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Künstliche Intelligenz

Vigeland führte das Ermittlerteam in den Besprechungsraum des Verwaltungstrakts und entfernte sich wieder. Kurz darauf stieß Tanja dazu und schloss die Tür. Die beiden Hauptkommissare nahmen Platz. Christine setzte sich neben ihre Kollegin und begann mit ihrem Bericht. Die Polizeimeisterin ergänzte die Ausführungen mit den im Grunde gleichlautenden Aussagen der Werkerin und des Notarztes. Der verstorbene Mitarbeiter hatte das Bewusstsein trotz der umgehend eingeleiteten Wiederbelebungsmaßnahmen nicht wiedererlangt. Es konnte nur noch der Tod festgestellt werden. Die Werkerin wurde vom Produktionsleiter inzwischen nach Hause gefahren.

Kommissarin Bernard gab Jan Bredes Vermutungen wieder, was Jörg Rottmann mit »elende Computerscheiße« kommentierte.

»Ob es sich hier wirklich um KI handelt, wird Jan sicher beurteilen können, nachdem er mit dem Fertigungstechniker der Herstellerfirma des Roboters gesprochen hat.«

Damit beendete sie ihren Bericht und übergab die Führung der Ermittlungen offiziell an Torsten Kluge.

»Haltet euch an Martin Vigeland«, fügte sie hinzu. »Er gehört zwar noch zum Kreis der Verdächtigen, aber er kooperiert.«

Sie erhoben sich. Stuhlbeine schrammten über den Linoleumboden. Der Hauptkommissar und Jörg Rottmann kehrten in die Werkshallen zurück. Tanja und Christine liefen an den Büros vorbei zum Empfangsbereich und dann hinaus auf den Parkplatz. Vor der Eingangstür stand der Mégane. Der Rettungswagen und das Fahrzeug der Kollegen von der Streife waren weg.

Kommissarin Bernard steuerte ihren Wagen zur Kriminaldirektion.

»Wo soll das alles noch hinführen?«, murmelte Tanja neben ihr. »Immer mehr Computer. Rationalisierung. Automatisierung. Digitalisierung. Überall dieses elektronische Zeugs.«

Christine wusste keine Antwort. Sie war einfach nur erschöpft und wollte in ihr Bett. Sie warf einen kurzen Blick auf die Uhr im Instrumententräger des Renaults und nahm sich vor, bis spätestens halb elf unter ihrer Bettdecke zu liegen.

Sie setzte Tanja bei ihrem Auto ab und fuhr nach Hause. 10:44 Uhr zeigte das Display des Radioweckers, als sie die Augen schloss und ihre Nachtschicht nach mehr als 14 Stunden endlich zu Ende war.

Es war bereits dunkel, als sie erwachte. Ein Geräusch hatte sie aus dem Schlaf gerissen. Sie hielt die Luft an und lauschte. Jemand befand sich in ihrer Wohnung. Durch die Fenster fiel der fahlgelbe Schein der Straßenlaternen. Dann bewegte sich die Zimmertür. Ein Schatten schob sich in den Raum. Sie tastete nach ihrer Nachttischlampe und knipste sie an. Torben.

»Habe ich dich geweckt?«

Christine atmete erleichtert aus.

»Nein. Ich liege schon länger wach«, log sie, streckte sich und gähnte.

Er setzte sich auf den Bettrand, beugte sich zu ihr herunter und küsste sie zärtlich.

»Lust auf Italienisch?«

Sie betrachtete den feingliedrigen Musiker, fuhr ihm mit einer Hand liebevoll durch das dunkle Haar und schüttelte ihren Kopf.

»Nein? Koreanisch?«

Sie verzog ihr Gesicht.

»Auch nicht?«

»Können wir nicht einfach zu Hause bleiben? Auf dem Sofa räkeln und du kochst uns etwas? Ich bin total platt.«

Torben lächelte verständnisvoll.

