Читать книгу Christine Bernard. Tödliche Intelligenz - Michael E. Vieten - Страница 11

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Die Maschine

Am nächsten Morgen stand sie im Bad und trocknete sich die Haare. Torben reichte ihr plötzlich das Handy und küsste sie leidenschaftlich auf den Mund.

»Ich muss los. Bis später.«

Sie schaltete den Fön ab. Aus dem Lautsprecher des Mobiltelefons ertönte ohrenbetäubender Lärm, der sie sogleich an die Geräusche der Maschinen bei Winkler Automotive erinnerte.

»Christine?«, brüllte jemand.

»Ja? Jörg? Bist du das?«

Aufgrund der Geräuschkulisse konnte sie die Stimme ihres Kollegen nur erahnen.

»Kriminaldirektion … fahren … Tanja und Luc …«

Sie verstand kaum ein Wort.

»Was? Jörg? Ich verstehe dich nicht!«

Die Geräusche nahmen etwas ab.

»Hörst du mich jetzt besser?«

»Ja. Was ist denn los?«

»Es gab einen zweiten Toten. Die Sauerei ist noch schlimmer als gestern. Sammele Tanja und Luc Nilles vor der Kriminaldirektion ein, sie warten dort auf dich. Kommt sofort her. Hier ist die Hölle los. Wir brauchen jeden Beamten zur Unterstützung, den wir kriegen können. Wir müssen die Leute beruhigen. Die laufen alle aufgeregt durcheinander wie die Hühner. Ich muss Schluss machen und Übersetzer anfordern. Die Hälfte der Arbeiter hier spricht weder Deutsch noch Englisch.«

Jörgs Aufregung übertrug sich unmittelbar auf Christine. So kannte sie den forschen Hauptkommissar gar nicht. Sie zog sich an, legte das Schulterholster mit ihrer Dienstwaffe um und schnappte nach dem Autoschlüssel und ihrer Jacke. Ihr langes, dunkles Haar ließ sie offen. Es musste nun ohne Fön trocknen. Sie verzichtete auf den Aufzug und nahm im Treppenhaus zwei Stufen auf einmal auf ihrem Weg nach unten. Dort angekommen riss sie die Haustür auf und erschreckte eine Postbotin, die gerade die Briefkästen füllte.

Sie flitzte zu ihrem Wagen, stieg ein, stellte das Blaulicht auf das Dach und schaltete es ein. Das Sondersignal ließ sie aus. Schließlich war sie nicht im Einsatz, sondern hatte es nur eilig. Ob diese Ausrede ihr bei ihren Vorgesetzten wegen des Verstoßes gegen die Dienstvorschriften im Ernstfall mildernde Umstände einbringen würden, wusste sie nicht.

Tanja und Luc standen vor dem Eingang der Kriminaldirektion bereit. Wer den nachlässig gekleideten, grauhaarigen Mann mit Bart nicht kannte, würde kaum vermuten, einen Hauptkommissar der Trierer Kriminalpolizei vor sich zu haben. Luc zog noch einmal an seiner Zigarette, atmete den Rauch tief ein und schnippte die Kippe weg. Dann stieg er vorn ein. Seine Kollegin rutschte in die Mitte der Rückbank und begann sofort zu jammern.

»Ich habe echt keinen Bock, mir erneut diesen unerträglichen Anblick anzutun.«

Luc schnaufte aufgebracht.

»Ich bin beim Betrug, verdammt, und nicht bei Mord und Totschlag. Deswegen bin ich ja zum K4 gewechselt, um mir diesen Mist zu ersparen.«

Kommissarin Bernard versuchte, ihre Kollegen zu beruhigen.

»Wir brauchen euch als Verstärkung. Ist doch nur vorübergehend.«

»Jetzt morden schon die Maschinen«, zeterte Luc weiter.

»Das wissen wir doch gar nicht«, beschwichtigte Christine. »Du wirst sehen, es klärt sich alles auf.«

»Na, dann«, spottete Luc und starrte aus dem Seitenfenster.

Auf der Straße vor dem Firmengelände war kein Durchkommen. Fahrzeuge der Feuerwehr, Streifenwagen, Rettungswagen, der Kombi vom Bestatter, die Busse der Spurensicherung und der Kriminaltechnik blockierten die Zufahrt. Christine parkte auf dem Bürgersteig hinter dem BMW und dem Audi von Rottmann und Kluge und schaltete den Motor ab. Sie stiegen aus. Tanja und Luc folgten ihr. Auf dem Weg zum Firmengebäude gewann die Professionalität die Oberhand, verdrängte die Aufregung der beiden und zügelte ihre Abneigung gegen den Einsatz.

