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Spuren einer Heiligen

Hildegard von Bingen - Äbtissin, Heilkundige und Dichterin

Der Schrein mit den Gebeinen der Hildegard von Bingen befindet sich in der Pfarrkirche (ehemals Klosterkirche) von Eibingen. Am gleichen Ort wird auch ihr Reliquienschatz aufbewahrt.

Beschäftigt man sich mit dieser besonderen Frau, stellt sich bald unausweichlich die Frage: War Hildegard denn überhaupt eine Heilige? Erst im 16. Jahrhundert findet sich ihr Name im Verzeichnis der Heiligen. Und es war Papst Benedikt XVI., der 2012 Hildegard zur Kirchenlehrerin erhob.

Auf jeden Fall war Hildegard eine faszinierende, eine großartige Frau, auch im ziemlich nebligen Abstand von 900 Jahren. Sie verkörperte eine Idee, die auch noch heute anziehend wirken kann: Sie gab das Beispiel für Vertrauen auf Gott, für seine Gnade, Liebe und Weisheit.

Mit einem eher kleinen Artikel auf der Wirtschaftsseite einer Zeitung – leicht zu übersehen, da an dieser Stelle kaum zu erwarten – und nur wenige Tage darauf mit einem vielleicht zehnminütigen Feature in einer Kultursendung im Fernsehen, begann mein Interesse für Hildegard von Bingen. Ab da trug ich zusammen, was ich über diese Frau und ihre Zeit finden konnte.

Im vergangenen Jahr wurde ich gebeten, im Rahmen einer Vortragsreihe Große Frauen der Geschichte, vom Kloster Peterhof veranstaltet, über die Heilige Hildegard zu sprechen. Meine spontane Zusage hatte zur Folge, dass ich mein Wissen über Hildegard und ihre Zeit überprüfen und ordnen musste, am besten chronologisch. Daraus ergab sich zwangsläufig, mich auch mit den nicht unwesentlichen Widersprüchen während des Erdenweges der adeligen Frau zu befassen.

Da ich meine Zuhörer nicht zu sehr mit Daten und Fakten belasten wollte, wählte ich besondere Stationen aus der mehr als acht Jahrzehnten währenden Lebenszeit der Hildegard.

KINDHEIT UND JUGEND

Denke ich mir Hildegard als Kind, sehe ich sie in einer blühenden Wiese sitzen, die Hände im Schoß gefaltet, das Gesicht dem Himmel zugewandt. Es ist wieder solch ein Moment, in dem sie ein helles Licht sieht, sich von einer strahlenden Aura umgeben fühlt. Sie ist ein dreijähriges Mädchen, als sie zum ersten Mal spürt, wie dieses Licht in ihr Herz dringt, und sie fest daran glaubt, dass Gott ihre Seele berührt.

Die Blumenwiese, die sie so sehr liebt, von der sie ihr Leben lang träumen wird, gehört zum Gut Bermersheim, welches ihrer Familie gehört. Das lassen mich meine Unterlagen als gesichert annehmen. Wann und wo Hildegard das Licht der Welt erblickte, ist nicht zweifelsfrei zu belegen. Von adeliger Herkunft wurde sie wohl im Jahre 1098 auf Gut Bermersheim oder aber in Niederhosenbach als zehntes Kind ihrer Eltern geboren.

Hildegard begreift früh, dass ihr Leben der Kirche gehören wird. Als zehntes Kind ist dieser Weg beinahe fest vorgegeben, sie ist die Dank- und Opfergabe der Familie an Gott. Das Mädchen sieht sich herausgehoben, bevorzugt, spürt eine Heiterkeit, wenn sie an ihre Rolle denkt. Sie selbst beschreibt, wie sie mit acht Jahren Gott dargebracht wurde und damit ihr geistig-religiöser Weg begann. In ihrer neuen Umgebung wird man sich sehr bald gefragt haben, wer die Hildegard denn sei, dieses Mädchen, das gern von dem Licht erzählt, das sie immer wieder sieht.

KLOSTER DISIBODENBERG

Mit zwei anderen jungen Frauen kommt Hildegard in das Benediktinerkloster Disibodenberg. Ihr Einfluss dort nimmt so zu, man kann beinahe von einer friedlichen Übernahme sprechen, dass sie von ihren Mitschwestern zur Magistra gewählt wird. In dieser Führungsrolle sehe ich die junge Hildegard vehement und zäh für ihre Überzeugungen streiten. Noch steht sie als Person selbst hinter dem, was sie sagt und tut, bezieht sich noch nicht auf die Weisungen des Himmels. Natürlich kann der Abt des Klosters eine Frau mit eigenen festen Vorstellungen nur schwer ertragen, so etwas passt nicht in die Zeit.

