Читать книгу Christine Bernard. Tödliche Intelligenz - Michael E. Vieten - Страница 7
ОглавлениеMartin Vigeland
Eines der Rolltore fuhr nach oben. PMA Sass trat hindurch und durchquerte erstaunlich gefasst die Halle. Hinter ihr schloss sich das Tor automatisch. Dienstbeflissen lief sie mit schnellen Schritten auf die Kommissarin zu. Christine bewunderte diese junge Beamtin für ihre Haltung.
»Ihrer Kollegin geht es etwas besser. Sie raucht mit meinem Kollegen noch eine Zigarette, dann kommen die beiden nach.«
»Tanja raucht nicht«, erinnerte Christine sich.
PMA Sass zuckte mit den Schultern.
»Heute offenbar doch.«
»Spusi und KT sind unterwegs.«
PMA Sass nickte, zog einen kleinen Notizblock hervor und schien darauf zu warten, die Kriminalkommissarin über das Geschehen in Kenntnis setzen zu dürfen.
Christine ließ ihr Handy in die Jackentasche gleiten.
»Dann legen Sie mal los.«
Sie traten an den Käfig heran. Kommissarin Bernard vermied es, sich die Leiche noch einmal anzusehen, und konzentrierte sich stattdessen auf den Bericht der Polizistin. Über deren Schulter hinweg sah sie Martin Vigeland die Halle durchqueren. Ihre Blicke trafen sich, dann verschwand er durch eines der Schnelllauftore in der Nachbarhalle.
»Der Werker …, die sagen hier Werker, nicht Arbeiter«, erklärte PMA Sass. »… betrat gegen 4:20 Uhr nach einer Störung dieses Roboters den Gefahrenbereich, um nach der Fehlerursache zu suchen. Die Werkerin, die diese Anlage bis dahin bedient hatte, hat den Vorfall beobachtet und berichtete, dass die Beflammungsanlage sich selbständig eingeschaltet hätte, nachdem der Kollege die Tür hinter sich geschlossen hatte. Der Roboterarm richtete den Gasbrenner auf den Mann und zündete eine ungewöhnlich große Flamme. Der Mann versuchte auszuweichen, aber der Roboter führte den Arm immer wieder nach und schaltete die Flamme nicht ab. Selbst nachdem der Mann zusammengebrochen war, blieb die Flamme weiter auf ihn gerichtet. Die Werkerin war vor Entsetzen zunächst wie erstarrt, aber dann gelang es ihr, sich zu lösen und sie schlug auf den Knopf der Notabschaltung ein. Dadurch wurden die Strom- und die Gaszufuhr unterbrochen. Die Anlage fährt dann in diese Ruheposition.«
PMA Sass deutete kurz mit ihrer Hand in den Käfig. Christines Blick fiel auf den Roboterarm, an dessen Ende ein 40 Zentimeter breiter Gasbrenner montiert war. Sie benötigte nicht viel Fantasie, um sich vorstellen zu können, welch ein grausames Drama sich dort abgespielt haben musste.
»Der stellvertretende Abteilungsleiter wurde zu Hilfe gerufen, das ist dieser Teamassistent. Der verletzte Werker war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr ansprechbar. Herr Vigeland setzte daraufhin den Notruf ab und versuchte, dem Mann zu helfen. Er stieß aber schnell an die Grenzen seiner medizinischen Kenntnisse. Der für diese Nachtschicht zuständige ausgebildete Ersthelfer hat sich gestern krank gemeldet. Der Notarzt begann nach seinem Eintreffen sofort mit Wiederbelebungsmaßnahmen, stellte aber schließlich den Tod durch Herzstillstand aufgrund der erheblichen Verbrennungen fest. Der getötete Mitarbeiter heißt Peter Buschmann. Er ist bei Winkler fest angestellt und arbeitete hier als Betriebselektriker.«
»Wo befindet sich diese Werkerin jetzt?«
»Im Sanitätsraum. Schocklage. Die war fix und fertig. Der Notarzt müsste jetzt bei ihr sein.«
»Wer trägt hier die Verantwortung?«
»Werks- und Produktionsleitung sind während der Nachtschicht nicht besetzt. Ich habe die Herren bereits informieren lassen. Die sind auf dem Weg hierher und müssten jeden Moment eintreffen.«
Das Rolltor am Ende des Gebäudes fuhr erneut hoch. Tanja Rieger trat hindurch und durchquerte die Halle. Christine bedankte sich bei der Polizistin und lief ihrer Kollegin entgegen.
