Читать книгу Christine Bernard. Das Eisrosenkind - Michael E. Vieten - Страница 6

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Rosalia

An den Anblick von Streifenwagen vor dem Haus waren die Bewohner der heruntergekommenen Siedlung gewöhnt.

Keiner der Mieter in den langen Wohnblöcken mit dem vergilbten, rissigen Putz und den vielen nachlässig montierten Satellitenschüsseln an der Fassade machte sich die Mühe, einen längeren Blick aus dem Fenster zu werfen. Für das Geschehen vor dem Gebäude gegenüber interessierte sich niemand.

Was sollte auch schon passiert sein? Sicher hatte irgendein missratener Sprössling aus der Nachbarschaft in einem Supermarkt wieder einmal zugegriffen. Jetzt wurde er wahrscheinlich abgeholt, vernommen und wieder heimgeschickt. In ein paar Wochen brummte man ihm ein paar Sozialstunden auf. Das war’s. Ein kurzer Blick aus dem Fenster auf dem Weg vom Fernsehsessel zum Kühlschrank musste an Aufmerksamkeit für die Nachbarn genügen. Den weißen Renault, der sich eine halbe Stunde später hinter den Streifenwagen schob, bemerkte niemand mehr.

Kommissarin Bernard klingelte bei „Lemke“ und drückte nach einem leisen Summen die Tür auf. Im Treppenhaus roch es nach feuchtem Keller und Küchendünsten.

Margit Lemke bewohnte mit ihrer Tochter das Hochparterre auf der rechten Seite. Eine junge Polizeimeisterin stand in der Tür, erwiderte Christine Bernards Gruß, nickte den ihr entgegengehaltenen Dienstausweis ab und stellte sich leise vor.

„Polizeimeisterin Röhm.“

Christine Bernard trat in den Flur der Wohnung und drückte die Wohnungstür hinter sich zu.

Zigarettenrauch stand in der Luft. Aus einem Raum am Ende des Flurs hörte sie ein Wimmern und die beruhigende Stimme eines Mannes.

„Mein Kollege“, erklärte Polizeimeisterin Röhm.

Kommissarin Bernard nickte stumm. „Was ist passiert?“

„Margit Lemke vermisst ihre achtjährige Tochter Rosalia seit etwa 18:00 Uhr. Das Kind sollte von der Nachbarin aus dem Kinderhort abgeholt werden und dann den Abend bei der alten Dame verbringen, bis die Mutter von der Arbeit zurück ist. Frau Rosin ist im Ruhestand. Sie war Lehrerin an einer Grundschule. Sie wohnt in diesem Haus auf der gleichen Etage. Der Hort liegt keine hundert Meter von hier entfernt. Rosalia war nicht dort. Frau Rosin hat Frau Lemke verständigt, die konnte aber ihren Arbeitsplatz nicht verlassen. Sie hat sich vergeblich um eine Vertretung bemüht. Die Vermisstenmeldung ging um 20:45 Uhr bei uns ein. Wir haben Frau Lemke um 22:00 Uhr von ihrer Arbeitsstelle abgeholt und nach Hause gefahren. Sie hat ein paar Mal mit Nachbarn und Eltern anderer Kinder telefoniert, aber niemand hat Rosalia gesehen.“

„Der Vater?“

„Arbeitet hier in Trier in einer Zigarettenfabrik. Seine Spätschicht war um 22:00 Uhr beendet. Er geht aber nicht an sein Telefon.“

„Oma und Opa?“

„Wohnen in Rostock. Zu weit weg.“

„Onkel? Tanten?“

„Kein Kontakt.“

„Wurde die nähere Umgebung abgesucht? Keller? Dachboden? Spielplätze? Das Schulgelände? Versteckmöglichkeiten? Wurden Nachbarskinder schon befragt? Ist heute Abend ein Notruf eingegangen, der dem vermissten Kind zugeordnet werden könnte?“

Polizeimeisterin Röhm nickte mehrmals und schüttelte zum Schluss ihren Kopf.

