Читать книгу Die Sanduhr in meinem Kopf - Michael Bohm - Страница 12
ОглавлениеMein Bild von Roxane
Die Prinzessin aus der Wüste
Roxane.
Ich habe Roxane gesehen. Das war vor zwei Tagen. Mir gelingt es nicht, ihr Bild festzuhalten. Sie widersetzt sich dem Stift, erst recht dem Pinsel, will sich partout nicht auf Papier oder Leinwand sehen.
Seit dem flüchtigen Moment im Mark Twain hat sie mein Herz in der Hand und sitzt in meinem Kopf. Was hat sie dagegen, dass ich sie malen will? Wer ist sie überhaupt?
Roxane?
Auf den ersten Blick habe ich sie erkannt. Da kann sie noch so schnell geflohen sein. Natürlich hat sie mein Erstaunen bemerkt, und gewusst, was es bedeutete.
Ich werfe den Stift auf den Holzboden, sodass er bis auf Kniehöhe wieder hochspringt. Es ist eine Mischung aus Zorn und Verzweiflung, die mich so heftig werden lässt.
Spontan lasse ich alles stehen und liegen, eile hinüber ins Seniorenheim, finde den Professor im Café. Dort sitzt er meist, mit einem Buch oder einer Zeitung, immer alleine, immer mit einer leeren Tasse Kaffee vor sich.
»Herr Professor, erzählen Sie mir von Roxane«, fordere ich mehr als ich bitte gleich nach meinem Gruß.
»Schau ins Internet, mein Junge.«
»Ach, das Internet. Ich traue ihm nicht. Sagt es mir die Wahrheit, so wie Sie es tun werden?«
Er macht eine Bewegung mit der Hand, bietet mir den Platz ihm gegenüber an. Also setze ich mich, sehe den weißhaarigen, hageren alten Mann an.
»Wie kommst du auf Roxane, Simon?«
»Ich habe sie getroffen, Professor.«
»Roxane ist seit ungefähr 2300 Jahren tot. Wo willst du sie getroffen haben?«
»Vor zwei Tagen im Mark Twain.«
»Sie hat gesagt, sie sei Roxane? Das ist ein Name, Simon. Aber ich gebe zu, viele Frauen heißen nicht so.«
»Machen Sie sich nur lustig, Professor. Sie hat nicht mit mir gesprochen. Ich habe sie angesehen und sofort erkannt.«
»Woher willst du Roxane kennen?«
»Vom Fresko in der Villa Farnesina in Rom.«
»Und sie ist dir entwischt und du möchtest sie wiedersehen?«
»Natürlich möchte ich sie wiedersehen. Das ist aber nicht das Problem.«
»Sondern?«
»Ich habe versucht, sie zu zeichnen, auch auf die Leinwand zu bringen. Immer wenn ich glaube, sie vor Augen zu haben, entzieht sie sich, verschwindet in einem Dunst. Ich bekomme es einfach nicht hin. Was ich auf dem Papier sehe, das ist sie nicht.«
»Diese Schwierigkeiten sind dir doch nicht neu.«
»Das hier ist was anderes. Sie hat meinen Stift und den Pinsel störrisch gemacht.«
»Und was versprichst du dir davon, wenn ich dir von Roxane erzähle?«
»Dass sich dadurch der Zauber löst und ich sie malen kann.«
»Du bist ein Spinner, Simon.« Der Professor lächelt mich an. »Wer Roxane war, weißt du?«
»Die Frau von Alexander dem Großen. Sie stammte aus dem heutigen Afghanistan.«
»Das ist doch schon mehr als nichts. Gut«, sagt er, »höre also:
Roxane war eine baktrische Prinzessin, die Tochter des Fürsten Oxyartes. Andere Quellen sagen, sie sei eine Tochter des Perserkönigs, der Name fällt mir gerade nicht ein, gewesen, der sie
Alexander als Friedensangebot zugeführt haben soll. Es gibt viele Geschichten um Roxane. Neben der Gattin des persischen Großkönigs nannte man sie die schönste Frau der damaligen Welt. Auch gibt es die krude Geschichte, sie habe versucht,
Alexander zum Islam zu bekehren. Zu dieser Zeit lag der Islam noch in weiter Ferne.
Zu stimmen scheint, dass Roxane nicht allein sehr schön war, sondern auch klug. Ihr Name bedeutet Morgenröte oder auch die Strahlende.
