unter »Deutschlands herausragenden Denkern« Unterstützer des Nazismus gegeben habe, darunter »der Bibelgelehrte Gerhard Kittel, der Philosoph Martin Heidegger und der Rechtswissenschaftler Carl Schmitt«.62
Der August Bebel (1840–1913) zugeschriebene Satz »Antisemitismus ist der Sozialismus der dummen Kerls« würde demnach die Gefahren des Verschwörungsglaubens noch deutlich unterschätzen: Gerade auch hochgebildete Intellektuelle könnten sich selbst in ein dualistisches Weltbild eingraben, in dem sie von bösen Weltverschwörern an der Erkenntnis der Wahrheit gehindert würden und aus dem sie nur durch einen tyrannischen Erlöser befreit werden könnten.63 Und diesen Weg in ein – gern auch gelogenes – Freund-Feind-Denken beschrieb Hitler, und er fand bereitwillige »Mitdenker« bis in höchste Gelehrtenkreise hinein.