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Totentanz

Festlich gekleidet und dicht gedrängt warteten die Konzertbesucher im Foyer der Europahalle Trier auf den Einlass. In erwartungsvoller Vorfreude wurde gegrüßt, gelacht und geplaudert.

Die Damen verbreiteten Parfümduft, die Anzüge einiger Herren den Geruch von nachlässig gelüfteten Kleiderschränken.

An der Getränkeausgabe klirrten Gläser. Die Garderobiers klapperten eifrig mit Kleiderbügeln.

Ein Sinfonie-Orchester aus dem Saarland gab an diesem Abend Camille Saint-Saëns vor ausverkauftem Haus.

Noch blieben die schweren Türen zum großen Saal verschlossen. Nur eine Angestellte des Hauses öffnete sie für einen kurzen Moment einen Spalt breit und schlüpfte hindurch.

Nervös stand eine junge Dame mit einem Glas alkoholfreiem Sekt in der Hand allein in der Nähe eines der großen Fenster. Hin und wieder führte sie die Sektflöte an ihre zurückhaltend geschminkten Lippen und nippte an dem ihr viel zu trockenen Getränk.

Nur in ein wadenlanges rotes Etuikleid gehüllt stand sie in schmuckloser Eleganz beinahe schüchtern da. Ihre dunkle Haut schimmerte matt. Ihre langen, fast schwarzen Haare waren an diesem Abend sorgfältig hochgesteckt und doch hatte sich eine Strähne hier und eine andere dort befreit.

Wieder hob sie ihr Glas an ihren Mund und blickte über dessen Rand hinweg in die anerkennenden Mienen von Männern und ertrug die neidvollen Blicke von deren Frauen.

Solche Auftritte waren ihr nicht vertraut. Für gewöhnlich trug sie Jeans und eine kurze Jacke, unter der sie ihre Dienstwaffe in einem Schulterholster verstecken konnte. Und sie trug einen Dienstausweis bei sich. Den brauchte sie nur vorzuzeigen und erntete in der Regel Respekt.

„Kommissarin Christine Bernard“ stand darauf gedruckt. „Kriminalpolizei Trier.“

Doch diese kleine Plastikkarte nützte ihr hier nichts. Jetzt stand sie beinahe nackt – zumindest fühlte sie sich so – in einem Kleid, welches einmal ihrer Mutter gehört hatte, umgeben von fremden Menschen da und war nur auf die Wirkung ihrer Person angewiesen. Sie fühlte sich ausgeliefert.

In Jeans und kurzer Jacke hätte sie zwar auch die Blicke auf sich gezogen. Allerdings nicht wegen atemberaubender Schönheit, sondern wegen der entgegen dem festlichen Anlass unangemessen Garderobe.

Der erste Gong erklang. Die Türen zum großen Saal wurden weit geöffnet. Die junge Kommissarin ließ ihr Sektglas halb gefüllt auf einem der Büffets stehen und rückte geduldig bis zu ihrem reservierten Platz vor.

Draußen vor den großen Fenstern des Foyers fiel der hoffentlich letzte Schneeregen dieses Frühjahrs auf den Asphalt.

Kommissarin Bernard nahm auf dem ersten Sessel am Mittelgang Platz. Ihre kleine schwarze Handtasche legte sie in ihren Schoß und hielt sie fest.

„Entschuldigen Sie. Sind Sie ohne Begleitung?“

Der ältere Herr neben ihr schaute sie sorgenvoll an.

„Eine so attraktive Frau wie Sie“, erinnerte er sich an ein Kompliment aus für ihn längst vergangener Zeit.

Der grau behaarte Kopf seiner Frau auf dem Sitz neben ihm drehte sich interessiert zu Christine Bernard. Die lächelte sanft.

„Meine Begleitung sitzt auf der Bühne“, antwortete sie höflich, nicht ohne Stolz.

Beruhigt und mild lächelnd tätschelte der alte Mann ihren Handrücken. Seine Frau nickte anerkennend.

Die Musiker liefen ein und nahmen auf der Bühne Platz. Kurzer Beifall. Notenblätter wurden studiert, Instrumente nachgestimmt. Nach zwei Minuten endeten die Vorbereitungen des Orchesters in erwartungsvoller Stille.

Der Dirigent trat an sein Pult, nahm demütig den Applaus des Publikums entgegen und wusste, es war ein Vorschuss. Dann hob er seinen Taktstock.

Leise erklangen die ersten Töne. Symphonie Nummer drei von Camille Saint-Saëns. Erster Satz. Adagio.

Kommissarin Bernard ließ ihren Blick über die Musiker schweifen. Doch immer wieder blieben ihre braunen Augen minutenlang nur an ihm hängen. Seit er die Bühne betreten hatte, ließ sie ihn nicht mehr aus den Augen. Torben Heintz.