Ich sehe sie zusammensitzen, Hildegard und den Abt, sehe sie sprechen, und das ist ein zähes Ringen. Schritt für Schritt geht Hildegard voran. Schritt für Schritt weicht der Abt zurück. Die Magistra hat sich vorgenommen, der Askese die unbedingte Strenge zu nehmen, die rigorosen Essensvorschriften, die anstrengenden Gebetszeiten und die endlosen Gottesdienste für die Schwestern leichter ertragbar zu machen. Während dieser Gespräche entdeckt Hildegard den Humor als eine unwiderstehliche Waffe, die starke Mauern zerbröseln lässt. Doch bei einem Punkt stößt sie auf Granit: mit ihrem Wunsch nach einem eigenen Kloster. Was für eine Idee! Das geht schon aus Prinzip nicht. Hinzu kommt noch ein bedeutender wirtschaftlicher Grund. Hildegard ist für das Kloster zu wichtig, da sie zu dieser Zeit bereits außerhalb der Klostermauern bekannt und beliebt ist.

HILDEGARDS VISIONEN

Die Lichterscheinungen Hildegards sind für sie längst Erinnerungen, auf die sie inzwischen nicht mehr unbedingt setzen muss. Sie kommen ihr erst wieder stärker in den Sinn, als ihr der Humor nicht mehr weiterhilft. Sie sucht einen Weg, ihren wachsenden Einfluss unangreifbar zu machen, die Männergemeinschaft der Kirche mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Der Gedankensprung von den Lichtern zu Visionen, die vom Himmel kommen, ist da nicht weit. Welcher Kirchenmann, ob Abt, ob Bischof wird es wagen, Zeichen des Himmels anzuzweifeln?

Sie erweist sich als geschickte Taktikerin. Sie schreibt einen Brief an Bernhard von Clairvaux, sucht bei ihm Anerkennung ihrer Visionen. Der Abt verfasst seine Antwort so, dass Hildegard seine Worte ganz in ihrem Sinne zu interpretieren vermag. Sie betritt ihren Weg als Seherin ohne Zögern und ganz im Vertrauen auf dessen Richtigkeit.

Ich sehe Hildegard mit einem Schreiber und einer Vertrauten im Skriptorium des Klosters sitzen. Sie diktiert ihre Eingebungen, die unmittelbar in Latein, das sie nur unzureichend beherrscht, niedergeschrieben werden.

So entsteht eines ihrer Hauptwerke, Scivias – Wisse die Wege – eine Glaubenslehre. Die schwierigen Texte sind kein fester gangbarer Weg, sie können aus verschiedenen Sichten gesehen und ausgelegt werden, beziehen vielleicht gerade daraus ihre starke Wirkung. (Übrigens: Die Handschrift gilt – ein wirkliches Unglück – seit Ende des Zweiten Weltkriegs als verschollen.)

Hildegard arbeitet geschickt und unermüdlich an ihrem »guten« Ruf. Vom Papst lässt sie sich das Recht zur Veröffentlichung ihrer Schriften erteilen. Das steigert weiter ihre Bedeutung. Gern gibt sie dazu kund, dass es der Himmel selbst war, der sie zu den Aufzeichnungen aufgefordert hat. Eine Stimme, sagt Hildegard, habe zu ihr gesprochen, sie solle die ihre im Auftrag des Höchsten erheben und schreiben.

KLOSTER RUPERTSBERG

Hildegards Einfluss wächst mit ihrer Bedeutung. Sie wird eine mächtige Frau. Ein wirkliches Novum zu ihrer Zeit. Sie hat den Ruf einer Botin des Himmels, der ihr Schutzschild ist, kann sie doch damit dem Widerstand vor allem aus dem höheren Klerus, der sehr subtil und feingesponnen ist, auf eine erhabene Weise entgegenwirken.

Ich sehe sie inmitten ihrer Mitschwestern im Refektorium »ihres« Klosters Rupertsberg, das sie irgendwann in den Jahren um 1150 links der Nahe endlich gründen konnte. Hildegard hat jetzt nicht mehr allein den Ruf einer Visionärin, sondern zudem den einer Universalgelehrten. Das sind die beiden Punkte, die sie auf Augenhöhe mit den mächtigen Männern der Kirche und der Welt stellen. Ihre klaren Worte und vor allem der schnell wachsende Reichtum ihres Klosters machen Hildegard angreifbar, wie oft, wenn ein Mensch einen besonderen Weg geht, und ihre Gegner sind nicht immer zimperlich. Aber die Klosterfrau weiß sich zu wehren. Ihre Gemeinschaft, so sagt sie kämpferisch, dürfe nicht nur beten. Gehe es nicht um geistliche, sondern um weltliche Dinge, dann sei allein kühle Vernunft gefragt, kein heißes Herz.

Ihr starkes Selbstbewusstsein, ihre hochstehende Moral öffnen ihr nicht nur die Herzen und Ohren der Nonnen, sondern auch Mönche, Adlige und gebildete Laien hören auf Hildegard.

Außer Scivias hat die fromme Frau das Buch der Lebensverdienste, das Visionen mit der Thematik der moralischen Verantwortung des Menschen sammelt, geschrieben. Ein dritter Band ist das Buch der göttlichen Werke, der Mensch und Welt beschreibt.