„Fahndung eingeleitet?“

„Ja. Hat der KDD bereits gemacht. Personenfahndung, Öffentlichkeitsfahndung und zwei Personenspürhunde. Ein Hubschrauber mit Wärmebildkamera ist unterwegs.“

„Mitfahndungsersuchen an das Technische Hilfswerk und die Feuerwehr für Beleuchtung in Parkanlagen und am Moselufer ist raus? Das Rote Kreuz für die Abfrage der Ärzte-Notdienste und der Krankenhäuser ist eingebunden?“

Polizeimeisterin Röhm nickte bestätigend.

Kommissarin Bernard atmete durch und betrat das Wohnzimmer.

Polizeimeisterin Röhms Kollege saß breitbeinig auf dem vorderen Rand der Sitzfläche eines Sessels und drehte nervös seine Dienstmütze mit den Händen zwischen seinen Knien.

Rosalias Mutter saß in Jeans und einem verwaschenen Sweatshirt gekleidet auf dem Sofa, zog ihre Nase hoch und wischte sich mit dem Handrücken Tränen aus dem Gesicht. Mit geröteten Augen schaute sie auf. Von der Zigarette zwischen den Fingern ihrer anderen Hand stieg Rauch in ihre langen, strähnigen Haare.

Christine Bernard schätzte die dunkelblonde Frau auf Ende zwanzig oder Anfang dreißig, obwohl sie deutlich älter aussah.

„Guten Abend, Frau Lemke. Ich bin Kommissarin Christine Bernard. Ich übernehme die Ermittlungen. Darf ich mich neben Sie setzen?“

Margit Lemke nickte und zog an ihrer Zigarette, während sie die junge Kommissarin misstrauisch dabei beobachtete, wie sie neben ihr Platz nahm. Sie war verzweifelt und zu ihrer Sorge um ihr Kind gesellte sich nun auch noch die Angst, dass man ihr Vorwürfe machte. Etwas anderes konnte man doch von so einer Frau wie dieser Kommissarin nicht erwarten, oder?

Sie waren beide etwa gleich alt. Nur war diese Kommissarin im Gegensatz zu ihr eine attraktive, selbstbewusste junge Frau, die jeden Tag ihrem wichtigen Beruf nachging. Durchsetzungsfähig. Hat Karriere gemacht. Und sie? Nicht einmal auf ihr Kind konnte sie aufpassen. Ihre Ehe war gescheitert, sie hatte einen schlecht bezahlten Job im Schichtdienst, der ihr keinen Spaß machte, und sie litt unter Schlafstörungen, die schleichend ihre Gesundheit ruinierten. Von ihrem mickrigen Einkommen konnte sie sich und ihre Tochter gerade so über Wasser halten. Vorausgesetzt, es verreckte nicht irgendein Haushaltsgerät. Denn ersetzen konnte sie es nicht. Dafür blieb von ihrem Gehalt nichts übrig. Oft genug ging sie mit den letzten fünf Euro in der Tasche zum Discounter und rechnete die Preise der Produkte in ihrem Einkaufswagen zusammen, bevor sie ihren Einkauf beendete. Weil sie die Peinlichkeit nicht ertragen konnte, an der Kasse womöglich ein paar Cent zu wenig zum Bezahlen dabeizuhaben. Nicht selten war an solchen Tagen der Monat noch lange nicht vorbei. Und selbst wenn der nächste Monat längst begonnen hatte und Zahlungen fällig wurden, ihr Chef überwies selten pünktlich. Dann stand sie jeden Tag in der Filiale ihrer Bank am Kontoauszugsdrucker und betete, dass ihr Gehalt endlich eingegangen war. Oft vergeblich. Also wieder vertrösten oder belügen. Ihre Tochter, den Vermieter oder die Telefongesellschaft. Lastschriften gingen zurück und wurden mit einem deftigen Aufschlag erneut abgebucht. Oft unnützer Kram wie Rundfunk-Gebühren. Von den monatlichen Beiträgen könnte sie für sich und ihre Tochter Lebensmittel für eine Woche kaufen. Aber von all diesen Dingen verstand so eine wie die da nichts. Da war sich Margit Lemke sicher.

„Frau Lemke?“

„Ja“, antwortete Rosalias Mutter mit einem scheuen Seitenblick.

„Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?“

„Nur zu“, schniefte sie resigniert und drückte ihre Zigarette im Aschenbecher auf dem Tisch vor sich aus. Dann schob sie ihre beiden Hände zwischen ihre Oberschenkel. Gerötete Hände, mit kurzen Fingernägeln und rissiger Haut. Hände, die zupacken mussten. Jeden Tag.