Der sanfte Mann spielte um sein Leben. Wusste er doch, wer da im Publikum saß. Seine Christine.

Sein Cello vibrierte. Er schwitzte. Bloß den Einsatz nicht verpassen. Das Tempo halten. Ein kurzer prüfender Blick zum Dirigenten. Alles in Ordnung.

Zweiter Satz. Allegro moderato. Auch den fehlerfrei gespielt. Pause. Tosender Beifall. Unauffällig dehnte Torben die Finger seiner Bogenhand.

Christine blieb sitzen, beobachtete Torben beim Verlassen der Bühne und lächelte ihm hinterher.

Der zweite Teil des Konzerts begann mit Camille Saint-Saëns’ Klavierkonzert Nummer zwei. Berauschend.

Kommissarin Bernard kannte die Werke dieses längst verstorbenen französischen Komponisten bis dahin nicht und liebte sie doch schon beim ersten Hören. Diese Musik hätte auch ihren Eltern gefallen. Vor allem Papa. Er liebte klassische Musik und wurde nie müde, sie seiner kleinen Tochter vorzuspielen. Sie verbot sich eine Träne.

Gegen Ende der Vorstellung spielte das Orchester Camille Saint-Saëns’ sinfonische Dichtung „Dance macabre“. Der Totentanz. Furios! Aufwühlend!

Die Streicher ließen den Sensenmann durch die Nacht toben. Gräber öffneten sich. Bleiche Gestalten kletterten heraus. Der große Tanz begann. Der Tod höchstpersönlich schien aufzuspielen. In seinem Gefolge klapperte das Xylofon vor den geistigen Augen der Konzertbesucher mit den Knochen der Skelette. Torbens Cello zischte als Klinge durch den Raum. Der nächtliche Friedhof wurde zum Ballsaal und das Publikum war mittendrin. Die Musiker gaben alles für das grandiose Finale zum Sonnenaufgang. Eine letzte, leise gezupfte Saite einer Geige im ersten Licht des Tages machte schließlich dem Spuk ein Ende.

Minutenlanger Beifall brandete auf. Das Publikum erhob sich von seinen Sitzen. Von Begeisterung gerötete Gesichter überall. Vergebliche Rufe nach Zugabe. Was für ein gelungener Abend.

Das Mobiltelefon in der kleinen schwarzen Handtasche auf ihrem Schoß vibrierte. Kommissarin Bernard nahm das Gespräch nicht an. Unter diesen Bedingungen hätte sie ohnehin nicht telefonieren können. Sie stand auf, verabschiedete sich kurz von ihren Sitznachbarn und verließ den Saal. An der Garderobe nahm sie ihren langen schwarzen Wollmantel entgegen, zog ihn über und trat vor die Europahalle. Feuchte, kalte Luft schlug ihr entgegen und griff sofort nach ihr. Mutters Kleid war kaum die richtige Kleidung für eine nasskalte Nacht so früh im Jahr. Fröstelnd zog sie den Mantel enger um sich.

Ein erneuter Schneeregenschauer warf halbgefrorene Flocken auf ihr Haar und ihre Schultern. Mit ihren schwarzen Pumps eilte sie durch eine dünne Schicht Schneematsch über den Parkplatz. Eisiges Wasser spritzte an ihren Beinen hoch.

Bevor sie im Wagen nach dem Mobiltelefon in ihrer Handtasche griff, startete sie den Motor ihres weißen Renault Mégane und schaltete die Heizung auf die höchste Stufe. Dann erst verband sie ihr Handy mit der Freisprechanlage und tippte auf „Rückruf“. Getauter Schneeregen tropfte ihr von den Haaren in den Nacken. Sie schüttelte sich schaudernd. Der Angerufene nahm das Gespräch an.

„Rottmann.“

„Was?“, fragte Kommissarin Bernard ohne Gruß.

„Bist du sauer?“

„Ihr habt mich aus Torbens Konzert geklingelt“, log sie.

„Wir haben einen Vermisstenfall. Ein Mädchen. Acht Jahre alt. Lebt bei der Mutter. Alleinerziehend.“

„Ihr wisst genau, dass ich heute einen Tag Urlaub habe.“

„Ja, klar. Aber der ist ja schon fast vorbei“, wiegelte ihr Kollege ab.

Sie wurde wütend. „Nein! Das ist er nicht. Ich treffe mich gleich mit Torben zum Essen.“

„Christine, bitte, ich steh auf diese Heulerei bei solchen Fällen nicht. Und Torsten hat schon was getrunken.“

„Ihr hockt also wieder vor dem Fernseher und glotzt Fußball.“

„Nein. Äh, ja.“

Kommissarin Bernard schnaubte. Im Hintergrund hörte sie Torsten Kluges Stimme, verstand aber nicht, was er sagte. Wenigstens schlug ihr endlich warme Luft aus den Lüftungsdüsen ihres Wagens entgegen. Sie schaltete das Gebläse nun auf die höchste Stufe.

