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Das attische Licht

Agnodike, Ärztin in Athen

Ihren Namen lese ich zum ersten Mal in einer geschichtlichen Abhandlung eines ärztlichen Magazins. Dort wird sie beiläufig in einem Nebensatz als die erste Ärztin der griechischen Antike vorgestellt. Das fast schon fahrlässige an den Rand schieben dieser zur damaligen Zeit – wir sprechen von den Jahren um 290 vor Christus – so besonderen Ausnahme, ein Hinweghuschen über ein staunenswertes Kuriosum, reizt sofort meine Neugierde.

Wieder zurück an meinem Schreibtisch beginne ich zu recherchieren. Zunächst überrascht, im Verlauf meiner Nachforschung zunehmend erstaunt, muss ich feststellen: Es gibt über Agnodike nur wenig mehr als diesen Nebensatz zu finden. Dementsprechend dünn sind meine Notizen, die ich erst einmal zur Seite lege, bis ich möglicherweise etwas entdecke, das ich ihnen hinzufügen kann.

Mein Kopf allerdings beschäftigt sich selbständig in einem Hinterstübchen weiter mit dieser fast vergessenen Agnodike. In diesem ruhigen Domizil wird aus der unbekannten Frau, die als Ärztin, in jener Zeit eine für Frauen streng verbotene Tätigkeit, einen nicht unproblematischen, unter Umständen sogar einen für sie gefährlichen Beruf ausübte, allmählich eine lebendige Person.

Agnodike ist in meiner Vorstellung eine Frau in den mittleren Jahren. Sie strahlt eine eigentümlich ruhige Nervosität aus, hat das starke Charisma einer erfolgreichen und anerkannten Persönlichkeit.

Ich sehe sie durch das rege Treiben in den Straßen von Athen einem Ziel entgegeneilen. Immer wieder schenkt sie ein freies Lächeln den Menschen, die ihr begegnen und sie grüßen. Über der Schulter trägt sie eine geflochtene Tasche. Sie ist unterwegs zu einer Patientin, die in den nächsten Tagen ihr erstes Kind erwartet. Ein Sklave, der einige Schritte vor ihr herläuft, sich immer wieder nach ihr umschaut, hat ihr den dringenden Ruf überbracht.

Agnodike ist eine Geburtshelferin und wird von ihren Patientinnen wie eine gute Freundin geliebt. Die Gemeinschaft dieser Freundinnen, alle Gattinnen einflussreicher Männer, hat ihr in der dunkelsten Stunde die Freiheit für ihren Beruf erfochten.

Als Tochter eines Arztes war Agnodike lange Jahre die Helferin ihres Vaters. Immer in seiner Nähe konnte ihr nicht entgehen, dass die Frauen vor ihrem Vater, einem Mann, zumeist eine schamhafte Scheu zeigten, die in ihrem Zustand zu Verkrampfungen und damit häufig zu Komplikationen führte. War sie mit den Frauen alleine, war alles leichter.

Bedingt durch diese Beobachtung versuchte sie mit steter Bitte, ihren Vater dazu zu bringen, ihr Lehrer zu werden. Doch der Vater schien bei diesem Wunsch mit Taubheit geschlagen. Er wusste nur zu gut, dass eine Frau nicht einmal daran denken durfte, Ärztin sein zu wollen, auch nicht eine Geburtshelferin. Das war allein Aufgabe der Männer. Das war einfach so. Die Tochter verstand, was der Vater ihr mit seinem Schweigen sagen wollte, bohrte aber weiter, versuchte das Unmögliche, nämlich einen Stein zu erweichen.

Eines Tages kam ein fremder Arzt auf Besuch in das Haus des Vaters. Sein Name war Herophilos und er kam aus Alexandria. Zunächst nahm der Gast die junge Frau kaum wahr, auch weil eine Frau in dieser Gesellschaft nur ein Schattendasein führen durfte. Trotz allem konnte er bald nicht mehr übersehen, wie geschickt Agnodike mit den Patientinnen umging, als er ihren Vater bei seinen Hausbesuchen begleitete.

