Читать книгу Christine Bernard. Das Eisrosenkind - Michael E. Vieten - Страница 7

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Das Eisrosenkind

Im Morgenmantel, mit einer Tasse Kaffee in ihrer Hand, stand Christine Bernard in der Küche am Fenster und schaute hinaus.

Reif hatte sich über die Stadt gelegt. Ein leichter Wind drückte den Rauch aus den Kaminen auf den Dächern der Häuser nach Westen. Müde knabberte sie an einer Scheibe Toast. Die Nacht war zu kurz gewesen. Der Morgen kalt, aber sonnig. Sie ließ Torben schlafen. Leise kleidete sie sich an, zog die Wohnungstür hinter sich zu und stieg die Stufen im Treppenhaus hinab.

Der hoffentlich letzte Nachtfrost in diesem Frühjahr hatte die Scheiben ihres Wagens zufrieren lassen. Herabgerutschter Schneematsch war in dicken Klumpen an den Scheibenwischern angefroren. Sie ließ den Motor an und schaltete die Heckscheibenheizung und das Heizungsgebläse zum Entfrosten der Windschutzscheibe ein. Dann begann sie, mit einem kleinen Plastikschaber die Scheiben freizukratzen. Ohne Handschuhe. Die lagen oben in ihrer Wohnung auf der Garderobe. Nach wenigen Sekunden spürte sie ihre Fingerkuppen nicht mehr. Sie begann zu fluchen, hauchte auf ihre angefrorenen Finger und rieb ihre Hände aneinander. Grinsend ging ein gut gekleideter Mann mit Aktenkoffer an ihr vorbei.

‚Ja, lach du nur, du Depp‘, dachte sie wütend. Wenigstens kam sie ungehindert durch den Berufsverkehr. Eine freie Parklücke vor der Kriminaldirektion Trier besänftigte sie vollends.

‚Wegen welcher Nichtigkeiten man in Rage geraten kann‘, belächelte sie sich selbst.

Amüsiert stieg sie aus ihrem Wagen und warf die Tür zu. Mit einem kurzen Druck auf die Fernbedienung verriegelte sie ihn und überquerte den Parkplatz.

Plötzlich schoss ein dunkelgrauer Wagen heran und stoppte dicht neben ihr. Die Seitenscheibe auf der Fahrerseite wurde heruntergelassen. Hauptkommissar Kluges Gesicht erschien.

„Morgen. Die Dienstbesprechung wurde verschoben. Wir haben einen Einsatz. Steig ein.“

Noch während Kommissarin Bernard nach dem Sicherheitsgurt angelte, setzte ihr Kollege den schweren Audi kraftvoll zurück und fädelte sich in den morgendlichen Verkehr ein.

„Dein Mädchen aus der Fahndung, Rosalia Lemke, ich glaube, wir haben sie gefunden.“

Christine Bernard musterte das Profil ihres Kollegen. Sein Gesichtsausdruck passte nicht zu einer guten Nachricht.

„Wo?“

Sie fürchtete sich plötzlich vor der Antwort.

„Am Moselufer. Der Mantrailer von einem unserer Hundeführer hat sie gefunden.“

Ihr Magen zog sich zusammen. Sie biss sich auf die Unterlippe, nickte stumm und bekam feuchte Augen. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Schnell schaute sie aus dem Seitenfenster.

Diese Reaktion. Das würde nie vergehen. Und wenn doch, dann müsste sie ihren Beruf aufgeben. Abgestumpft, ohne Mitgefühl für die Menschen und deren Schicksale, wollte sie diesen Job nicht mehr ausüben. Ihre Empathie war ihr Treibstoff, der es ihr ermöglichte, jeden Tag Dienst für die Sicherheit dieser Menschen zu tun. Und wenn sie einige schon nicht vor dem Bösen beschützen konnte, dann wollte sie wenigstens die Täter stellen.

Jeder Polizeibeamte hoffte, nie in einem Fall ermitteln zu müssen, in dem ein Kind getötet wurde. Doch kaum einem Beamten blieb diese traurige Arbeit erspart. Irgendwann war es eben so weit. Nun war sie selbst also dran.

Langsam rollten sie mit ihrem Dienstwagen über den schmalen Uferweg. Hinter dem Kleinbus der Spurensicherung ließen sie ihn stehen und stiegen aus.

Das Gelände um den Fundort herum war abgesperrt. Nur wenige Schaulustige standen an diesem kalten Morgen hinter dem Flatterband. Ein Pressefotograf knipste seine Bilder mit großem Objektiv aus der Entfernung.

Der Anblick von Kinderleichen griff jeden Polizisten an. Die Bergung und der Abtransport dieser kleinen leblosen Körper gingen jedem an die Nerven. Auch einem Jörg Rottmann, der sich keinerlei Illusionen mehr darüber hingab, zu was Menschen fähig sein konnten.