»Bist du okay?«
Die Polizeimeisterin nickte.
»Fragst du dich bitte zum Sanitätsraum durch und befragst dort die Werkerin, die bis zum Unfall die Anlage bedient hat. Und falls der Notarzt noch bei ihr ist, der den Tod des Werkers festgestellt hat, nimm bitte auch seine Aussage auf. Ich will wissen, ob der Mann noch einmal das Bewusstsein erlangt hat, nachdem der Arzt ihn behandelt hat, und wenn ja, ob er ihm noch irgendetwas mitteilen konnte.«
Tanja atmete auf, wirkte sichtbar erleichtert, vorerst nicht in die Nähe dieses Käfigs zu müssen, und führte die Anweisungen sofort aus. Christine Bernard schaute ihrer Kollegin kurz nach und begab sich auf die Suche nach Martin Vigeland. Auf halber Strecke zur benachbarten Halle begegnete ihr der Teamassistent. Sie hielt auf ihn zu.
Er telefonierte, beendete sein Gespräch aber sofort, als er die Kommissarin auf sich zulaufen sah.
»Mit wem haben Sie gesprochen?«, rief sie misstrauisch gegen den Lärm in der Halle an, obwohl sie insgeheim davon ausging, dass ihr diese Frage üblicherweise nicht wahrheitsgetreu beantwortet wird oder die Antwort gleich ganz verweigert wurde. Doch Vigeland überraschte sie und ließ sie einen Blick auf das Display werfen.
»Mit meiner Vorgesetzten. Die Abteilungsleiterin ist im Urlaub, aber ich denke, sie sollte wissen, was hier geschehen ist.«
»Mich wundert es, dass sich offenbar kaum jemand für den Vorfall interessiert. Alle arbeiten weiter, niemand steht uns im Weg. Das kenne ich so nicht.«
»Bevor Sie eintrafen, war das schon anders. Die Leute waren schockiert. Aber die Produktionsstraßen laufen ja weiter. Die Werker müssen zurück an ihre Arbeitsplätze. Und die, die an den Tischen sitzen, trauen sich kaum selbständig aufs Klo. Denn dann stimmt der Schnitt bearbeiteter Teile pro Stunde nicht und der Personaldienstleister schickt die Leute wieder in ihre Heimat zurück. Schöne neue Arbeitswelt.«
»Sie scheinen kein Freund dieser Arbeitswelt zu sein.«
»Aha«, schmunzelte Vigeland. »Das ist Ihnen also aufgefallen. Gehen wir in meinen Verschlag, da ist es etwas ruhiger.«
Der »Verschlag« entpuppte sich als das Büro des Teamassistenten. Drei Stellwände an die Hallenwand geschoben, die obere Hälfte aus Glas. Darüber offen, ohne Decke, keine Tür. Tatsächlich also doch mehr ein Verschlag als ein Büro. Vigeland bot Kommissarin Bernard einen der beiden Stühle mit verschlissenem Polster an. Während sie Platz nahm, begrüßte PMA Sass vor dem Käfig der Beflammungsanlage den soeben eingetroffenen Doktor Vogler von der Rechtsmedizin und die Beamten von der Spurensicherung und der Kriminaltechnik. Auf deren Anweisung hin erweiterte sie zusammen mit ihrem Kollegen den mit Flatterband gesperrten Bereich.
Christine konzentrierte sich auf ihre Befragung.
»Schildern Sie doch bitte mit Ihren Worten, was hier heute passiert ist.«
Martin Vigeland bestätigte im Wesentlichen den Bericht der Polizeimeisteranwärterin und fügte lediglich eine Entschuldigung hinzu, dass er dem verletzten Werker nicht wirklich helfen konnte.
»Die Belegschaft hier wird regelrecht zusammengeflickt. So wenig Personal wie möglich, billig und nicht fest angestellt. Wenn die Auftragslage sich ändert, fordert man vom Dienstleister Arbeiter an und meldet sie wieder ab, wenn man sie nicht mehr braucht. Moderner Sklavenhandel. Viele von den Werkern sprechen kein Deutsch und können nicht einmal die Sicherheitseinweisung lesen.«
»Sie glauben an einen Unfall?«
Vigeland vollführte mit den Händen eine hilflose Geste und drückte mit dazu passendem Gesichtsausdruck sein Bedauern aus.
»Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass der Einzige, der dem Kollegen hätte helfen können, krank ist und dass es keinen Ersatz gibt.«
»Sie haben nur einen ausgebildeten Ersthelfer für das gesamte Werk?«
»Eigentlich drei. Aber wenn ausschließlich am Profit orientierte Personalplanung auf die Wirklichkeit trifft, dann ist einer arbeitsunfähig, der andere befindet sich im Urlaub und der dritte hat Frühschicht.«
Aus dem Augenwinkel bemerkte Christine zwei Männer. Sie hatten die Halle betreten und steuerten auf die Kollegin von der Streife zu.
»Horten und Schneider«, hörte sie Martin Vigeland erklären. »Werksleitung und Produktionsleiter. Diese Herren entscheiden, was gemacht wird, und dann suchen sie sich jemanden, der für das Ergebnis verantwortlich sein soll. Für die ist der gemeine Arbeiter das unbekannte Wesen.«
Eine Frau im langen Mantel mit toupiertem blondem Haar folgte den beiden.
»Patrizia Denger. Denger-Personal. Da haben Sie die drei Gewinner des Werker-Karussells auf einen Haufen. Die Herren profitieren von der Lohndrückerei und die Dame kassiert eine Provision von der Kohle, die der Werker weniger bekommt.«
Ein Mann im weißen Schutzanzug tauchte in Christines Blickfeld auf. Polizeihauptmeister Günther Hagemann von der Spurensicherung. Zielstrebig steuerte er auf das Büro zu und zog sich die Kapuze vom Kopf.
»Guten Morgen, Christine. Wir müssen die Beflammungsanlage für unbestimmte Zeit stilllegen. Dort wimmelt es von Spuren. Fingerabdrücke von Technikern und Programmierern und den Werkern, die diese Anlage bedient haben.«
»Geht klar. Ich muss ohnehin noch mit der Werksleitung sprechen.«
»Jan von der IT-Forensik muss einen Programmierer des Herstellers hinzuziehen.«
»Kann Jan schon sagen, ob der Roboter manipuliert wurde?«
»Weiß ich nicht, sprich selbst mit ihm.«
Der Polizeihauptmeister ging davon. Die beiden Mitarbeiter des Bestattungsunternehmens trugen einen Transportsarg durch die Halle. Günther Hagemann hatte die Leiche offenbar freigegeben und die Einlieferung in die Gerichtsmedizin veranlasst.
PMA Sass diskutierte mit dem Produktionsleiter und blickte sich hilfesuchend um. Dann entdeckte sie die Kommissarin und deutete mit der Hand in Christines Richtung. Der Mann setzte sich in Bewegung.
»Thomas Schneider, Produktionsleitung«, stellte er sich vor. »Wie lange werden die Untersuchungen Ihrer Leute noch dauern?«
Kommissarin Bernard erhob sich.
»Das kann ich noch nicht sagen. Heute voraussichtlich den ganzen Tag. Morgen entscheiden dann unsere Techniker.«
»Das geht auf gar keinen Fall. An dem reibungslosen Betrieb des Beflammungsroboters hängen Aufträge. Wir haben Lieferverpflichtungen gegenüber der Autoindustrie. Wir müssen weiterarbeiten.«
»Ich verstehe Ihre Situation, aber an der Anlage arbeitet vorerst niemand. Tut mir leid.«
»Das muss ich dem Werksleiter melden.«
»Tun Sie das.«
Thomas Schneider ging davon.
Christine wandte sich wieder dem Teamassistenten zu.
»Wissen Sie, wie man diese Beflammungsanlage bedient?«
»Ja.«
»Können Sie den Roboter auch programmieren?«
»Ich könnte es, nach einer gewissen Einarbeitung. Ich habe eine andere Programmiersprache gelernt.«
Christine ordnete Martin Vigeland im Geiste zunächst dem Kreis der möglicherweise an der Tat Beteiligten zu. Er sprach zwar offen und vermutlich ehrlich, aber er verfügte auch über die notwendigen Kenntnisse oder hätte sie sich aneignen können, um einen Roboter zu steuern. Das ließ ihn verdächtig erscheinen, vorausgesetzt, Jans Ermittlungen würden eine Manipulation der Steuersoftware bestätigen. Sie beschloss dennoch, Vigelands kooperatives Verhalten vorerst zu dessen Gunsten zu werten.