‚Diese Frau weiß, was Arbeit ist‘, dachte Christine Bernard.

„Erzählen Sie mir bitte, was passiert ist.“

„Aber das haben Ihre Kollegen mich doch schon alles gefragt.“

„Ich weiß“, antwortete die junge Kommissarin beruhigend. „Aber ich möchte es noch einmal von Ihnen hören. Schaffen Sie das?“

Rosalias Mutter nickte und bestätigte die Aussage von Polizeimeisterin Röhm.

„Was ist mit dem Vater? Ihr Mann ist doch Rosalias Vater, oder?“

Margit Lemke nickte noch einmal.

„Können Sie sich vorstellen, warum wir ihn nicht erreichen können?“

„Weil er sich nie um uns gekümmert hat. Wir sind ihm völlig egal. Sogar die Vaterschaft von Rosalia hat er angezweifelt. Wahrscheinlich ist er mit seinen Kollegen einen saufen. Was weiß ich. Seit Rosalias Geburt stehe ich mit dem Kind alleine da. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich liebe meine Tochter, aber manchmal fürchte ich, das alles nicht mehr zu schaffen. Frühschicht und Spätschicht im Wechsel. Überstunden, meistens unbezahlt. Ich sitze täglich zwei Stunden im Bus, um meine Arbeitsstelle zu erreichen und wieder nach Hause zu kommen. Ich sehe Rosalia kaum und bin ständig auf Hilfe angewiesen.“

„Wo arbeiten Sie?“

„In einer großen Bäckerei in Wittlich. Ich habe in Trier keinen vernünftigen Job gefunden.“

„Und ein Umzug?“

„Ich habe nur einen Zeitvertrag. Rosalia müsste die Schule wechseln. Sie verliert all ihre Freunde. Hier habe ich wenigstens Frau Rosin, die mir hilft. Ein Umzug lohnt sich nicht, die Kosten dafür kann ich ohnehin nicht aufbringen.“

„Das verstehe ich. Gibt es einen neuen Mann in Ihrem Leben?“

Margit Lemke schüttelte ihren Kopf.

„Nichts Festes.“

„Wann haben Sie Rosalia zuletzt gesehen?“

„Heute Morgen, ich habe sie zur Schule gebracht. Von dort geht sie nach dem Unterricht mit anderen Kindern zusammen in den Kinderhort. Ich bin um 12:15 Uhr in den Bus gestiegen und nach Wittlich gefahren.“

„Gab es einen Streit oder fällt Ihnen ein anderer Anlass ein, der Rosalia einen Grund dafür geben könnte, von ihrem Zuhause wegzubleiben? Erwartete Rosalia eine Bestrafung?“

„Nein. Wir haben uns nicht gestritten. Und Angst vor einer Strafe braucht Rosalia nicht zu haben. Sie ist ein liebes Kind.“

Kommissarin Bernard nickte kurz.

„Was hatte Rosalia heute an?“

„Turnschuhe, Jeans, einen rosa Pulli und eine rote Jacke.“

„Und der Schulranzen?“

„Leuchtend gelb und orange.“

„Haben Sie ein Foto von Rosalia für mich?“

Polizeimeisterin Röhm räusperte sich und reichte Christine Bernard ein Foto, bevor Margit Lemke antworten konnte. Die Kollegen hatten es offenbar bereits erhalten. Auf der Fotografie schaute ein Mädchen mit langen blonden Haaren schüchtern in die Kamera und lächelte. In der Hand hielt Rosalia eine Eiswaffel. Geschmolzene Eiscreme lief über ihre Finger.

Margit Lemke warf einen kurzen Blick auf das Foto. Plötzlich begann sich ihre Atmung zu beschleunigen. Immer heftiger holte sie Luft und stieß sie ruckartig wieder aus. Ihre Haltung verkrampfte sich. Mit jedem Atemzug pendelte ihr Oberkörper vor und zurück. Ein Anfall!

„Sie hyperventiliert“, rief Kommissarin Bernard und schaute sich suchend um.

Polizeimeisterin Röhm riss ihr Mobiltelefon aus ihrer Jackentasche und forderte einen Notarzt an.