Alexander, der noch nicht der Große war, befand sich auf seinem Weg nach Indien. Als der Heerzug immer näherkam, brachte der Fürst seine Familie, also auch Roxane, in einer Felsenburg in Sicherheit, die als uneinnehmbar galt. Doch Alexander ließ sich keine Hindernisse in den Weg legen. Auch Roxane wurde seine Gefangene.
Und hier werden nun zwei Versionen berichtet: Als der Eroberer die schöne, junge Frau erblickte, verliebte er sich auf der Stelle, besagt die eine. In der anderen sah Alexander Roxane mit einem Kreis junger Frauen ihm zu Ehren auf einem Fest, das ihr Vater für den Sieger gab, tanzen.
Wie auch immer, Alexander heiratete Roxane schon bald, nachdem er sie gesehen hatte. War es eine Liebesheirat, wie erzählt wird? Oder wurde die Ehe aus politischem Kalkül geschlossen? Wer kann das sicher sagen, kein Epos schreibt Genaueres.
Übrigens am Rande: Marco Polo hat in seinem Reisebericht geschrieben, auf seinem Weg nach China die Stadt Baktra besucht zu haben. Er hat die Ruinen des Palastes gezeigt bekommen, in dem die Hochzeit gefeiert worden sein soll. Der Mongolenführer Dschingis Khan hatte die Stadt dem Erdboden gleich gemacht.
Nach der großen Vermählungsfeier nahm Alexander seine Frau mit auf seinen weiteren Eroberungszug. Der Aufenthalt durch die Begegnung der Liebe muss sehr kurz gewesen sein, denn Alexander ließ sich durch nichts lange aufhalten. Er glaubte nämlich, keine Zeit zu haben. Ein Orakel hatte ihm ein erfolgreiches, aber nur kurzes Leben prophezeit.
Unterwegs bekam Roxane einen Sohn. Das Kind starb schon bald. Aus welchem Grund, ist nicht übermittelt. Roxane hatte nicht die Möglichkeit zu trauern. Die wilde Jagd ging immer weiter.
Nicht allein seine unwiderstehlichen Landnahmen, auch seine geschickte Politik mit den besiegten Ländern machten Alexander zu einem Großen. So gehörte zu seinen machtpolitischen Schachzügen, dass er auf seinem Rückweg von Indien in Mesopotamien, in Susa, zwei Königstöchter heiratete. Der Status Roxanes als erste Gattin wurde dadurch nicht angetastet.
Erst 33 Jahre alt, lag der Weltbeherrscher auf seinem Totenbett. Roxane war als einzige Frau bei ihm. Mit all ihrer Überzeugungskraft redete sie ihm seine letzte Wahnvorstellung aus. Er wollte sich, auf den Tod krank, heimlich im Euphrat ertränken und durch sein spurloses Verschwinden den Menschen seine Göttlichkeit zum letzten Mal und damit endgültig vor Augen führen.
Roxane war von Alexander wieder schwanger, als dieser viel zu jung starb. Sein Reich stand auf sehr schwankendem Boden. Wie sollte es weiter gehen? Wer würde das zu große Vakuum der Macht füllen? Zu viele waren begierig, Alexanders Platz einzunehmen.
Roxane erwies sich in dieser Situation als wahre Fürstentochter. Sie zog sich nicht in die Frauengemächer zurück, überließ nicht den Diadochen das Feld. Nein, sie mischte mit, kämpfte mit offenem und verdecktem Visier für das Erbe ihres Kindes. Sie hoffte, einen Sohn zur Welt zu bringen.
Roxane hatte einen schweren Stand, da die makedonischen Feldherren, von denen fast jeder gegen jeden intrigierte, Alexanders Witwe als eine Perserin ansahen. Sie gehörte nicht zu ihnen, war für sie eine Fremde. Aber sie sorgte mit dafür, dass Perdikkas, Freund und General von Alexander, der von dem Sterbenden einen Siegelring an den Finger gesteckt bekommen hatte, als Regent für eine Übergangszeit bestätigt wurde.
Ein Teil der mächtigen Feldherren versuchte Alexanders Halbbruder Philipp II. Arrhidaios auf den Thron zu bringen, da der Geistesschwache keine Gefahr für die Vorhaben der Clique sein konnte.
Roxane hatte sich geschickt eine Hausmacht geschaffen, die Perdikkas den Rücken stärkte. Der mit allen Wassern eines Politikers gewaschene General brachte einen Kompromiss zustande, der auch seinen Vorstellungen entgegenkam. Er selbst würde als Reichsverweser das Erbe Alexanders verwalten. Philipp II. Arrhidaios und der mögliche Sohn der Roxane sollten gleichberechtigt als Könige gelten.