DIE BERATERIN

Ich sehe Kaiser Barbarossa in seiner Pfalz zu Ingelheim mit einer Nonne am Kaminfeuer sitzen und die Köpfe zusammenstecken, um die Szene in heutiger Sprache zu beschreiben. Der Kaiser hat Zutrauen zu dieser Frau gefasst, die aus der Einfachheit des Herzens heraus den richtigen Ton und die richtigen Worte trifft, um den erwünschten Rat zu geben. Denkt der Kaiser an ihre Ansicht zu seinem Kriegszug, muss er schmunzeln. Die Grundfarbe der Geschichte sei rot, Herr, blutrot. Das dem mächtigsten Mann zu sagen, traue ich Hildegard ohne Weiteres zu.

Nicht nur der Kaiser, auch Könige, Päpste, Bischöfe suchen vor wichtigen Entscheidungen ihren Rat. Es sind nicht nur die hohen Herren, auch dem einfachen Volk wird sie zur Wegweiserin, obwohl sie sich – Koketterie? – gern als ungebildet bezeichnet. Diese »ungebildete« Klosterfrau geht jedoch auf theologische Reisen, predigt, spricht mit Offenheit den Niedergang der Kirche und des Klerus an. Vor gefährlichen Gegenangriffen schützt Hildegard sich stets mit der starken Deckung ihrer »göttlichen Visionen«. Nicht sie spricht, Gott spricht aus ihrem Mund.

Es waren nur selten persönliche Begegnungen, so wie mit dem Kaiser, meist waren es schriftliche Verbindungen zur Welt. Ihre Korrespondenz war sehr umfangreich. So darf die Sammlung ihrer Briefe ohne Frage zu ihrem schriftlichen Werk gezählt werden.

SPÄTE ROSEN

Ich sehe Hildegard zur frühen Abendstunde im Klostergarten. Sie sitzt auf einer Bank von Sträuchern später Rosen umgeben, beinahe eingerahmt. Leise summt sie vor sich hin. So sucht sie in der Stille nach neuen Melodien für den Gottesdienst. Sie nennt das nicht komponieren, sie nennt es den Geist reinigen. Sie setzt so ihre Glaubensgrundsätze in Musik um und gibt die leuchtenden Bilder ihrer Vorstellung an andere weiter.

Was auf diese Art entsteht, sind liturgische Gesänge, die zur Gregorianik gezählt werden.

Dann sehe ich Hildegard ein anderes Mal mit jungen Frauen fröhlich singend im Kräutergarten. Hier hält sich die Äbtissin nur zu gern auf. Der Garten lockt sie zu jeder Jahreszeit, ist er doch für sie eine Erinnerung an ihre frühen Jahre. Und natürlich erkennt Hildegard auch hier eine Möglichkeit, auf die Menschen einzuwirken. Wieder diktiert sie den Schreibern, sammelt zwei Bände mit ihrem Wissen über die Kraft der Natur. Naturkunde und Heilkunde nennt sie die Bücher. Allerdings gibt es leichte Zweifel, sie als die alleinige Verfasserin zu betrachten. Nicht gesichert, aber zu vermuten ist, dass Hildegard auch aus anderen Quellen schöpfte, die sie als richtig ansah. Von dem Buch Ursachen und Behandlungen, auch Hildegard zugeschrieben, hat sich nur eine einzige Handschrift in unsere Zeit retten können.

Einmal, so stelle ich es mir vor, hört die schon betagte Hildegard einem Gespräch über den Tod zu, schweigt und behält ihre Gedanken dazu bei sich. An einem der nächsten Abende, es ist der Tag vor ihrem Tod, spricht sie mit Gott und danach mit Gottes Sohn. Sie sagt, dass die Landschaft des Todes für sie keineswegs dunkel sei, wisse sie doch ihre Freunde dort und zudem gehe sie in das Licht des Himmels ein, das sie von Kindheit an begleitet habe.

Die Äbtissin vom Kloster Rupertsberg, Hildegard von Bingen, stirbt am 17. September 1179. Dieses Datum ist belegt.

HILDEGARDS SPUREN

Was ist von Hildegard von Bingen in unsere Zeit gekommen?

Hildegards Ruf als Heilkundige ist erst durch die moderne Werbung forciert worden und ist nicht zu ernst zu nehmen. Sie hat, das kann behauptet werden, das Heilwissen ihrer Zeit gesammelt und geordnet und sich dabei nicht hinter dem Latein versteckt, sondern die deutsche Sprache verwendet. Hildegard hat auch geschrieben: »Drei Pfade hat der Mensch in sich, die Seele, den Leib und die Sinne. Beachtet der Mensch dies, bleibt er gesund.«

Vom Volk wurde Hildegard schon zu Lebzeiten als eine Heilige verehrt. War sie das auch in ihren eigenen Augen? Dafür habe ich keine Belege gefunden. Ganz gewiss war sie eine seltene, eine überragende Persönlichkeit, die keinen Zweifel hatte an dem, was sie glaubte, sagte und tat. In ihrer Zeit, vor 900 Jahren, gab sie den Frauen eine Stimme, die Gehör fand und die ernst genommen wurde. Sie konnte wohl gewiss sein, ihren Weg nicht alleine für sich, sondern auch für ihre Schwestern und für alle Menschen zu gehen.

Die Sanduhr in meinem Kopf

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