Vor dem Büro baute sich der Werksleiter auf, dahinter postierte sich Thomas Schneider.
Dieter Horten reichte Christine lächelnd die Hand und trug sein Anliegen zunächst freundlich vor.
»Wir brauchen den Flammroboter dringend. Das werden Sie sicher verstehen. Wenn wir die Lieferkette zu den Lackierereien unterbrechen, sind wir zur Zahlung einer nicht unerheblichen Konventionalstrafe vertraglich verpflichtet.«
Kommissarin Bernard schenkte ihm ein gewinnendes Lächeln.
»Einer Ihrer Mitarbeiter ist zu Tode gekommen und wir müssen feststellen, ob Fremdeinwirkung vorliegt. Bis dahin bleibt die Beflammungsanlage außer Betrieb.«
Dieter Hortens Lächeln erstarb. Er war es offenbar nicht gewohnt, dass ihm jemand widersprach und doch geschah es in diesem Augenblick. Die Erkenntnis minderte sogleich seine Bemühungen um Freundlichkeit.
»Das war ein schrecklicher Unfall und wir bedauern den Tod unseres Technikers sehr. Wir alle sind im Moment emotional sehr aufgeladen. Ich verstehe auch, dass die Polizei ihre Arbeit tun muss, aber denken Sie dabei doch mal an die Kosten für den Produktionsausfall. Wer soll den Verlust bezahlen? Ich meine, bleiben wir doch mal sachlich.«
»Herr Horten. Winkler Automotive ist ein milliardenschwerer Konzern. Ich bin sicher, die Kosten für den Produktionsausfall werden nicht gleich eine Gewinnwarnung für Ihre Aktionäre auslösen. Außerdem wird Ihre Buchhaltung sicher einen Weg finden, die entstandenen Kosten in der Jahresbilanz steuermindernd geltend zu machen. War das sachlich genug?«
Dieter Horten zog drohend Luft.
»Frau Kommissarin. Ich glaube, Sie überschreiten hier Ihre Kompetenzen und Sie verkennen ganz eindeutig die Prioritäten.«
Christine spürte Zorn in sich aufsteigen. Sie trat einen Schritt vor.
»Ihr Profit interessiert mich nicht. Hier ist ein Mensch gestorben und das hat für mich Priorität.«
Der Werksleiter wich zurück und trat dabei seinem Produktionsleiter mit dem Absatz auf die Zehenspitzen. Der verzog schmerzvoll das Gesicht.
»Ich werde mich an Ihren Vorgesetzten wenden.«
Kommissarin Bernard ließ diese häufig ausgesprochene Drohung unkommentiert. Thomas Schneider wischte sich am Hosenbein den Schmutz von den schwarz glänzenden Schuhspitzen und folgte seinem Chef.
»Die Werkshalle bitte immer mit Sicherheitsschuhen nicht unter Schutzwirkung S3 betreten! Wegen der Stahlkappe!«, rief Martin Vigeland ihm hinterher. Neben der kühnen Kommissarin fühlte er sich offenbar ermutigt, noch einen oben drauf zu setzen.
»Wenn Sie so weitermachen, sind Sie sicher nicht mehr lange Teamassistent.«
Er zuckte mit den Schultern.
»Ich zitiere lediglich seine eigenen Sicherheitsvorschriften. In spätestens zwei Monaten ist für mich hier ohnehin Schluss.«
»Scheint Ihnen ja nichts auszumachen.«
»Zeitarbeit ist Job-Hopping. Wenn ich nicht mehr gebraucht werde, meldet mein Arbeitgeber mich einfach ab. Meine Loyalität entspricht also exakt der, die mir selbst entgegengebracht wird.«
Christine betrachtete den Computerbildschirm auf dem Schreibtisch des Teamassistenten.
»Woran arbeiten Sie gerade?«
Vigeland winkte ab.
»Gender-Quatsch. Texte umschreiben. Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Kollegen und Kolleginnen. Werker und Werkerinnen. Nichts Wichtiges.«
»Führen Sie mich herum? Ich möchte verstehen, was und wie hier gearbeitet wird.«
Martin Vigelands Gesichtsausdruck erhellte sich. Er sprang auf.
»Gern.«