»Ich schau mal, was du da hast.«

Er erhob sich und verließ das Schlafzimmer. Sie hörte ihn in der Küche rumoren. Er inspizierte den Inhalt des Kühlschranks und des Tiefkühlers.

»Gemüsereis kann ich machen. Dazu Sojasoße und eine halbe Flasche Weißwein. Magere Ausbeute.«

»Ich weiß, ich muss einkaufen«, rief sie.

Christine zog die wärmende Decke von sich und setzte sich auf den Bettrand.

»Ich habe gar keinen Hunger«, murmelte sie und schob ihre Füße in die flauschigen Pantoffeln.

Sie beeilte sich, unter die warme Dusche zu kommen. In ihren weißen Frotteebademantel gehüllt betrat sie wenig später die Küche. Der Reis quoll bereits in einem Topf auf dem Herd. Torben schwenkte den gefrorenen Inhalt eines Beutels Mischgemüse in der Pfanne und fügte ein Stück Kräuterbutter hinzu. Sie stellte sich hinter ihn, schlang ihre Arme um seine Taille und legte ihren Kopf an seine Schulter. Ihr nasses Haar hinterließ feuchte Flecken auf dem dunklen Hemd.

Sie aßen in der Küche. Der Reis schmeckte mild nach Butter und Salz. Das Gemüse hatte noch Biss, die Kräutermischung harmonierte. Ihr Appetit kam beim Essen. Sie griff nach ihrem beschlagenen Weinglas.

»Sag mal …«. Sie kaute und schluckte. »Glaubst du, Computer können bereits selbständig handeln?«

»Ich habe etwas darüber gelesen. Die Tech-Konzerne arbeiten daran. Autonome künstliche Intelligenz. Lernfähig. Entscheidungen anpassend durch erlebte Erfahrungen.«

Christine trank einen Schluck und stellte das Glas zurück.

»Gruselig.«

»Bisher begrenzt die geringe Rechenleistung der Prozessoren die Entwicklung. Aber man hofft, die neue Generation der Quanten-Computer wird den Durchbruch bringen.«

Sie schob sich eine Gabel Gemüsereis in den Mund. Torben ließ sein Besteck sinken.

»Ein frühes Modell eines Quantencomputers hat in einem Google-Labor eine Rechenaufgabe in etwas mehr als drei Minuten gelöst, für die ein konventioneller Rechner 10.000 Jahre benötigt hätte.«

»Und was sollen wir damit anfangen?«

»Wir könnten damit das Wetter zuverlässig vorhersagen oder die Folgen des Klimawandels exakt berechnen. Operationsroboter. Selbstfahrende Autos. Humanoide Roboter für die Pflege alter oder kranker Menschen. Autonom handelnde Haushaltshilfen oder der Einsatz in für den Menschen gefährlichen Umgebungen.«

Christine schob ihren leeren Teller von sich.

»Schmerzfreie Soldaten ohne Gewissen. Ermüdungsfreie, unterwürfige Sexsklavinnen.«

Torben grinste.

»Was?«, forschte sie nach.

»Ermüdungsfreie und unterwürfige …«

»Ich dachte mir schon, dass dir das gefällt.«

Er erhob sich und räumte den Tisch ab.

»Du hast ja Recht. Das größte Problem ist ethischer Natur. Computer handeln nicht moralisch. Sie wägen nicht ab, haben kein Gewissen. Kein Mitgefühl.«

»Keine Seele«, ergänzte Christine.

Torben nickte mit zustimmendem Gesichtsausdruck.

»Hier ist die Philosophie gefragt. Sie muss Antworten finden.«

»Als ob die macht- und profitgeilen Konzerne sich für etwas anderes interessieren würden als für Geld.«

»Unsere Gesellschaft muss kluge Antworten finden und Rahmenbedingungen schaffen.«

»Und wofür brauchen wir dann die Philosophie?«

»Philosophen gehören zu den wenigen Menschen, die sich Zeit nehmen, gründlich über etwas nachzudenken, ohne eigene Interessen zu verfolgen. Das war schon in der Antike so.«

»Wen schert denn heute noch, was vor hunderten oder gar tausenden Jahren jemand gesagt hat?«

Torben widersprach.