Mit dieser Vereinbarung konnten alle zufrieden sein. Der mögliche Sohn und dessen Onkel waren beide regierungsunfähig. Perdikkas konnte an der Konsolidierung des Riesenreiches arbeiten. Die Diadochen erkannten aber genügend Freiraum, um in ihren Machtspielen eine Zukunft zu sehen.
Roxane bekam den erhofften Sohn, der Alexander IV. Aigos genannt wurde. Hatte sie bisher schon alle ihre Beziehungen dafür eingesetzt, dem Erben Alexanders den Thron zu sichern, so kannte sie nun keine Gnade, ihm diesen Weg auch endgültig freizumachen. Wo sie Widerstand witterte, schlug sie erbarmungslos zu, ließ töten.
Es darf nicht vergessen werden, die Menschen damals, besonders die, die im engen Kreis der Mächtigen lebten, hatten andere Moralvorstellungen, andere Gewissensmaßstäbe als die Menschen heute. Wer die Macht hatte, den hemmten keine Schranken. Umso höher im Stand, desto gefährdeter war der Einzelne. Er musste ständig auf der Hut sein.
So muss auch Roxanes Leben gesehen werden. Ohne die schützende Hand von einem der starken Männer, konnte sie nur eine Feder im Wind sein. Sie hat sich eng an Perdikkas gebunden. Sie und er hatten sehr ähnliche Interessen, waren also unausgesprochen Verbündete. Aber es rächte sich, dass sie zu sehr, fast ausschließlich auf den mächtigen General setzte. Er wurde ermordet. Bis dahin hatte er geschickt das Gerangel der Diadochen im Griff behalten und die Lücken in den Machtgeflechten zu seinem Vorteil genutzt.
Der neue starke Mann hieß Antipatros. Die beiden machtlosen Könige und natürlich auch Roxane waren nun in seinen Händen. Der Herrscher wusste mit diesem Pfund zu wuchern. Doch Roxane wollte dieses ungute Spiel nicht mitmachen. Sie wusste genau, es war kein Spiel mehr. Sie musste kämpfen, um ihres und das Leben des kleinen Alexander. Und sie besaß immer noch Möglichkeiten. Und die nutzte sie. Sie war tatkräftig und wagte das Risiko. Sie verbündete sich mit ihrer Schwiegermutter Olympias. Die beiden Frauen stellten sich im zweiten Diadochenkrieg auf die Seite von Polyperchon gegen Antipatros Sohn Kassander. Nach anfänglichen Erfolgen erkannte Roxane, dass sie auf das falsche Pferd gesetzt hatte. Jetzt musste sie sprichwörtlich auf jeden ihrer Schritte achten, ob nicht ein Schatten hinter ihr auftauchte.
Kassander ging aus dem jahrelangen Durcheinander als Sieger hervor. Er ließ bei der ersten sich bietenden Gelegenheit Olympias umbringen. Roxane und den kindlichen König nahm er in Amphipolis unter Hausarrest. Mit hoher Wahrscheinlichkeit spielte er bereits zu diesem Zeitpunkt mit dem Gedanken, beide zu töten, wagte es aber aus politischen Überlegungen heraus noch nicht; er wollte das Pfand, das noch seinen Wert hatte, nicht verlieren.
Mutter und Sohn mussten hilflos miterleben, wie sie politisch zur Ware wurden und darum hochgradig gefährdet waren. Roxane ahnte, was der gefährlichste Moment werden würde: der Zeitpunkt der Mündigkeit ihres Sohnes. Dann würde er Anspruch auf den Thron erheben. Den Schritt wollte sicher keine Seite der Widersacher.
Kassander ließ seine Gefangenen ohne Vorwarnung töten, die Tat so lange im Dunkel, wie es ihm nützte.
Roxane und Alexander IV., das Blut Alexanders des Großen, starben 320 vor Christus. Und damit nahmen die fantasievollen Geschichten um Roxane ihren Anfang, die schöne Frau wurde endgültig zur Legende.
Mehr kann ich dir ad hoc nicht über Roxane erzählen, Simon.« Der Professor schaut den Maler an und lächelt.
»Wie hat sie ausgesehen, Professor?«
Der alte Mann hebt seine Schultern.
»Wie auf dem Fresko oder eher nicht?«
»Ich weiß von keiner Beschreibung in den alten Quellen. Es ist ja das Faszinierende, dass manche Menschen erst durch ihr Schattendasein in der Zeit für die Fantasie so interessant werden. Jeder darf seiner eigenen Vorstellung frönen, auch du, Simon.«