Hauptkommissar Rottmann war bereits vor Ort und entsprechend gelaunt.

„Ja, was jetzt, Günther?“, schnauzte er den Leiter der Spurensicherung an. „Ist sie es nun oder ist sie es nicht?“

„Nun mal langsam, Jörg. Auch uns greift das hier an. Alter, Aussehen und Körpergröße stimmen überein. Mehr kann ich jetzt nicht sagen.“

„Ach, leck mich doch. Ich blase die Fahndung ab.“

Wütend stolperte Rottmann davon und stieg in seinen schwarzen Dienst-BMW.

Gefühle waren nicht sein Ding. Und gerade die waren soeben im Begriff ihn zu überwältigen. Also, was tun?

Zurückweisen. Verdrängen. Stärke demonstrieren! Obwohl er selbst am besten wusste, dass dies jeder der Kollegen als ein Indiz von Schwäche deuten würde. Deutung von Verhalten gehörte schließlich zur Grundausbildung eines jeden Polizisten.

Polizeihauptmeister Günther Hagemann beugte sich in der üppigen Uferbepflanzung über den gefrorenen Körper eines etwa achtjährigen Mädchens mit langen blonden Haaren und bedeckte ihn mit einer weißen Plastikfolie. In seinem Schutzanzug, mit den übergezogenen Handschuhen und einem zusätzlich angelegten Mundschutz, war er kaum zu erkennen. Aber jeder der an diesem Einsatz beteiligten Beamten erkannte den Chef der Spurensicherung schon an seiner Statur und seinem Auftreten.

Er war der Kleinste, aber er strahlte Autorität aus. Der Polizeihauptmeister und sein Team hatten die Aufgabe, erste Spuren zu sichern und zu verhindern, dass sie vor der Sicherung vernichtet, entfernt oder verfälscht wurden. Die Auffinde-Situation musste exakt dokumentiert werden.

Spurentafeln wurden aufgestellt und Maßstäbe wurden angelegt. Alles wurde fotografiert. Kleinteile in Tüten verpackt. Fasern aufgenommen und Fußabdrücke mit Gips ausgegossen, wenn es welche gab.

Am liebsten hätte Günther Hagemann diesen Fundort aus der Landschaft herausgestochen und mit in sein Labor genommen. Denn dieser Morgen hatte es in sich. Schwierige Witterungsbedingungen erschwerten ihm und seinem Team die Arbeit. Der Nachtfrost sichert zwar grobe Spuren wie Fußabdrücke und Reifenspuren im weichen Boden, aber das Tauwasser durch die ansteigende Temperatur nach Sonnenaufgang kann feine Spuren wie Speichelreste oder Fingerabdrücke vernichten oder Haare und feinste Fasern fortschwemmen.

Polizeihauptmeister Hagemann winkte Christine Bernard und Torsten Kluge heran. Beide folgten einem abgesteckten Trampelpfad bis zur Leiche. Ihr Kollege zog zwei Mundschutze aus seinem Koffer.

„Nicht über der Leiche sprechen. Hier, setzt die auf.“

Natürlich kannte jeder Kriminalbeamte die Vorschriften am Fundort einer Leiche. Aber Günther Hagemann wurde nicht müde, immer wieder daran zu erinnern.

Dann bückte er sich und schlug die längliche weiße Folie an einem Ende um, mit der er die Kinderleiche abgedeckt hatte.

Ein kleines mit Reif bedecktes Gesicht kam zum Vorschein. Die Augen waren geschlossen. Doch der Vergleich mit Rosalia Lemkes Foto bestätigte ihre schlimmsten Befürchtungen. Die Ähnlichkeit war unübersehbar.

Ein leichter Windstoß hob die Folie ein Stück an und entblößte für einen Augenblick den Oberkörper des Kindes. Christine Bernard erschrak.

„Sie wurde unbekleidet hier abgelegt?“, entfuhr es ihr.

„Ja“, antwortete Günther Hagemann knapp.

So sehr es sich Kommissarin Bernard auch anders gewünscht hätte, aber dieses Mädchen dort war mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Margit Lemkes Tochter.

Tränen verschleierten ihr den Blick. Hastig wischte sie sie fort.

„Ist nur die kalte Luft.“

Günther Hagemann nickte beinahe väterlich.

Kommissarin Bernard warf einen letzten Blick in das hübsche Kindergesicht. Der Anblick war schrecklich und doch hatte dieses tote Gesicht einen ganz eigenen, einen letzten Zauber. Die Haut schimmerte matt in verschiedenen Grautönen und verlieh eine schlichte Würde. Dunkelgraue Lippen. Eiskristalle hatten sich auf allen Haaren gebildet. Auf den Augenbrauen und an den Wimpern sahen sie aus wie Puderzucker. Mit geschlossenen Augen lag dieses tote Kind wie die Skulptur eines Künstlers am Moselufer und zog jeden in seinen Bann.