Nach einiger Zeit und sehr vorsichtig suchte Herophilos immer wieder das Gespräch mit der Tochter des Freundes. Allmählich, ganz sanft, entwickelte sich zwischen den beiden eine besondere Beziehung der gegenseitigen Wertschätzung, die dazu führte, dass der Arzt zum Lehrer von Agnodike wurde.

Die Ausbildung musste mit besonderer Vorsicht ablaufen, es durfte auf keinen Fall zu Tuscheleien oder zu Gerüchten kommen. Was Herophilos machte, war ein Tabubruch, denn es wurde mit großer Strenge darauf geachtet, dass Frauen nicht in die Männerwelt eindrangen. Selbst die harmlosesten Versuche wurden rigoros unterbunden. Herophilos bestand darauf, dass seine Schülerin ihn nur in Männerkleidung begleitete. Sogar die Frauen ließen sich täuschen, reagierten bei ihr zunächst wie bei einem Mann, akzeptierten sie erst, nachdem sie sich als Frau zu erkennen gab.

Als Herophilos Athen wieder verließ, war Agnodike eine geschickte Geburtshelferin mit einer Reihe Patientinnen aus reichen Häusern. Der Arzt hatte ihr den Rat gegeben, den sie beherzigte, sich hauptsächlich Frauen anzunehmen, die den höheren Kreisen angehörten. Sie kam oft als Freundin der Schwangeren in die Häuser der Reichen und Einflussreichen, was für sie einen gewissen Schutz bedeutete.

Obwohl sie immer noch im Geheimen als Ärztin, zumeist als Geburtshelferin arbeitete, wurden durch Mundpropaganda im Atrium der Frauen ihre Fähigkeiten gelobt und ihre Bekanntheit wuchs. Damit aber auch das Risiko, dass von dieser geheimen Ärztin auch Männerohren etwas mitbekamen.

Eines Tages half sie einer Dame aus der oberen Schicht bei der schweren Geburt eines Mädchens. Der hohe Gatte hatte sich unbedingt einen Knaben als Erben gewünscht. Schuld, dass seine Hoffnung nicht erfüllt wurde, hatte ohne Zweifel Agnodike. Wie konnte es sein, dass eine Frau bei einem solch wichtigen Ereignis maßgeblich beteiligt war? Den Göttern hatte das nicht gefallen und sie hatten ihn dafür mit einem Mädchen bestraft.

Das enttäuschte Jammern des Vaters mit dem falschen Kind öffnete die Schleuse der Verleumdung. Die Männer pochten auf das Gesetz. Frauen und Sklaven durften keine Ärzte sein.

Agnodike wurde in das Gerichtsgebäude bei der Agora gebracht. Dort wartete sie mit anderen in einem düsteren Raum auf ihren Prozess. Lange konnte das nicht dauern, war der Ärztin klar. Solch ein Frevel musste schnell gesühnt werden. Zu ihrem eigenen Erstaunen fühlte sie keine Angst, wartete in philosophischer Ruhe, gedachte ihrem Traum, der sich so wunderbar erfüllt hatte. Nun hatte er sich wie der feine Morgennebel verflüchtigt, womit sie ja jeden Tag, jede Stunde hatte rechnen können. Die Götter hatten es erst gut mir ihr gemeint, nun hatten sie ihre schützenden Hände von ihr genommen – das den Menschen bekannte Spiel eben.

Was Agnodike von ihren Mitgefangenen unterschied und ihr viel Respekt bei ihnen einbrachte, waren die Besuche hochstehender Frauen aus der besseren Gesellschaft. Jeden Tag kam eine andere ihrer Freundinnen, um sie zu trösten. Die Gefangene selbst war sich der Ironie bewusst, die hinter dem schönen Schein steckte. Das Ansehen und Vertrauen ihrer Mitgefangenen gewann sie alleine aus dem Umstand, dass ihre Besucherinnen zur führenden Schicht Athens zählten. Es war ebenso eine Farce, dass sie in Männerkleidung versteckt alle wichtigen Häuser der Stadt betreten durfte, obwohl alle zu gut wussten, dass sie eine Frau war. Als Agnodike bei diesen Gedanken lächeln musste, staunten die anderen über ihre scheinbare Gelassenheit.

