Читать книгу Die Hormonrevolution - Michael E Platt - Страница 15
Zuhören
ОглавлениеEine der häufigsten Beschwerden, die Patienten in meiner Praxis äußern, ist, dass ihr Arzt ihnen nicht zuhört. Während meiner Ausbildungszeit auf der Universität wurde uns gelehrt, dass eine Diagnose zu 90 Prozent aus der Zeit besteht, die sich der Arzt nimmt, um mit dem Patienten zu sprechen. Heutzutage hetzen die meisten Ärzte durch den Tag und versuchen, so viele Patienten wie möglich zu behandeln. Sie haben nicht mehr die Zeit, wirklich zuzuhören. In der Regel bleiben einem Arzt für einen Patienten ungefähr vier Minuten. Doch auch wenn er sich genügend Zeit nimmt für das Gespräch, so tendiert er oder sie dennoch dazu, die Symptome einer Erkrankung statt deren Ursache zu behandeln. Deshalb geht es dem Patienten nach dem Arztbesuch auch meist nicht besser.
Meine Patienten sind überrascht, wenn ich mir für das erste Gespräch mit ihnen mehr als eine Stunde Zeit nehme. Mich interessiert nicht nur die Krankheitsgeschichte des Patienten, sondern auch die seiner Familienmitglieder. Ich tue das aus gutem Grund, dann je mehr ich über den Körper meiner Patienten erfahre, ihre Familiengeschichte, die Medikamente, die sie in der Vergangenheit genommen haben, wie sie auf verschiedene Behandlungen reagiert haben usw., umso besser bin ich in der Lage, Ihnen zu helfen. Indem ich intensiv zuhöre, erahne ich Hormonprobleme in deren Anamnese (Krankheitsvorgeschichte). Aus ihrem Verhalten kann ich verschiedene Stoffwechselprobleme deuten. Meine Gespräche mit den Patienten sind äußerst wertvoll. Häufig bestätigen die anschließend durchgeführten Laboruntersuchungen die bereits während des Gesprächs vermutete Diagnose.
Das ausführliche Erstgespräch hat außerdem den zusätzlichen Nebeneffekt, dass der Patient Vertrauen gewinnt. Er fühlt sich ernst genommen. Der Körper ist ein komplexer und komplizierter Mechanismus. Man kann ihn nur als Einheit betrachten. Meine Patienten verstehen, dass ich mich gründlich mit ihrem Gesundheitszustand (auch der Vergangenheit) auseinandersetze. Im Gegensatz dazu spüren sie, dass es nicht in Ordnung sein kann, wenn ein Arzt nach einer vierminütigen Unterhaltung, ihnen eine „0815“-Behandlung verordnet. Sie haben das Gefühl, einfach nicht ernst genommen zu werden.
Viele Ärzte haben meiner Meinung nach das Interesse an der Vorgeschichte des Patienten verloren. Wir Ärzte zeigen unseren Patienten gegenüber nicht genügend Engagement, obwohl sie ja eigentlich die Grundlage unseres Einkommens sind. Wir akzeptieren leichtfertig, dass eine zunehmende Zahl unserer Patienten übergewichtig ist, dass Frauen Fehlgeburten haben und an Brustkrebs und anderen Krebsarten erkranken, dass Erkrankungen der Herzkranzgefäße sowie andere Herz-Kreislauf-Erkrankungen stetig zunehmen. Wir akzeptieren die Tatsache, dass viele unserer Patienten mehrere Medikamente gleichzeitig einnehmen, mit einer Vielzahl unangenehmer Nebenwirkungen. Es ist bekannt, dass verschreibungspflichtige Medikamente die zweithäufigste Todesursache sind; ich befürchte jedoch, dass sie sogar die häufigste Todesursache sind.
Unsere Patienten leiden, obwohl man in den meisten Fällen ihr Leiden verhindern könnte. Aber bevor wir eine Krankheitsursache behandeln können und das Leiden vermindern, müssen wir erst einmal lernen, richtig zuzuhören.