‚Die Schönheit des Grauens‘, dachte die junge Kommissarin.

Ein letztes Mal zeigte Rosalia, was für ein hübsches Kind sie war. Bald würde sie im rechtsmedizinischen Institut aufgetaut werden. Dann setzte unweigerlich der Zersetzungsprozess ein und zerstörte den Körper dieses Mädchens, welches nur wenige Jahre ihres Lebens auf dieser Welt hatte erleben dürfen.

Torsten Kluge räusperte sich. „Die Blumen da, wurden die mit der Leiche abgelegt oder vorher angeschwemmt?“

Günther Hagemann deckte die Leiche wieder zu.

„Kann ich euch erst nach der Untersuchung mit Sicherheit sagen. Aber ich denke, die Rosen wurden mit der Leiche abgelegt.“

„Ich schenke dir Blumen und dann bringe ich dich um“, murmelte der Hauptkommissar.

„Oder umgekehrt“, entgegnete Günther Hagemann.

‚Wie eine Eisprinzessin liegt sie da‘, dachte Christine Bernard. ‚Rosalia, das Eisrosenkind.‘

Sie musste mit Margit Lemke sprechen. Ihr die schreckliche Nachricht überbringen. Diese Frau hatte den täglichen Kampf um sich und ihre Tochter verloren. Jetzt ging es ans Aufräumen. Und das war ihr Job.

Und da war sie, die zweite Antriebskraft, die es ihr ermöglichte, diesen Beruf auszuüben. Wut. Wut auf den Täter, auf eine Welt, in der so etwas möglich war und auf das Schicksal, das so etwas zuließ.

„Margit Lemke muss ihre Tochter identifizieren. Das wird ein schwerer Gang für sie.“

Polizeihauptmeister Hagemann sah seine Kollegin an und wollte Hoffnung geben, wo er selbst kaum welche sah.

„Erst mal müssen wir das Kind auftauen. Dann folgt die gerichtsmedizinische Untersuchung.“

Aber er machte sich keine Illusionen darüber, was das Ergebnis betraf. Doch darüber sprach er nicht.

Christine Bernard und Torsten Kluge wandten sich ab und stapften durch das unwegsame Gelände davon. Der Wind wehte rußigen Brandgeruch aus den Heizungen der Häuser der Stadt heran und vermischte ihn mit den Abgasen eines vorbeituckernden Schüttgutfrachters.

Mit heruntergezogenem Mundschutz und laufendem Motor saßen sie in ihrem Dienstwagen und wärmten sich im lauen Luftstrom der Gebläsedüsen die Hände.

Hauptkommissar Rottmann wendete seinen Wagen und rollte langsam dicht an Torsten Kluges Wagenseite vorbei. Seiner Gestik zufolge fuhr er zurück in die Kriminaldirektion.

Kommissarin Bernard zog ihren Mundschutz aus, nahm auch den ihres Kollegen entgegen und stopfte beide in das Handschuhfach. „Dann fahren wir ins Krankenhaus zu Margit Lemke.“

Torsten Kluge nickte und lenkte den Audi vom Uferweg herunter über das Gelände einer Tankstelle auf die Hauptstraße.

Das Marienhaus war eines der kleineren Krankenhäuser in Trier und lag außerhalb des Stadtgebiets. Nach etwas mehr als zehn Minuten standen sie vor einer jungen Angestellten an der Rezeption.

„Margit Lemke?“, murmelte die kurzhaarige Blondine abwesend, während sie in ihrem Computer nach Station und Zimmernummer suchte.

„Ja, da ist sie. Heute Nacht eingeliefert“, bestätigte sie beinahe stolz. Dann legte sie ihre Stirn in Falten.

„Frau Lemke ist leider nicht mehr bei uns. Sie wurde heute Morgen verlegt. Sind Sie Angehörige?“

Kommissarin Bernard zeigte ihren Dienstausweis vor. Die Blondine musterte ihn kurz.

„Dann darf ich Ihnen ja Auskunft geben.“

Christine Bernard nickte bestätigend.

„Frau Lemke wurde in die Psychiatrie ins Verbundkrankenhaus nach Wittlich verlegt.“

Als hätte sie Margit Lemkes Verlegung bereits erwartet, drehte sich Kommissarin Bernard auf dem Absatz um und lief los.

Torsten Kluge bedankte sich noch flüchtig bei der Rezeptionistin und folgte seiner Kollegin zum Wagen.

Wenige Minuten später steuerte er den Audi mit Richtgeschwindigkeit über die Autobahn nach Wittlich. Christine Bernard schaute schweigend aus dem Fenster.