Diesmal stellte sich die Situation auf dem Werksgelände völlig anders dar als am Vortag. Schon am Haupteingang zeigten sich die Unterschiede. Ein Streifenbeamter bewachte die Eingänge und verlangte nach den Dienstausweisen. Die Zugänge zu den Büros und den Werkshallen waren nicht mehr verriegelt. Die Türen standen offen, von Keilen blockiert. Beamte von der Streife kontrollierten den Einlass. In den Produktionshallen herrschte gespenstische Stille. Alle Maschinen waren ausgeschaltet. Nur die Belüftungsanlage an der Decke rauschte kaum hörbar. Die Werker hatten ihre Arbeitsplätze verlassen. In der Mitte der Spritzerei, in der Nähe des Übergangs in die Montagehalle, entdeckte Kommissarin Bernard Torsten Kluge. Der Hauptkommissar sprach mit Martin Vigeland und zeigte auf Christine. Der Teamassistent nickte.

Die Begrüßung fiel mager aus. Ein gemurmeltes »Morgen« musste reichen.

»Ich nehme Tanja und Luc mit. Wir haben die Belegschaft in den Personalräumen versammelt. Alle müssen befragt werden, auch die Geschäftsleitung. Ich teile jetzt unsere Kollegen auf die Büros auf. Einweisung um 8:00 Uhr im Besprechungsraum. Kümmerst du dich um den Abtransport der Leiche?«

Kommissarin Bernard hätte gern eine andere Aufgabe übernommen. Aber Tanjas offensichtliche Erleichterung, die ihr mühelos anzusehen war, und die Tatsache, dass sie selbst bereits am Vortag ein robustes Gemüt gezeigt hatte, ließen sie sich in ihr Schicksal fügen. Martin Vigeland hingegen war blass im Gesicht. Er schien seine Grenze erreicht zu haben. Er räusperte sich.

»Wir brauchen einen Einrichter. Vielleicht finden wir einen Freiwilligen.«

Christine dachte an ein Möbelhaus.

»Einrichter?«

»Die Kollegen, die diese Maschinen für die Produktion ‚einrichten‘. Ich kann die nicht bedienen.«

»Ah, okay. Kümmern Sie sich bitte darum?«

Martin Vigeland machte auf dem Absatz kehrt und ging davon. Die Kommissarin drehte sich um, atmete einmal tief ein und aus und lief auf den mit Flatterband abgesperrten Bereich zu. Sie erkannte Günther Hagemann und Jan Brede. Die beiden grüßten ebenfalls ungewöhnlich zurückhaltend. Eine dunkle Vorahnung zog in ihr auf. Etwas absolut Ungewöhnliches musste passiert sein. Dann betrat sie den Tatort.

Ihre erste Wahrnehmung war eine riesige Blutlache unter einer Maschine. In diesem Moment schätzte sie die Menge auf vier bis fünf Liter. Aber so viel Blut verlor ein Mensch nur dann, wenn er komplett ausblutete. Wunden wurden durch die Blutgerinnung üblicherweise rasch geschlossen. Das war hier offenbar nicht der Fall gewesen. Wieso nicht?

Günther Hagemann zeigte auf einen silbernen Block aus Metall, etwa so groß wie ein Kleinwagen. Christine verstand nicht.

»Wo ist die Leiche?«

»Da drin! Was halt von ihr übrig ist.«

Kommissarin Bernard bekam weiche Knie. Übelkeit stieg in ihr auf. Sie wandte sich ab.

»Kotz ruhig«, murmelte Jan. »Ich habe mich bereits das dritte Mal übergeben. Das ist der totale Horror hier.«

Martin Vigeland und ein Mann mit Pferdeschwanz und ungepflegtem Vollbart überstiegen das Absperrband. Sein schmutziger grauer Overall bildete einen derben Kontrast zu den schneeweißen Overalls der Beamten von der Spurensicherung.

Der Teamassistent stellte den Einrichter vor.

»Das ist Heiner. Er fährt das Werkzeug jetzt auseinander.«

Christine atmete tief ein und aus.

»Jan!«

Kollege Brede setzte sich in Bewegung. Er sollte jede Eingabe des Technikers in den Steuerungscomputer protokollieren, damit keine Spuren vernichtet wurden. Noch war der Täter nicht ermittelt. Es könnte also auch dieser Heiner gewesen sein. Die Qualifikation dazu besaß er schließlich.