Die Kommissarin entdeckte eine Plastiktüte neben dem Sofa, griff danach und schüttete den Inhalt auf den Boden. Zeitschriften fielen heraus. Margit Lemke begann zu zittern und riss ihre Augen weit auf. Immer heftiger atmend drohte ihr Bewusstlosigkeit. Kommissarin Bernard rückte dicht an sie heran, zog die Öffnung der Plastiktüte durch ihre hohle Hand und drückte sie ihr auf den Mund. Mit dem anderen Arm verhinderte sie, dass Margit Lemke die Tüte wegstoßen konnte.

„Atmen Sie in die Tüte, Frau Lemke! In die Tüte atmen!“

Heftige Atemstöße ließen die Tüte knisternd und raschelnd abwechselnd aufblähen und wieder zusammenfallen.

„Frau Lemke, schauen Sie mich an! Es ist alles gut. Sie haben eine Panikattacke. Die ist gleich vorbei. Atmen Sie ruhiger. Frau Lemke! Ruhig atmen. Beruhigen Sie sich bitte.“

Margit Lemke starrte Christine Bernard über die Plastiktüte hinweg an. Langsam beruhigte sie sich. Ihre Atemzüge wurden allmählich flacher. Ihre Abwehrbewegungen nahmen ab. Die junge Kommissarin strich ihr beinahe liebevoll eine Haarsträhne aus dem verschwitzten Gesicht.

Jemand klingelte. Polizeimeisterin Röhm öffnete. Ein Notarzt und zwei Sanitäter betraten die Wohnung. Christine Bernard entfernte die Plastiktüte vor Margit Lemkes Gesicht. Speichelfäden hingen von ihren Lippen herab.

„Ich brauche ein Handtuch.“

Polizeimeisterin Röhm verschwand im Bad und kam mit einem Handtuch wieder. Sorgfältig tupfte Kommissarin Bernard der erschöpften Frau Speichel und Tränen aus dem Gesicht. Die ließ es widerstandslos geschehen.

Der Notarzt entblößte ihren rechten Unterarm.

„Wie heißt sie?“

„Margit“, antworte Christine Bernard.

„Margit, ich bin Arzt. Ich gebe Ihnen jetzt eine Spritze. Es ist ein Beruhigungsmittel. Danach messe ich Ihren Blutdruck. Haben Sie mich verstanden?“

Margit Lemke nickte und ließ die Erstversorgung über sich ergehen. Der Notarzt brachte die Manschette seines Blutdruckmessgerätes an ihrem Oberarm an und beobachtete seine Patientin während der Messung aufmerksam. Dann entfernte er die Manschette und steckte das Gerät in seinen Koffer.

„Schlechter Allgemeinzustand“, informierte er die Kommissarin. „Wir nehmen sie mit.“

„In welche Klinik?“

„Marienkrankenhaus. Trier-Ehrang.“

Dann wandte er sich an seine Patientin.

„Margit, ich möchte Sie mitnehmen ins Krankenhaus. Es ist besser so. Ihr Zustand gefällt mir gar nicht.“

Margit Lemke schüttelte heftig ihren Kopf.

„Ich muss hier bleiben. Rosalia …“

„Darum kümmere ich mich“, unterbrach Kommissarin Bernard sie. „Sie müssen sich erholen. Ich suche Rosalia. Und wenn ich sie gefunden habe, braucht sie eine gesunde Mama.“

Rosalias Mutter gab schließlich auf. Die beiden Sanitäter schnallten die schlanke Frau auf einer Trage fest und trugen sie hinunter in den Krankenwagen. Ein Schneeregenschauer bewarf sie mit halbgefrorenen Flocken.

Die Nachbarn interessierten sich nun doch für das Geschehen im zuckenden Blaulicht. Sie standen an den Fenstern und orakelten. Hatte wieder einer seine Alte verdroschen? Ein Herzinfarkt bei irgendeinem Opa? Vollrausch? Alkoholvergiftung? Drogen? Irgendetwas davon würde es sicher sein. Kein Grund sich aufzuregen. Alltag hier in der Siedlung.

Die alte Dame aus der Wohnung gegenüber hatte den Abtransport von Margit Lemke bemerkt und stand plötzlich in ihrem Morgenmantel, mit den Füßen in flauschigen Pantoffeln, im kalten Hausflur. Kommissarin Bernard sprach sie an.