„Psychiatrie“, murmelte sie plötzlich und sprach weiter. „Sie tut mir so leid. Aber es überrascht mich nicht. Frau Lemke war gestern Abend schon am Ende. Wie bringe ich ihr nur bei, dass ihre Tochter tot ist? Das wird sie doch endgültig in den Abgrund stoßen.“

„Soll ich es ihr sagen?“

„Nein, lass mal. Mich kennt sie schon. Aber es wäre schön, wenn du mit reinkämst.“

„Natürlich.“

Hoch über der Stadt lag das Verbundkrankenhaus Wittlich. Der Zugang zur psychiatrischen Station war durch eine Glastür versperrt. Hauptkommissar Kluge klingelte. Eine Krankenschwester öffnete und blickte kurz auf die ihr entgegengehaltenen Dienstausweise.

Christine Bernard mühte sich ein Lächeln ab.

„Wir möchten zu Frau Margit Lemke.“

„Dann muss ich sie anmelden. Kommen Sie.“

Torsten Kluge folgte seiner Kollegin. Hinter ihnen fiel die Tür ins Schloss.

„Anmelden?“

„Ja. Rein ist hier kein Problem. Raus ist schwieriger. Und wir wollen doch nicht, dass am Ende jemand an Ihrem Gesundheitszustand zweifelt, oder?“, scherzte sie.

Die Kommissarin sah ihrem Kollegen ins Gesicht und grinste.

„Na? Schiss, dass sie dich hier behalten?“

Sie warteten vor der Anmeldung ein paar Minuten auf den behandelnden Arzt.

Aus einem der angrenzenden Zimmer erklang immer wieder ein lautes, jammervolles Stöhnen. Die Krankenschwester bemerkte die besorgten Blicke der beiden Beamten.

„Die Last des Lebens kann auch einem gesunden Körper Schmerzen bereiten. Vor allem der Seele“, klärte sie auf.

Die beiden Polizeibeamten nickten beruhigt.

Weiche Gummisohlen quietschten ihnen entgegen. Mit wehendem Kittel blieb ein Mann um die vierzig vor ihnen stehen.

„Dr. Hellmann. Guten Tag.“

Seine Hände behielt er in den Kitteltaschen.

„Kommissarin Bernard. Wir müssen zu Frau Margit Lemke. Es geht um ihre Tochter.“

„Haben Sie sie gefunden?“

„Sie wissen Bescheid?“

„Sicher. Hier reden wir miteinander“, grinste er und erwartete, dass die beiden Beamten seinen Scherz verstanden.

„Das Kind ist tot.“

Dr. Hellmanns Gesicht verdunkelte sich.

„Dann darf ich Sie nicht zu Frau Lemke vorlassen. Sie ist keinesfalls in der Verfassung, eine solche Nachricht zu ertragen.“

„Wir müssen sie aber befragen.“

„Tut mir leid.“

Torsten Kluges Mobiltelefon klingelte. Er wandte sich ab und nahm das Gespräch an. Kommissarin Bernard startete einen weiteren Versuch.

„Es geht hier vielleicht um eine Entführung mit Todesfolge. Wir verlieren wertvolle Zeit. Sie können dabei sein. Ich habe nur ein paar wenige Fragen.“

„Keinesfalls.“

„Margit Lemkes Tochter muss von ihr identifiziert werden.“

„Um Gottes Willen! Das lasse ich nicht zu.“

Torsten Kluge beendete sein Telefongespräch.

„Vielen Dank, Dr. Hellmann. Hat sich erledigt.“

Verblüfft schaute Christine Bernard ihren Kollegen an und zögerte.

Hauptkommissar Kluge stand bereits an der Tür.

„Christine, kommst du?“

Dr. Hellmann quietschte wieder davon.

Torsten Kluge zog die Tür auf, ließ seine Kollegin an sich vorbeilaufen und folgte ihr.

„Was soll das?“

„Die gefundene Leiche ist nicht Rosalia Lemke.“

„Was? Wieso?“

„Die Augenfarbe stimmt nicht. Unser Rechtsmediziner, Dr. Vogler, hat die getauten Lider geöffnet. Grünblau. Eindeutig.“

„Rosalia hat blaue Augen“, murmelte Kommissarin Bernard. „Aber diese Ähnlichkeit. Unglaublich.“

„Eben.“

„Eben?“, sie verstand nicht sofort. Dann wurde ihr klar, was das bedeutete.

„Unser Fall betrifft nicht nur ein Mädchen.“

„Ist zu befürchten“, antwortete Torsten Kluge sparsam, während sie auf ihren Dienstwagen zuliefen.

„Wir müssen die Fahndung nach Rosalia wieder aufnehmen.“

Christine Bernard. Das Eisrosenkind

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