Christine trat näher an die Maschine heran. Erst jetzt bemerkte sie zwei Beine, die in einer von Blut getränkten Arbeitshose steckten, die Füße in schweren Sicherheitsschuhen. Sie hingen unter dem silbernen Metallblock heraus und waren offenbar nicht abgetrennt worden. Heiner trat an die Konsole und betrachtete den Bildschirm. Dann tippte er einen Steuerbefehl ein. Lautes Zischen und Klacken schallte durch die Halle. Die Maschine entlastete die Hydraulik der Welle, die das Werkzeug zusammenpresste. Dann fuhr der schwere Metallblock in der Mitte auseinander. Eine verbogene Metallstange landete scheppernd auf dem Hallenboden. Ein zerquetschter Körper fiel klatschend herab. Plötzlich roch es nach Blut und Hydrauliköl. Jeder der umstehenden Männer wandte sich ab. Kommissarin Bernard konnte ihren Mageninhalt nicht mehr bei sich behalten. Sie entfernte sich ein Stück von der Maschine. Als sie sich wieder aufrichtete, reichte Günther Hagemann ihr ein Papiertaschentuch und eine Flasche Mineralwasser.

»Die Bestatter weigern sich, die Reste der Leiche abzutransportieren.«

Sie spülte ihren Mund aus, trank zwei kleine Schlucke und tupfte sich die Lippen trocken.

»Dann ruf die Gerichtsmedizin an. Die sollen jemanden schicken. Ist in diesem Fall vielleicht besser, wenn die das selbst machen.«

Sie brauchte einen Moment, um sich zu sammeln. Tief atmete sie ein und durch ihre zusammen gepressten Lippen wieder aus. Polizeiärztin Frauke Prinz hatte ihr diese »Atembremse« gegen extreme Stresssituationen empfohlen. Ein wenig zittrig auf den Beinen kehrte sie zu der Maschine zurück. Jan befragte Heiner nach technischen Details. Martin Vigeland war immer noch blass im Gesicht.

»Ich bin froh, wenn ich heute Feierabend habe«, gab er zu.

»Das wird leider noch eine Weile dauern«, dämpfte Christine seine Hoffnung. »Wir müssen alle Mitarbeiter befragen. Kennen Sie den Toten?«

»Timo Philippi. Er gehörte zum Wartungsteam. Reinigung und Instandhaltung der Produktionsanlagen. Ein netter Kerl.«

Ihm stockte die Stimme. Er wandte sich ab.

»Ich gehe mir mal einen Kaffee holen.«

Kommissarin Bernard hielt den Teamassistenten zurück.

»Was ist das da für ein Bauteil?«

Sie deutete auf die verbogene Metallstange, die beim Auseinanderfahren aus der Maschine gefallen war.

»Das ist eine Trockeneislanze, kein Bauteil. Der Werker reinigt damit unter Hochdruck das Werkzeug, bevor es gewechselt wird. Produktionsrückstände und andere Verschmutzungen werden damit abgetragen, ohne die empfindlichen Oberflächen zu beschädigen.«

»Warum nehmen Sie nicht einfach Wasser?«

»Wasser hinterlässt Rückstände, zum Beispiel Kalk oder Eisen, und es verdunstet zu langsam. Die Werkzeuge würden verschmutzen und rosten. Trockeneis hingegen besteht aus CO2, also Kohlenstoffdioxid. Es sublimiert rückstandsfrei zu Gas.«

»Wie wird ein Werkzeug gewechselt?«

Martin Vigeland deutete auf den Kran an der Hallendecke und dann auf die zwei tonnenschweren silbernen Hälften des Metallblocks in der Produktionsanlage.

»Diese beiden Blöcke bilden je eine Seite der Spritzgussform. Wenn ein anderes Kunststoffteil produziert werden muss, werden diese Gusswerkzeuge ausgetauscht. Der Einrichter zieht sie mit einem Kran nach oben aus der Maschine heraus und ersetzt sie durch ein anderes.«

Kommissarin Bernard warf einen Blick auf die Hallenuhr. Zwei Minuten vor Acht.

»Wir müssen zur Dienstbesprechung. Gehen Sie ruhig Ihren Kaffee trinken. Wir sehen uns später.«

Sie schenkte dem Mann ein Lächeln, wandte sich ab und rief: »Jan! Günther! Besprechung!«

Christine Bernard. Tödliche Intelligenz

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