„Ich bin in Pumps und Kleid. Ich kann doch so jetzt nicht dort hinfahren.“

„Die Kollegen von der Streife sind vor Ort. Du kannst dich vorher noch umziehen.“

Der Abend war gelaufen. So sehr sie sich auch wehrte, es bestand keine andere Möglichkeit.

Jörg Rottmann war einer Mutter, die sich um ihr Kind sorgte, kaum zuzumuten. Der ruppige Hauptkommissar nahm es nötigenfalls zwar mit drei Schwerverbrechern gleichzeitig auf, aber eine in Tränen aufgelöste Frau stellte ihn vor unlösbare Probleme. Und einen angetrunkenen Torsten Kluge konnte man auch nicht auf die Bevölkerung loslassen. Also blieb nur Frau Kommissarin übrig.

So ein Mist.

„Christine?“

„Ja“, fauchte sie gegen den Bildschirm ihres Handys.

„Ich dachte, du hättest aufgelegt.“

„Mache ich auch gleich“, blaffte sie.

Keinesfalls wollte sie sich diesen Abend, auf den sie sich so lange gefreut hatte, ohne Widerstand verderben lassen.

„Kann ich dir schon mal die Adresse geben?“, murmelte ihr Kollege ungewohnt unterwürfig.

Am liebsten hätte sie „Nein“ geschrien. Aber unüberlegte pubertäre Reaktionen waren einer Kommissarin der Trierer Kriminalpolizei unwürdig. Also gab sie nach.

„Lass hören“, stöhnte sie.

Die Adresse war ihr bekannt. Nicht die Wohnung oder wer darin wohnte, aber die Straße. Sie lag im Trierer Norden in der Nähe des Fußballstadions.

Hauptkommissar Rottmann war erleichtert. „Hast einen gut bei uns.“

„Du mich auch“, protestierte sie ein letztes Mal, aber ihre Wut war bereits verflogen. Sie beendete das Gespräch und wählte Torben Heintz’ Nummer.

Wie Torben mit Enttäuschungen umging, konnte sie nicht wissen. So lange kannten sie sich noch nicht. Sein Vorgänger Frank jedenfalls hatte sich tagelang zurückgezogen und sie mit Liebesentzug gestraft. Kindisch, klar, aber es war nun mal einer seiner Wesenszüge gewesen.

Aus dieser Zeit stammte auch ihr Unbehagen, wenn sie ihrem Partner schlechte Nachrichten überbringen musste.

Nach drei Freizeichen hörte sie Torbens Stimme.

„Hallo, Christine. Hat dir das Konzert gefallen?“

Torben wirkte aufgekratzt, angeheitert. Bestimmt hatte er bereits ein Glas Sekt getrunken.

„Ja, natürlich. Ihr wart wunderbar. Eine fantastische Vorstellung.“

„Das freut mich. Ich habe aber auch gespielt als gäbe es kein Morgen mehr. Mein Gott, war ich nervös. Du im Publikum.“

„Torben …“

„Und dein rotes Kleid. Was für ein Anblick!“, unterbrach er sie.

„Torben, ich kann mich leider nicht mit dir zum Essen treffen. Ich muss absagen. Es tut mir so leid. Ich hatte mich so sehr darauf gefreut. Ich …“

Wieder unterbrach Torben sie.

„Aber das ist doch nicht schlimm. Du wirst deine Gründe haben. Wir holen das nach.“

Verblüfft wusste Christine Bernard zunächst nicht, was sie nun sagen sollte. So ging das also auch. Keine Vorwürfe. Kein Betteln. Keine Drohungen. Stattdessen Verständnis.

„Ein junges Mädchen wird vermisst …“

Und noch einmal unterbrach Torben sie.

„Du bist bei der Polizei. Das weiß ich doch. Dafür musst du dich doch nicht entschuldigen. Ich ziehe mit den Kollegen los und melde mich, bevor ich nach Hause fahre.“

Erleichtert stimmte sie zu.

„Das ist eine gute Idee. Bis später.“

Dankbar für Torbens Güte und die warme Luft aus den Lüftungsdüsen setzte sie ihren Wagen rückwärts aus der Lücke heraus, verließ den Parkplatz und fuhr nach Hause.

Wenige Minuten später betrat sie ihre Wohnung, zog ihr Abendkleid aus und legte ihre Dienstkleidung an.

Christine Bernard. Das Eisrosenkind

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