„Guten Abend. Sie sind Frau Rosin?“

„Ja, was ist denn mit Frau Lemke?“

„Wir bringen sie in ein Krankenhaus. Es geht ihr nicht gut.“

„Das denke ich mir. Arme Frau. Haben Sie Rosalia gefunden?“

„Nein. Wollen wir hineingehen? Es ist kalt hier draußen.“

„Ja, natürlich. Kommen Sie nur.“

Frau Rosin schloss hinter Kommissarin Bernard die Wohnungstür.

„Haben wir Sie geweckt?“

„Oh, nein. Ich schaue abends immer lange Fern. Ich bin eine Nachteule“, gestand sie. „Das frühe Aufstehen in den Jahren meiner Berufstätigkeit war mir ein Gräuel.“

Kommissarin Bernard schmunzelte.

„Darf ich mich kurz umsehen?“

„Ja, machen Sie nur. Aber Rosalia ist nicht hier.“

Gerlinde Rosin war alt, aber nicht blöd. Natürlich wollte diese Polizistin die Gelegenheit nutzen und einen möglichen Aufenthaltsort von Rosalia ausschließen.

„Tut mir leid, aber ich muss das tun.“

„Ist schon gut. Sie machen nur Ihre Arbeit. Sind Sie gerne bei der Polizei?“

„Meistens. Nicht immer. Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Christine Bernard, Kriminalkommissarin.“

Gerlinde Rosin schaute auf den Dienstausweis und tat zumindest so, als könnte sie ihn ohne ihre Brille lesen.

„Christin‘ Bernar‘“, wiederholte sie. „Ihr Name klingt so französisch. Ist Ihr Vater Franzose?“

„Papa war Luxemburger. Meine Eltern leben nicht mehr.“

„Das tut mir leid. So ein junges Ding und schon Kommissarin. Sie müssen tüchtig sein.“

„Ich tue, was ich kann.“

Gerlinde Rosin lächelte zufrieden und ließ sich in ihren Sessel plumpsen.

Christine Bernard blieb stehen. Viele Fragen hatte sie an die alte Dame ohnehin nicht.

Gerlinde Rosin hatte Rosalia kurz vor 18:00 Uhr vom Kinderhort abholen wollen, wie an jedem anderen Tag auch. Doch heute war Rosalia nicht dort gewesen, und niemandem war ihr Verschwinden aufgefallen.

„Ist Rosalia nach der Schule denn überhaupt im Hort eingetroffen?“

„Das habe ich vergessen zu fragen“, entschuldigte sich Gerlinde Rosin.

„Macht nichts. Dann mache ich das morgen früh.“

Margit Lemkes Nachbarin konnte zu den Ermittlungen nichts Neues beitragen. Ihr war kein möglicher Aufenthaltsort bekannt, den Margit Lemke an diesem Abend nicht schon abtelefoniert hatte.

Kommissarin Bernard legte ihre Visitenkarte auf den Couchtisch.

„Wenn Ihnen noch etwas einfällt oder Rosalia sich bei Ihnen meldet, rufen Sie mich bitte an.“

Die alte Dame stemmte sich aus ihrem Sessel und begleitete die Kommissarin zur Tür.

„Gute Nacht, Frau Rosin.“

„Gute Nacht. Ich bete für Margit und Rosalia.“

„Tun Sie das. Haben Sie einen Wohnungsschlüssel von Frau Lemke, falls ich später noch einmal in die Wohnung muss?“

Gerlinde Rosin nickte.

Kommissarin Bernard bedankte sich bei Polizeimeisterin Röhm und ihrem Kollegen für deren Einsatz, trat in den Flur von Margit Lemkes Wohnung und schloss die Wohnungstür. Dann schaute sie sich in den Räumen um.

Ein kleines, fensterloses Bad. Zwei Zahnputzbecher. Zwei Zahnbürsten. Zwei Handtücher. Zwei Badetücher. Zwei Bademäntel. Die üblichen Kosmetika.

Eine nur wenig größere Küche. Ein gefüllter Kühlschrank. Gemüse, Brot, Wurst, Käse, Konfitüre, Margarine. Auch hier das Übliche. Säfte, Mineralwasser, Milch und eine angebrochene Flasche billiger Rotwein. Vier weitere davon noch verschlossen neben dem Kühlschrank. Sonst kein Alkohol.