»Die Lehren des Platon, des Aristoteles und Sokrates finden auch heute noch große Beachtung. Marc Aurel. Immanuel Kant.«

»Schopenhauer«, ergänzte Christine, weil ihr der Name gerade einfiel.

»Der nun weniger. Arthur Schopenhauer war ein großer Pessimist.«

»Pessimisten sollen angeblich öfter Recht behalten als Optimisten«, provozierte sie.

»Mag sein. Aber leben sie dadurch zufriedener? Schopenhauer war bestimmt kein glücklicher Mensch.«

»Du hältst also Philosophie auch heute noch für wichtig?«

»Wichtiger denn je. Automatisierter Straßenverkehr, autonome Drohnen, die auf Menschen schießen sollen. Das fordert moralische Abwägungen. Wen soll ich im Falle eines Unfalls retten, wer soll sterben? Darüber muss gründlich nachgedacht werden. Außerdem sind Geistes- und Kulturwissenschaften wie Theologie und Philosophie die einzigen Lehren, die uns über den Tod hinaus etwas mitgeben. Trotz unserer alternden Gesellschaft bleiben Fragestellungen zur aktiven Sterbehilfe bislang unbeantwortet. Aber wieso willst du das alles wissen?«

»Weil du der klügste Mensch bist, den ich kenne.«

Torben fühlte sich offensichtlich geschmeichelt. Er formulierte seine Frage um.

»Warum interessierst du dich für künstliche Intelligenz?«

»Weil ein Industrieroboter einen Arbeiter getötet hat.«

»Dann war es ein Unfall.«

Christine schüttelte ihren Kopf.

»Der Roboter hat den Mann gezielt attackiert.«

»Das halte ich bei dem derzeitigen Stand der Technik für ausgeschlossen.«

»Und doch geschah es.«

»Dann muss es einen anderen Grund für das Verhalten der Maschine gegeben haben.«

»Du glaubst nicht, dass es möglich wäre?«

»Noch nicht.«

Sie wechselten ins Wohnzimmer und setzten sich auf das Sofa. Christine legte ihre Beine auf Torbens Schoß. Er massierte ihre kalten Füße. Sie griff nach der Fernbedienung für die Hi-Fi-Anlage, schaltete sie ein und suchte einen Sender. Irgendeinen mit ruhigem Programm und leiser Musik.

Er erzählte ihr von seinem Tag. Das Orchester übte gerade ein Adagio in g-Moll von Tomaso Albinoni für ein Konzert in der Philharmonie Luxemburg ein.

»Der Südwest-Rundfunk wird es übertragen.«

Christine schluckte und dachte unvermittelt an Ritas Beerdigung. Dieses Stück wurde in der Kirche vor der Beisetzung gespielt. Sie versuchte, die Erinnerung an die vergewaltigte und ermordete Praktikantin abzuschütteln.

»Wunderschön, aber traurig«, sagte sie.

Torben wechselte das Thema und sprach plötzlich von Urlaub. »Laut Probenplan spielen wir Ende des Jahres im Helsinki-Musik-Center. Möchtest du mich nicht begleiten? Das ist in Finnland.«

»Ich weiß, wo Helsinki liegt«, beschwerte Christine sich entrüstet.

Torben grinste.

»Ich wollte dir nur noch mal zeigen, wie klug ich bin«, scherzte er.

Sie sah ihn an und öffnete ein wenig ihren Bademantel, gefolgt von einem lasziven Augenaufschlag.

»Mal sehen, ob du klug genug bist, um herauszubekommen, was das bedeutet.«

»Sagtest du nicht, du seist müde?«

»So müde nun auch wieder nicht.«

Christine Bernard. Tödliche Intelligenz

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