Eine der Frauen, die in diesem trostlosen Raum wie alle anderen zu jeder Stunde darauf wartete, zur Verurteilung geholt zu werden, war krank. Sie war hierher gebracht worden, weil sie sich gegen ihren gewaltsamen Mann zur Wehr gesetzt hatte. Agnodike sprach mit ihr, denn nach ihrer Erfahrung hatten die körperlichen Symptome der Frau seelische Gründe. Herophilos, ihr verehrter Lehrer, hatte sie fast jeden Tag daran erinnert, dass der Arzt neben dem Körper auch für die Seele der Patienten sorgen müsse. Wichtig waren das aufmerksame Zuhören und das intime Gespräch. Agnodike hielt sich an diese Regel und schon durch diese Therapie besserte sich der Zustand der Mitgefangenen zusehends.

Da wurde die Tür geöffnet und herein kam Agnodikes einfluss-

reichste Freundin, der sie geholfen hatte, drei gesunde Kinder auf die Welt zu bringen. In der Ecke unter dem einzigen Fenster des gemauerten Raumes flüsterte der Besuch von der guten Nachricht. Wie Sphärenmusik klang es Agnodike in den Ohren, als sie erfuhr, sie würde in den nächsten Tagen vor den Richter gerufen. Nein, kein Urteil erwarte sie, sondern ihre Freiheit. Die Freundinnen hätten ihre Männer von der Notwendigkeit eines Umdenkens überzeugt.

Agnodikes Augen leuchteten auf, wurden aber nach einer Weile wieder trübe. Sicherlich würden in Zukunft strenge Augen über sie wachen, damit sie das Verbot beachte.

Nein, widersprach die Freundin, es würde kein Verbot mehr geben. Sie dürfe jetzt frei als Geburtshelferin den Frauen zu Seite stehen. Zwei Bedingungen: Sie muss weiterhin in Männerkleidung die Häuser betreten und sie darf nicht öffentlich über ihre Tätigkeit als Geburtshelferin sprechen.

Agnodike umarmte die Freundin.

»Liebe Agnodike, fünf Frauen warten schon mit heißem Herzen auf deine begnadeten Hände und deinen Mut machenden Zuspruch.«

Agnodike stiegen die Tränen in die Augen, ihr Gesicht wurde rot vor Freude.

Agnodike sei das helle Licht der Frauen, rief der hohe Besuch in den trüben Gefängnisraum, in dem kurz die Hoffnung leuchtete.

Nachtrag

Diese kurze Erzählung über die Ärztin Agnodike war längst aus den Bildern in meinem Kopf zu Wörtern auf dem Papier verwandelt, als ein nicht ganz unbekannter Regisseur bei mir anrief, um anzufragen, ob ich für die Wormser Festspiele ein Stück schreiben könne. Was für ein Stück? Das Thema könne ich mir aus dem antiken Griechenland fischen.

Noch den Hörer am Ohr fiel mir Agnodike ein. War sie ein Thema für die Bühne? Drei Akte: Leben auf der Agora, Szenen im Gefängnis, Treffen der Frauen. Das könnte gehen.

Was mich von Agnodike Abstand nehmen ließ, war der Einwand, wer denn diese Frau, auf die ich durch einen Zufall gestoßen war, überhaupt kenne?

Agnodike hat einfach das Pech, zu sehr eine unbekannte Bekannte der Geschichte zu sein. Das attische Licht der Frauen wurde nicht völlig vergessen, aber auf die Erinnerung an sie fiel der breite Schatten der herrschenden Männerwelt. Sie ist und bleibt auf jeden Fall ein Juwel für meine Sammlung bemerkenswerter Frauen und steht zu Recht am Anfang dieser Geschichten.

Die Sanduhr in meinem Kopf

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