Margit Lemkes Schlafzimmer. Ein Fenster. Gardinen geschlossen. Ein schmales Bett. Gemacht. Ein Roman auf dem Boden davor. Aufgeschlagen. Ein Wäschekorb. Leer. Eine Stehlampe. Ein Schrank. Türen geschlossen. Damenkleidung darin. Schuhe. Ganz oben in einem Fach ein Körbchen mit Medikamenten. Schmerzmittel. Pflaster. Mittel gegen Erkältungsbeschwerden und Durchfall. Eine normale Hausapotheke. Unauffällig.

Ein alter Rattan-Sessel. Abgelegte Kleidung darauf. Ein Weidenkorb, gefüllt mit Bügelwäsche.

Das Wohnzimmer. Ein alter Röhrenfernseher. Eine billige Stereo-Anlage. Sofa. Zwei Sessel. Schrankwand. Fotos von Margit Lemke und ihrer Tochter. Ein älteres Paar. Oma? Opa? Ein paar DVDs. Ein Player. Billiges Modell. Bilder an der Wand. Importware aus Fernost mit verträumten Motiven.

Vor dem Sofa lagen die Plastiktüte, die Zeitschriften und die Kunststoffverpackung der Beruhigungsspritze auf dem Boden. Christine Bernard sammelte die Zeitschriften ein und legte sie zusammen mit der Plastiktüte auf den Couchtisch. Dort sah sie Rosalias Foto liegen und steckte es ein. Die Verpackung der Spritze nahm sie mit in die Küche und warf sie in den Abfalleimer.

Margit Lemkes Wohnung wirkte aufgeräumt, geordnet. Die Einrichtung war alt, verschlissen und sicher nicht teuer gewesen. Aber so lebte ein Großteil der deutschen Bevölkerung, vor allem alleinerziehende Mütter. Immer am Rande des finanziellen Ruins mit Aussicht auf eine mickrige Rente nach dreißig, vierzig Jahren unterbezahlter Berufstätigkeit. Nichts Besonderes also. Deutschland im 21. Jahrhundert. Christine Bernard kannte nur wenige Menschen, denen sie die heruntergebeteten Erfolgsmeldungen der Regierung zuordnen konnte, die jeden Tag durch die Medien verbreitet wurden. Deutschland ginge es gut. Schon möglich. Aber sie sah und erlebte täglich das Gegenteil. Wo oder wer also war dieses geheimnisvolle Deutschland, dessen Wirtschaft angeblich vor Kraft nur so strotzte und die dennoch überwiegend mies bezahlte Jobs und Zeitarbeit anbot?

Sie betrat Rosalias Kinderzimmer. Der Lampenschirm warf Mond und Sterne an die Decke und die Wände. Ein gemachtes Bett. Ein Tisch. Ein Stuhl. Scheibengardinen am Fenster. Rote Vorhänge. Nicht zugezogen. Ein Kleiderschrank. Die Tür nur angelehnt. Kinderkleidung darin. Schuhe. An den Wänden zwei Poster. Prinzessin Fantaghirò und Pocahontas. Drumherum selbst gemalte Bilder. Kindliche Darstellungen von Bäumen, Wiesen, Kühen, der Sonne, vom Mond und von Sternen. Ein etwas mitgenommenes Puppenhaus. Schulsachen. Ein blauer Teppich auf dem Boden. Die Ecke an einer Seite war umgetreten. Billiges Spielzeug in einem halbhohen Regal. Bilderbücher. Malbücher. Ein CD-Player. Märchen-CDs. Ein Kinderzimmer, wie es sie zu Tausenden gab. Rosalia wuchs trotz der schwierigen beruflichen und finanziellen Situation ihrer Mutter offenbar behütet auf.

Kommissarin Bernard beendete ihren Streifzug durch Margit Lemkes Wohnung.

Eine Mutter kämpft sich mit ihrer Tochter durch ihr tägliches Leben. Mehr gab es hier nicht zu sehen. Kein Hinweis auf eine dritte Person. Keine Hinweise auf Hinwendungsorte der kleinen Rosalia oder eine erste Theorie, was passiert sein könnte.

Nach einem aus Angst vor irgendwas einfach weggelaufenen Kind sah es auf den ersten Blick auch nicht aus. Auch wenn der jungen Kommissarin diese Variante am liebsten gewesen wäre. Denn weggelaufene Kinder standen zu dieser Jahreszeit meist binnen 48 Stunden hungrig und frierend von alleine wieder vor der Tür.

Das Mobiltelefon in ihrer Jackentasche klingelte. Sie nahm das Gespräch an.

„Hallo Christine. Ich fahre nicht mehr heim. Ich nehme mir irgendwo ein Zimmer. Ich habe zu viel getrunken.“

„Nicht nötig, Torben. Du kannst bei mir übernachten. Ich bin hier fertig. Wo bist du? Ich hole dich ab.“

„Das brauchst du nicht. Von hier ist es nicht weit bis zu dir nach Hause. Ein kleiner Spaziergang wird mir guttun. Bis gleich.“

„Ja, ist gut. Bis gleich.“

Leise zog sie die Wohnungstür hinter sich ins Schloss. Kurz überlegte sie, Frau Rosin um den Schlüssel zu bitten und die Tür zu verriegeln, unterließ es dann aber. Die alte Dame war sicher schon zu Bett gegangen.

Die Borduhr ihres Mégane zeigte ein Uhr. Wirklich Zeit nach Hause zu fahren. Sie freute sich auf Torben. Wie umgänglich er war. So ganz anders als Frank damals, dieser Macho.

Torben und sie waren seit Kurzem ein Paar. Bei diesem Gedanken wurde sie unsicher. Waren sie ernsthaft schon ein Paar? Nun ja. Sie gingen hin und wieder gemeinsam aus, sie hatten miteinander geschlafen und schickten sich ab und zu gegenseitig SMS.

„Was machst du gerade?“

„Ich vermisse dich.“

„War schön gestern.“

Schwülstiges Zeug halt, wie Kollege Rottmann genervt feststellte, nachdem an einem verregneten Vormittag im Büro ein halbes Dutzend Mal der Klingelton für Kurznachrichten erklang und seine Kollegin immer wieder neugierig nach ihrem Handy griff.

Sie beschloss, Torben direkt danach zu fragen. ‚Sind wir ein richtiges Paar oder was ist das hier mit uns beiden?‘, doch der Gedanke daran verunsicherte sie wieder. Vielleicht war es noch zu früh, Torben mit ihrer Konsequenz zu konfrontieren? Ein gemeinsamer Urlaub wäre schön. Der böte ausreichend Gelegenheit, die Gefühle füreinander zu prüfen und ihr Bedürfnis nach klaren Verhältnissen zu befriedigen.

Die Heizungswärme ihres Wagens machte sie träge. Gähnend parkte sie den Renault und öffnete die Wagentür. Augenblicklich schlug ihr die feuchtkalte Nachtluft entgegen. Nun war sie wieder wach.

Kein Torben erwartete sie vor dem Haus. Sie beeilte sich, in ihre geheizte Wohnung zu kommen.

Während sie ihre Kleidung auszog und sich in ihren Bademantel einwickelte, klingelte es.

Torben schnaufte die Treppe herauf und nahm sie in den Arm. Ein kurzer Kuss. Er roch nach Kneipe.

„Ich bin fix und fertig.“

Sie lachte.

„Ist ein Konzert für Musiker so anstrengend?“

„Nur wenn du im Publikum sitzt und ich danach mit den Kollegen losziehe.“

„Möchtest du noch etwas essen?“

„Nein. Ich will nur noch ins Bett“, bettelte er.

„So müde?“

Torben nickte und zog seinen Mantel aus.

„Zu müde?“, fragte sie etwas schlüpfrig.

Torben blickte bedauernd drein und nickte erneut. Sie lachte.

„Keine Sorge, war nicht ernst gemeint.“

Eine viertel Stunde später löschte Christine Bernard im Bad das Licht und betrat ihr Schlafzimmer.

„Was hältst du davon, wenn wir einen gemeinsamen Urlaub machen?“

Torben Heintz lag in ihrem Bett auf dem Bauch und bewegte sich nicht.

„Torben?“

Gleichmäßige Atemzüge verrieten ihr, dass sie die Antwort auf ihre Frage in dieser Nacht nicht mehr erhalten würde.

Christine Bernard. Das Eisrosenkind

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